Falldarstellung

Bestimmungsmomente einer beziehungsanalytischen Auffassung von pädagogischer Wahrnehmung

Mitte November. – Eine letztlich nicht genauer faßbare Veränderung im Lernklima des Leistungskurses SKG, den ich seit Beginn des Schuljahres unterrichte, weckt in mir den Wunsch zur Falldarstellung. Ich habe das Bedürfnis, rückblickend einige Entwicklungslinien festzuhalten, Zusammenhänge zu klären und wichtige Szenen schriftlich zu fixieren.

Der Leistungskurs SKG zeigte in den ersten Wochen im neuen Schuljahr eine enorme Leistungsbereitschaft. Es gab wenige Fragen, zu denen sich nicht mehr als die Hälfte der 16 Schüler meldeten. Mitunter entstand eine etwas verkrampfte Situation, weil die Kollegiaten Dinge differenzierter klären wollten, als dies mir möglich war. Insgesamt erschien das Arbeitsklima im vollen Sinne des Wortes „ideal“, zugleich aber im emotionalen Bereich – je länger ich rückblickend daran denke, desto klarer wird dieser Eindruck – eher „kühl“ und „funktionalistisch“. Der Unterrichtsprozeß war in diesen Wochen von einer Art Lehrer-Vergottungs-Kultur getragen, in der ich alle narzißtischen Leistungs-Träume hätte verwirklicht sehen können, die man als Leistungskursleiter möglicherweise in sich hat.
Dennoch, bis heute spürbar, die Erfahrung eines Mangels: Ich stehe einer Gruppe leistungsbereiter Kollegiaten gegenüber, unter denen keiner eine persönliche Eigenart zu haben scheint; andererseits empfinde ich selbst eine etwas rätselhafte Scheu, mich durch nicht zum Unterrichtsstoff gehörende Bemerkungen emotional einzubringen. Individuelle Äußerungen scheinen mit diesem „idealen“ Arbeitsklima nicht vereinbar. Eine typische, sich mehrfach wiederholende Szene in dieser Phase bildet dazu jedoch einen fast kuriosen Kontrast: Der chronische Schnupfen und das wiederholte Niesen einer Schülerin stoßen bei allen Mitschülern auf eine unerhört starke emotionale Resonanz. Diese kleinen „Zwischenfälle“ – so mein Eindruck – werden als Anlaß zur Herstellung des sonst vermißten Gemeinsamkeitsgefühles regelrecht „ausgekostet“. Diese „freundlichen Störungen“ sind dann die einzigen Szenen, in denen ich – stärker als sonst – zu spüren beginne, daß mich etwas vom Kurs trennt. (In der funktionalistischen Harmonie des sonstigen Unterrichtsgesprächs fühle ich mich mit dem Kurs fast distanzlos vereint.) Ich habe Mühe, diese sanften Nies-Regressionen mit Schweigen oder mit einer witzigen Deutung zu übergehen – allerdings keine ernsten „Schwierigkeiten“, denn im nächsten Moment arbeitet der Kurs mit größter Intensität bereits wieder weiter.
Einige Wochen nach Schuljahresbeginn, wiederum nach einer „Superstunde“, kommt eine Schülerin zu mir und fragt mich mit dem ihr eigenen Charme, ob ich mit dem Kurs „zufrieden“ sei. Ich antworte zunächst ganz spontan und unreflektiert, daß ich natürlich „zufrieden“ sei. Ja mehr noch: ich sei „voll zufrieden“, „begeistert“ von der Mitarbeit der Kollegiaten. Noch während ich dies ausspreche, gewinne ich den Eindruck, daß hier noch etwas anderes mitschwingt, was jedoch vorerst noch nicht auszusprechen ist. In der folgenden Stunde will ich diese positive Rückmeldung, aus einem ebenso spontanen Impuls heraus, dem gesamten Kurs mitteilen; irgendwie schien es mir nicht richtig, „über den Kurs“ nach der Stunde mit einer Schülerin ein Privatgespräch zu führen. Wiederum bekomme ich, indem ich dies tue, das Gefühl von einer eigentümlichen Doppelbödigkeit der Situation. Diese Unsicherheit spürend, setze ich zu meinem uneingeschränkten Lob hinzu: „Jeder Kurs ist nur so gut wie der Kurs. Wir Lehrer haben keine magischen Mittel.“ In den folgenden Stunden scheint sich von den Schülern ein Bann zu lösen; das Lob nimmt dem Kurs – so deute ich es – einen Teil der bisher existierenden unbewußten Ängste. – Doch ich selbst gebiete mir nach dieser Szene eher noch mehr „Abstinenz“.
Tatsächlich entpuppt sich in der Folgezeit die Stunde als eine Art Wendepunkt. Die so gelobten (geschützten?) Schüler werden von Stunde zu Stunde lebendiger, ohne daß die Leistungsbereitschaft vorerst erkennbar abgenommen hätte. Ich selbst beginne ebenfalls, in schwierigen Situationen meine Probleme, Schwächen oder Unsicherheiten freier einzugestehen als bisher (an die selbst auferlegte Abstinenz-Regel halte ich mich also in vielen Fällen nicht). Zum ersten Mal kommt es nun auch zu Streitgesprächen unter den Kollegiaten, mitunter auch zur Kritik an mir, zunächst jedoch ganz auf stoffliche Probleme beschränkt. Wenig später beginnen sich zwischen intensiven Arbeitsphasen noch andere Tendenzen auszubreiten. Ein Schüler schlägt vor, das Gespräch im Kurs freier zu gestalten. Ein Kollegiat referiert daraufhin die TZI-Regeln von R. Cohn. Das Referat stößt jedoch nur – zumindest äußerlich gesehen – auf Spott und Ablehnung. Durch Planungsgespräche und einen „Studientag“ wird der Bann des Stoffzwanges zudem in dieser Phase etwas gemildert. Regressive Tendenzen sind nun mitunter schwer zu balancieren. Dann scheint es wieder so, als verselbständige sich die Auseinandersetzung um Nebensächlichkeiten. Mit der Aufgabe, das synthetische „Gruppen-Ich“ zu retten, fühle ich mich in solchen Situationen oft etwas überfordert.
In den folgenden Stunden wiederholt sich dann eine Szene, deren emotionaler Gewinn für alle Beteiligten zusehends größer wird: Der sensibelste und empfindsamste Kollegiat im Kurs gerät in eine Art Streitgespräch-Clinch mit mir, der von allen übrigen Schülern identifikatorisch mitgetragen wird. Als sich die Szene wiederholt, ich zudem inhaltliche Fragestellungen offenbar falsch, ungenau oder gar nicht mehr verstehe, entsteht Belustigung im Kurs. Bei anderen Gelegenheiten reagierten die Schüler – wie es mir scheint – zum Teil unangemessen aggressiv, zum Teil auch resignativ-vorwurfsvoll. Ich selbst beginne zu merken, daß mir die Szenen, insbesondere die zum Teil sehr heftige Inszenierung von Streitszenen, „unter die Haut“ gehen. In wachsendem Maß fällt es mir schwerer, mich ruhig und klar abzugrenzen. Ich spüre in mir eine zunehmende Lust, einzelne Schwächen von Schülern aggressiv nachzuäffen. Was die Schüler betrifft und ihr Grimassieren, so bekomme ich zudem deutliche Wahrnehmungsprobleme: richtete sich das leise Kichern, das Grimassieren, das in jenen Streitgesprächen mitunter entsteht, gegen mich oder gegen den Mitschüler? – Unverkennbar aber ist auch eine gegenteilige Tendenz: Nach regressiven Einbrüchen erscheint mir die Arbeitsatmosphäre im Kurs jeweils insgesamt echter, flexibler, konstruktiver als früher; eine Art natürlicher Nähe scheint möglich, die vorher unter dem Zwang allzu mächtiger Leistungsnormen sich nicht entfalten konnte.

10. Dezember. – Nach der ersten Leistungskursklausur wird die gemischte Arbeitsatmosphäre, wie sie sich nach dem „Wendepunkt“ einstellte, vollends deutlich. Zusätzliche Bedingungen, die den Wandel der Einstellungen beförderten, waren: Unterrichtsausfall, Überforderung, Desillusionierung betr. die gesamte Kollegstufe, usw.
In dieser Zeit, die mich selbst seit Jahren bis zum äußersten fordert, bilden sich in mir zwei relativ abgegrenzte Phantasiekomplexe aus, die sich nun mit dem realen Verhalten der Schüler „zu verzahnen“ beginnen. (1) Die eine Phantasie ist m.E. harmloserer Art. Sie wurde sicher zudem angeregt durch die Besprechung der „politischen Theorie“ Rousseaus. Im Kernbereich der Phantasie steht ein Interessenkonflikt. Ich führe den Mißmut der Schüler, das Desinteresse, mangelnde Vorbereitung usw. bei diesem Thema auf politische Motive zurück. Was mich selbst betrifft, so entsteht die Vorstellung, der Kurs lehne mich als „linken Lehrer“ ab, weil ich Rousseau nicht simplifizierend zum „Vater der DDR“ mache und ihn entsprechend behandle. Ich bestehe darauf, die Vorstellungswelt Rousseaus zunächst einmal zu verstehen, bevor sie kritisiert wird. Der Kurs zeigt bei der Besprechung von Rousseaus „Gesellschaftsvertrag“ nur wenig Bereitschaft zur Auseinandersetzung. „Kritik“ wird eigentlich nur deutlich an Rückzugsgesten, am abfälligen Tonfall usw. Daß mich der Kurs als „linken Lehrer“ abstempelt und ablehnt, läßt sich jedoch nie explizit beobachten. (2) Eine zweite Phantasie geht weiter: Ich bin „auf der Flucht“. Ich fühle mich inzwischen unfähig und auch in wachsendem Maße weniger motiviert, den Kurs weiter zu führen. Ich habe den Einfall, den Kurs an einen Kollegen abzugeben. Eine tiefe Kränkung entsteht. Als ich den Kurs in der letzten Stunde vor Weihnachten – die Schüler zeigen keinerlei Reaktion, auch nur einen Teil der Stunde zu feiern – Gelegenheit zur Kritik am Unterricht gebe, kommen eher lächerliche Vorschläge: „Mehr Anekdoten erzählen“, das Diktieren von „klaren Fakten“, genaue Vorgabe dessen „was auswendig zu lernen sei“ usw. Alle diese Äußerungen stehen jedoch – das ist mir auch klar – in keinem Verhältnis zu meiner tatsächlich eintretenden depressiven Verstimmung. – Was meine dominierende Gefühlslage betrifft, so gerate ich mehr und mehr in die Position eines sich „rächenden Objekts“. Ich spüre die Neigung, die Kritik der Schüler ernst zu nehmen und ihnen eine in Bezug auf Faktenwissen „gesalzene“ Klausur zu geben. Der Leistungskurs entwickelte sich aus meiner Sicht zur „Problemklasse“. Er fordert pädagogische Reflexion in wachsendem Maß heraus.
Die wichtigste pädagogische Phantasie und der wichtigste Einfall zu einer pädagogischen Intervention in dieser Phase ist, Schüler- und Lehrer-Position im Konflikt durch Perspektiventausch auszuwechseln. Bei diesem Gedanken erlebte ich an mir selbst, wie schwer es mir noch fällt, die „Geschichte“ dieses Konfliktes aus der Sicht der Schüler zu erzählen: „Wir sind enttäuscht (?), wir haben den Leistungsstreß satt (?), und doch brauchen wir die Punkte (?)“. – Nichts greift. Andererseits hätte es mich sehr gereizt, diese Schüler zu bitten, die Geschichte des Konfliktes einmal aus meiner Sicht zu erzählen. – Die entscheidende Einsicht aber ist und bleibt: Ich kann die „Geschichte“ des Leistungskurses SKG noch gar nicht erzählen!! Die Subjekt- und die Objektseite sind noch weitgehend verfilzt. Ich müßte offenbar erst meine eigene Geschichte noch genauer erzählen können, bevor ich die der Schüler erzählen könnte! Die Ablösung der Phantasie von der Realität hat noch nicht stattgefunden!

22. Dezember. – In den ersten Ferientagen dämmerte dann langsam eine weitere Einsicht: Ich erschrecke zunächst selbst vor der Tatsache, daß meine eigene Motivation, im Kurs eine konstruktive Arbeitsatmosphäre durchzuhalten oder wieder aufzubauen, so rasch schwinden konnte und so schnell zerstört wurde. In entspannter Situation fällt mir eine wichtige Szene ein, wie es zur Übernahme dieses Kurses gekommen ist: Der Schulleiter zeigte mir zwischen zwei Kopiervorgängen im Sekretariat die Liste mit der Klassen- und Kursverteilung. Ich sehe meine Zeile: d 1, 9 a, … SKG. Mein erstes Gefühl war „Gleichgültigkeit“ gegenüber SKG, eine gewisse Freude über die anderen Klassen. Diese Gleichgültigkeit bezieht sich auf den hier zu vermittelnden Stoff. Ich hätte den Leistungskurs ohne Bedauern sofort wieder abgeben können. Was also wollte ich mit meinem Lob in der Anfangsphase des Unterrichts? Doch offenbar nur das Gegenteil. Es wird verständlich als Wunsch: Das Lob sollte – durch die idealisierende Übertragung der Kollegiaten in der Anfangsphase zusätzlich gestützt – magisch den Zustand einer idealen Lernsituation auf Dauer herstellen. Ich wollte durch dieses Lob jenen Zustand fixieren, den ich selbst offenbar in mir vermißte. Meine und der Schüler Wünsche waren in diesem Lob noch gar nicht unterschieden. Das Lob hinderte mich, jene Geschichte zu erzählen, die das Geschehen eigentlich beherrschte. – Zumindest führt mich nun aber das Stichwort „Gleichgültigkeit“ aus der Sackgasse einer „prinzipiengeleiteten Erfahrungskonstitution“ langsam heraus.

4. Januar. – Am Ende der Ferien, in denen mich der Kurs immer wieder beschäftigte, kommen neue Einfälle hoch. Sie zeigen, daß nicht alles, was sich entwickelte, „Destruktion“ war: Positiv erlebe ich nun, daß ich mit den Schülern einen „Konflikt“ habe. Die auf Idealisierung basierende Kollusion ist zerbrochen. Nun gibt es Spannungen, verbale Abgrenzung ist möglich. Und immerhin: die Abgrenzung der Gruppe gegen mich hat sogar einen thematischen Schwerpunkt. Die Schüler wollen „Fakten“ wissen, ich möchte hingegen “Problembewußtsein“ vermitteln. Das ist doch ein Fortschritt! Zum illusionären Gleichheitserlebnis kommt nun ein erstes bewußtes Ungleichheitserlebnis.

12. Januar. – Beginn des Unterrichts. – Obwohl ich vorerst vor allem „meine Geschichte“ vor Augen habe (und dies auch nur in Ansätzen), hat sich doch auch meine Chance für sprachliches Handeln im Unterricht etwas verbessert. Ich bin zum ersten Mal mit meiner eigenen Gleichgültigkeit konfrontiert und stelle fest, daß ich nicht nur gleichgültig bin. Neue pädagogische Phantasien suchen nach einer Formulierung: „Wenn ich Euch als Lehrer nicht perfekt genug bin, so sollten wir darüber sprechen, ggf. solltet Ihr bei der Schulleitung einen neuen Lehrer suchen – ich für mein Teil möchte aber ganz klar sagen, daß für mich die Arbeit im Kurs keine Routinesache ist, sondern daß ich gerne mit Euch weiter zusammenarbeite“. – Doch dies alles sind vorerst Phantasien, morgen beginnt erst der Unterricht.

13. Januar. -Ich habe nun verstärkt das Bedürfnis, meine Wahrnehmung der Schüler im Kurs zu überprüfen: Wie habe ich den Kurs bisher erfahren? Hier drängen sich als innere Bilder vom Kurs ganz dominierend die beiden attraktivsten Mädchen (Susanne und Bärbel) auf, die ich schon seit der 8. Klasse kenne. Mir fällt dazu ein, daß ich einmal übertrieben verärgert reagierte, als beide fehlten. Der leicht zugängliche Anteil in dieser inneren Szene ist also meine positive Beziehung zu diesen beiden Schülerinnen! Dann ist die andere Seite – die negative Übertragung – also vorerst eher im Schatten der Wahrnehmung, also abgewehrt. Tatsächlich ärgern mich seit der Rousseau-Besprechung in wachsendem Ausmaß zwei männliche Kollegiaten. In den ersten Stunden war es noch Karl, dessen etwas angestrengter, kritischer Habitus mich mitunter sehr irritierte; doch da war die Gefahr einer negativen Übertragung für mich rasch zu erkennen. Neben einer zu positiven besetzten „Zweierbeziehung“ war also stets ein „Dritter“ etwas undeutlich mitanwesend. Von hier aus war die Assoziation nicht mehr ganz so schwer zu enträtseln, woher denn meine Phantasie kam, der Kurs sei mir letztlich „gleichgültig“. Heute bei der Heimfahrt (in der U-Bahn) nach einer Doppelstunde halte ich, das Bild des Kurses vor Augen, eine engagierte Rede. Ich spüre dabei sonderbarerweise auch so etwas wie Trauer. Sie erscheint mir wie eine Last, die der Beziehung zum Kurs wieder ein neues Gewicht geben könnte. …

Ich möchte hier abbrechen, denn soziale Wahrnehmung als Moment einer pädagogischen Praxeologie ist natürlich nie abgeschlossen. Solche Wahrnehmung entfaltet ihre Gehalte innerhalb eines szenischen Arrangements, wobei nicht zu übersehen ist, daß die an der Szene Beteiligten zum Teil auch entsprechend ihrer Sinnexplikation von Wirklichkeithandeln und somit Wirklichkeit herstellen, die sie dann wiederum wahrnehmen usw. –

Interpretation

Die Falldarstellung weckt begründete Zweifel an der Vorstellung von der Einheit von Wahrnehmungsakten. Das Gesamt von Wahrnehmung, Eindrucksbildung, Wahrnehmungsurteil und Sinnexplikation ist keineswegs ein geschlossenes Ganzes; es gibt bestenfalls dominierende Wahrnehmungseinstellungen, durch die bestimmte Aspekte der Wirklichkeit in den Mittelpunkt rücken, andere Figurationen – die gleichwohl registriert werden – an den Rand geraten. Die hier in Erscheinung tretende dominierende Wahrnehmungseinstellung der ersten Phase ist durch eine zunächst rigide Ausrichtung an einem stark idealisierten Unterrichtsgeschehen geprägt. Man könnte sich vorstellen, dass eine unbekümmerte Unterrichtsführung die ambivalenten Anteile rascher ans Licht gefördert hätte. Die idealisierende Übertragung bewirkt eine strikte Strukturierung des Unterrichts, diese wiederum erlaubt offenbar nur die Wahrnehmung einer perfekten Leistungsmaske.

Folgt man dem Entwicklungskontinuum im obigen Beispiel; so ergibt sich ein fragmentiertes, aber insgesamt spannungsvoll durchgehaltenes Gesamt von vor- und zurückweisenden, von progressiven und regressiven Erlebnisformen, in welche die pädagogischen Wahrnehmungsaktivitäten einbezogen sind. Die Doppelbödigkeit einer auf idealisierenden Tendenzen aufbauenden Wahrnehmungsaktivität in der Anfangsphase ist rückblickend leicht zu erkennen. Von der ersten Stunde an war ein verdinglichtes, am Leistungsfetisch orientiertes Gesprächsverhalten für mich spürbar. Alle Ängste wurden zunächst abgewehrt durch die Lust am Funktionieren. Die Erfahrung des Zerbrechens dieser Illusion – das Einsetzen einer Ent-Täuschung – setzt dann genau in dem Augenblick ein, in dem eine sympathische Schülerin mich dazu drängte, mein „Bild“ vom Kurs den Schülern mitzuteilen. In der Phase wachsenden Leistungsdrucks wurde so durch das Verlangen der Schüler nach Zuwendung (Kohut 1976, S. 26) zugleich auch eine Entwicklung zur verstärkten pädagogischen Reflexion ausgelöst. Die vorher kaum in Ansätzen vorhandene triadische Wahrnehmungsmatrix begann sich nun zu entfalten; ich spürte eine zunehmende Übertragungsbereitschaft und versuchte nun meine „Gegenübertragung“ zu analysieren. Wie angstbesetzt dieser Übergang erlebt wurde, wird erst rückblickend deutlich. Durch die Versprachlichung wird die Spaltung als Projektion erkennbar, die „Erfahrung“ bleibt zunächst „doppelbödig“. Dass ich mich in meiner Sicht der Dinge nicht nur mit der Schülerin, sondern mit dem ganzen Kurs „einigen“ wollte, scheint jedoch auch die Schüler tatsächlich befreit zu haben. Nicht ganz so positiv entwickelte sich die Angelegenheit dabei auf meiner Seite. Die Schüler konnten ihre nicht-schülerhaften Bedürfnisse, und Interessen zeigen. Der Zerfall einer auf Idealisierung aufbauenden Wahrnehmungsaktivität erhöhte also vorerst nur meine Unsicherheit und weckte bisher in Verdrängung gehaltene negative Gefühle und destruktive Tendenzen, die genaugenommen natürlich längst vor Beginn des Kurses angelegt waren. So entstand eine neue Illusion mit umgekehrtem Vorzeichen: die Vorstellung von einer wachsenden Feindseligkeit der Lerngruppe begann rasch zu wuchern. Aus ihr heraus bildeten sich dann jene Phantasien, die mich fast zum Agieren, zur Flucht, verleitet hätten. Der „Un-Sinn“ des Lernprozesses, in den sich eine scheinbar belanglose „Gleichgültigkeit“ von der ersten Minute an eingeschlichen hatte, enthüllte sich letztlich als Fehlen einer Sinnspannung. Wenn die Vergangenheit nicht im Lichte einer möglichen sinnerfüllten Zukunft gerettet werden kann, waltet sie nur „als verschüttende und belastende Realität“ (Grassi 1979, S. 27). Pädagogische Wahrnehmung ist offenbar abhängig von der Fähigkeit, Ambivalenzen und Spannungen über größere Zeiträume hinweg zu ertragen. Sie entfaltet sich in einer triadischen Matrix als Synthese zeitlich oft weit auseinanderliegender Erlebnismomente. Die synthetische Ich-Funktion ist auf „Zeit“ verwiesen. Erst mit der Ahnung von einer lebensgeschichtlichen Wurzel dieser destruktiven Impulse konnten sich die negativen Illusionen über den Vorgang einer „inneren Realitätsprüfung“ auflösen. Durch das Zulassen bisher in Verdrängung gehaltener Aggressionen entstand ein Erlebnis wachsender Diskrepanz zwischen diesen aggressiv besetzten Phantasien und dem tatsächlichen Verhalten der Schüler. Eine „Reinigung des Blicks“ von sowohl positiven als auch negativen magischen Erwartungen war möglich.

Alle diese Spaltungserlebnisse, Blindstellen, Wahrnehmungsverzerrungen lassen sich als Deformation oder Zerfallstendenz des „dritten Bereiches“ beschreiben. Unter dem Einfluss kollusiver, unbewusster Tendenzen werden dominierende Wahrnehmungseinstellungen dann zu „Gewißheiten“. Auf sie glauben wir uns in unserem Handeln verlassen zu können. Erst durch den Schritt von der Illusion zur Ent-Täuschung befreit sich der „dritte Bereich“ aller pädagogischen und didaktischen Phantasien zum verfügbaren Zwischen- und Spielraum, der auch bisher abgedrängten Einfällen und Bildern wieder zum Ausdruck verhilft. Wir fassen das Wesen der Wahrnehmungsillusion und das Festhalten an ihr somit als eine Art vorsprachlicher Fixierung auf innere Vorstellungen, in denen die kreativen Möglichkeiten eines „dritten Bereichs“ noch nicht entfaltet sind. Pädagogische Wahrnehmung im Sinne von „interpersonaler Wahrnehmung (Jahnke 1975/1982) ist also stets Wahrnehmungsaktivität in einer situationsbezogenen, triadischen Matrix, die nur dialektisch zu erschließen ist; zudem bleibt sie mit sprachlichem Handeln aufs engste verknüpft. Sie setzt voraus, dass wir den Unterschied zwischen sog. „Dingwahrnehmung“ (auch Personwahrnehmung kann als Dingwahrnehmung konzeptualisiert werden; vgl. Heider 1958) und „Personwahrnehmung“ voll realisieren können. In den „philosophischen Untersuchungen“ bringt Wittgenstein hierzu ein schönes Beispiel: „Sieht Einer ein Lächeln, das er nicht als Lächeln erkennt, nicht so versteht, anders, als der es versteht?“ (Wittgenstein 1967, S. 232). Und Wittgenstein beantwortet diese Frage mit dem Hinweis: „Er macht es z.B. anders nach.“ Hier wird Wahrnehmung interpretiert als ein Handeln, dem Bedeutung zukommt, weil es in einer bestimmten Situation Bedeutung gewinnt. Das „Lächeln“, das „Schweigen“, der „interessierte“ oder „leere Blick“ von Schülern erschließt sich nicht durch Attribution. Eher schon ist diese ein Ausdruck für Wahrnehmungsstörung. Aber auch als Störung von Wahrnehmung ist Attribution nicht individuelles Unvermögen: Was misslingt ist die Perspektiveübernahme; was sich nicht entfalten kann, ist das „dezentrierte Weltbild“, also ein von reflexiven Sprechakten getragenes Sehen.

Literaturangaben:

Grassi, E. (1979): Macht des Bildes. Ohnmacht der rationalen Sprache. München.

Heider, F. (1958): The Psychology of Interpersonal Relations. New York.

Jahnke, J. (1975): Interpersonale Wahrnehmung. Stuttgart.

Jahnke, J. (1982): Sozialpsychologie in der Schule. Stuttgart.

Kohut, H. (1976): Narzißmus. Frankfurt/M.

Wittgenstein, L. (1976): Philosophische Untersuchungen. Frankfurt/M.

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