Falldarstellung
Wenn wir von „Störung“ sprechen, so meinen wir immer eine Beziehungsstörung. An ihr sind zwei Personen beteiligt. Bei den Problemen der didaktischen Strukturierung geht es immer auch um die „dritte Sache“. Für Fehlentwicklungen in diesem Bereich möchte ich den Begriff „thematische Verzerrung“ (Flader 1977) verwenden.
Shakespeare versinnlichte in seinem großartigen Drama „Der Kaufmann von Venedig“, lange bevor Kant seine berühmte „forensische Metapher“ entworfen hat, jenes Kräftespiel einer neuen Vernunft, mit dem eine mechanische Fixierung an gesetzmäßigen Orientierungen überwunden werden könnte. Die Frauengestalt der Portia, man mag in ihr eine Personifizierung einer sublimierten erotischen Kraft sehen, die jene selbstmörderische Gefühlsspaltung der zerstrittenen Parteien aufzuheben imstande ist, tritt im Drama zugleich als Sachverständige und Richterin auf. Sie löst durch die synthetische Kraft ihrer Urteilsfähigkeit den scheinbar unheilbaren Beziehungskonflikt zwischen der Gesellschaft und dem Außenseiter, der deshalb unheilbar wird, weil keine der beiden Parteien den nach außen projizierten Hass zurücknehmen will und kann. Wir müssen Portia als eine der gelungensten Symbolisierungen unserer sublimierten autonomen Ich-Kräfte verstehen, die in der Literatur zur Darstellung gekommen ist. Die verheerende Spaltung zwischen den kämpfenden Parteien, Antonius und Shylock, überwindet Portia, indem sie das gehässige Spiel des Juden und seines Gegenspielers zunächst mitmacht. Sie urteilt nicht sofort ab, sondern agiert im Konflikt zunächst mit, treibt so die Spannung sogar erst zum Höhepunkt. Obwohl eine Interessenvertreterin eigener Art, versucht sie die beiden Seiten in ihrer bornierten Logik jeweils für sich zu verstehen und in gewissem Umfang auch zu respektieren. Shylocks Forderungen seien berechtigt, Antonius’ Lage sei zu respektieren. Bevor Portia urteilt, müssen die Interessen beider Seiten akzeptiert werden. Man könnte sagen, Shakespeare führt vor, dass Ambivalenzspannungen auch eine kreative Lösung finden können. Er zeigt aber auch, dass Vernunft nur darin bestehen kann, sich von keiner der beiden in sich gespaltenen Parteien verwenden zu lassen; schon deshalb nicht, weil jede Partei in der anderen Seite nur das sieht, was sie an sich selbst eigentlich nicht sehen will. Portia symbolisiert die Haltung der Abstinenz, des „Sich-nicht-verwenden-lassens-und-den-anderen-nicht-verwenden“. Sie lässt sich auf die Situation ein und bleibt dennoch gleichschwebend. Ihr Richterspruch zeigt mit keinem Wort die Spur einer Gegenabhängigkeit oder Angstabwehr, mit der den verfeindeten Parteien ihr „Spiel“ ausgetrieben werden soll. Die neue Einsicht entwickelt sich spontan und schöpferisch, zugleich verbindlich aus der Situation heraus. Ebenso wird die zwanghafte Orientierung am Gesetzeswissen überwunden. Portia ist zweifellos das Symbol für menschliches Urteilen auf dem Niveau einer autonomen Moral!
Der Leistungskurs Deutsch, mit dem ich das Drama Shakespeares am Abend vorher besucht hatte, saß nun im Vormittagsunterricht im Kreis um einen Tisch. Wir lasen nach einem kurzen Rückblick auf den Theaterbesuch wichtige Textstellen noch einmal mit verteilten Rollen. Schon zu Beginn der Stunde jedoch war aus zahlreichen Gesten und Reaktionen für mich eine gruppenspezifische Abwehr deutlich geworden, von der dieser Kurs auch sonst heimgesucht wurde. Ich spürte eine rätselhafte scheinbar durch nichts begründete Kampf-Flucht-Stimmung auch als Übertragung auf mich. Die Frage nach „richtig“ oder „falsch“ würde, so vermutete ich, noch bevor das Gespräch begann, eine sehr dominierende Rolle spielen. Tatsächlich entstand schon nach wenigen Minuten aus unerfindlichen Gründen auch kein offener Dialog, sondern sofort Streit über die Deutung der Shylock-Figur und ihr Verhalten in Szene II, 5. Peter meinte, Shylocks Beziehung zu Jessica sei hier doch „sehr menschlich“ gezeichnet. Ich spürte eine deutliche Provokation in seiner These und bat deshalb um „Textbelege“, die diese Deutung bestätigen könnten. Auf der Suche nach solchen Textstellen wuchs nun die Kampfstimmung im ganzen Kurs sehr rasch an und ergriff, wie ich an den Unterrichtsbeiträgen gut erkennen konnte, mehr oder weniger alle Schüler. Ich sprach deshalb die Atmosphäre des Kurses direkt an. Sie schien sofort verflogen zu sein. Der Kurs verleugnete jegliche Konfliktspannung.
Nach einer kurzen Pause lasen wir die abschließende Gerichtsszene. Meine Leitfrage dazu: die Rolle und die Bedeutung der Portia zu klären. Meine unausgesprochene Erwartung dabei war, sie stelle eine Art dritter Instanz dar, die den, auch von allen Schülern als unheilvoll erlebten, sadomasochistischen Clinch der Gesellschaft aufheben könnte. Die Kollegiaten trugen nun Textstellen zusammen. Rasch wurde deutlich, daß sie nicht an eine solche dritte Instanz glaubten, also auch nicht an die Chance, die im Drama dargestellt war, einen Konflikt und seine Spannungen kreativ zu bewältigen. Verschiedene Deutungen standen scheinbar unvermittelt nebeneinander:
• Portia spreche nur von „Gnade“, aber das nehme doch niemand ernst. „Das greift nicht!“
• Portia habe doch eigentlich nur eigene Interessen mit ihrem Urteil durchgesetzt: ihr Geld wieder zu bekommen!
• Portia verhalte sich im ganzen Prozeß letztlich manipulativ und taktisch, ja intrigant; sie stehe natürlich auf seiten des Antonius usw.
Interpretation
Der Leistungskurs wetteiferte – und blieb dabei seinem Namen treu – im Zusammentragen solcher Richtig-oder-falsch-Deutungen. Es gab keine dritte Instanz im sadomasochistischen Spiel der dargestellten Szene. Die Spaltung war unheilbar, ebenso die Projektion des Hasses. Auf diese Stufe der Wahrnehmung und Interpretation des Textes blieb die Deutung fixiert. Shakespeare schrieb im Schema solcher Schülerhermeneutik letztlich eine Art absurdes Theaterstück von der ewig gleichbleibenden, nicht zu überwindenden Gehässigkeit des Gesellschaftsmenschen. Die Botschaft des Stückes wurde von der realen Kampf-Flucht-Mentalität der Arbeitsgruppe missdeutet, weil sie den Horizont eben dieser unbewussten Grundannahmekultur transzendieren würde. Der Kurs hatte nichts Neues wahrgenommen, sondern nur das gesehen, was er im Hier und Jetzt einer eigenen Übertragungsphantasie selbst war! Er projizierte seinen eigenen, tatsächlichen Beziehungskonflikt mit allen pathologischen Verzerrungen in das Stück hinein. Der Kurs lebte nach dem Beziehungsmodus „Ich oder Du“, und er deutete auch nach diesem Modus das Stück. „Jede verdrängte Empfindung vermindert die Wahrnehmung nicht nur der eigenen Befindlichkeit, sondern gleichzeitig – untrennbar damit verbunden- die exakte Wahrnehmung des Partners bzw. der Beziehung, in der man sich im Augenblick zueinander befindet“ (Bauriedl, 1984, S. 73). Mit jeder Form von Kontaktaufnahme haben wir die Chance, das Neue nur dem Alten gleichzusetzen, eine Bestätigung des immer Gleichen zu finden. Die tatsächliche Identität des Objektes zeigt sich erst, wenn wir die schöpferische Kraft entwickeln, dieses Objekt wirklich zu suchen und als etwas anderes zu erfahren, also das, was es immer schon war. Eine solche Differenzierung der Wahrnehmung erwerben wir jedoch nur über die Fähigkeit zur schöpferischen Ich-Regression.
In dem oben protokollierten szenischen Zusammenhang konnte deutlich werden, dass eine Lerngruppe, die selbst in den Klischees einer „Kampf-Flucht-Mentalität“ (Bion 1974) befangen ist, den Sinn des Dramas von Shakespeare nicht produktiv nachvollziehen kann. Die von unbewussten Klischees dominierend geprägte Gruppenmentalität verhindert also einen sinnproduzierenden Leseakt, der über das Niveau einer von diesen Klischees begrenzten Wahrnehmung hinausginge. Wir wissen aus der Literatur zur psychoanalytischen Gruppendynamik, dass sich das Übertragungsphänomen auch auf Themen und Stoffe ausdehnen kann (Furrer 1974). Alle Lehrer kennen dieses Phänomen, dass bestimmte Themen ganz spezifische Gefühlsreaktionen hervorrufen. Es kommt zur Empathie und Identifikation mit Personen einer Erzählung usw. Unterrichtsabläufe mobilisieren Erinnerungen an frühere Konflikte. Die „Störung“ nistet sich in die Entfaltung der didaktischen Struktur ein und tritt hier als „thematische Verzerrung“ in Erscheinung. Dabei ist in der Praxis meist nur sehr schwer festzustellen, ob die „Störung“ durch das „Thema“ induziert wurde, oder ob die thematische Verzerrung durch eine basale Beziehungsstörung zum Lehrer entstand.
Literaturangaben:
Bauriedl, Th. (1984): Beziehungsanalyse. Frankfurt/M.
Bion, W.R. (1974): Erfahrungen in Gruppen und andere Schriften. Stuttgart.
Flader, D. (1977): Soziale Rolle und psychosoziale Konflikte. Der Rollenträger als Determinante der Unterrichtskommunikation. In: Goeppert, H.C. (Hg.): Sprachverhalten im Unterricht. München.
Furrer, W.L. (1974): Gegenübertragungsprobleme des Balint-Gruppenleiters. In: Luban-Plozza, B.: Praxis der Balint-Gruppen. München.
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