Falldarstellung

In einer Schulklasse bildet sich zu Beginn des Schuljahres relativ rasch eine von „Übertragungen“ getönte „multistrukturierte Interaktion“ (Muck 1980, S. 159 ff.) aus, und es kommt zu einer schwer zu durchschauenden „Vermischung von Übertragungsbeziehungen mit den tabuierten und emotional geladenen institutionellen Realitäten“ (Drees 1984, S. 79). In der Haltung der Abstinenz bewähren sich dabei seitens des Lehrers eine selektiv-fokussierende und eine final-gestaltende Orientierung im Lernprozess. Zudem werden wichtige Teilaspekte zum Konzept der „Übertragungsidentifizierung“ (Trescher 1993) und zur „Gegenübertragungsreaktion“ (Hirblinger 1989) im Unterricht noch präziser fassbar als dies bisher möglich erschien. Ich schildere den Zusammenhang – wie in früheren Falldarstellungen (…) – aus dem Horizont von Tagebuchnotizen, die ich immer dann anzufertigen beginne, wenn sich Schwierigkeiten ankündigen.

Letzten Ferientag: Die Schulleitung teilt mir mit, daß ich zusätzlich zu meinen beiden Deutschklassen, die ich schon im vergangenen Jahr unterrichtete, noch eine dritte Deutschklasse übernehmen soll: die Klasse 7 f, 33 Schüler. -Ich bekomme Bedenken, ob ich das Niveau in den beiden anderen Deutschklassen durch die zusätzlich entstehende Belastung halten kann.

6.9.: Der Schulleiter gibt vor Lehrern bekannt, erneut „gezielte Unterrichtsbesuche“ vorzunehmen. Ich muß an einen Unterrichtsbesuch in der Klasse 7f denken. Gemischte Gefühle begleiten diese Phantasie.

7.9.: Erster Schultag: Die Klasse 7f hat infolge vorgängiger Bauarbeiten an der Schule noch keinen Klassenraum und muß stundenweise in verschiedenen Räumen unterrichtet werden. Die erste Stunde im Fach Deutsch sollte im Raum 123 stattfinden, dieser ist irrtümlicherweise bereits besetzt. Ich gehe mit der Klasse auf die Suche nach einem anderen Raum. Durchaus belustigt, aber etwas konfus, finden wir schließlich ein Klassenzimmer. Es lohnt sich nicht mehr, einen Sitzplan anzufertigen. Ich kenne die Schüler mit ihren Namen noch nicht, kann also auch keinen mit Namen ansprechen.

8.-10.9.: Drei weitere Unterrichtsstunden beginnen damit, daß die Schüler, jeweils aus einem anderen Raum kommend, ihre Sitzordnung im Klassenzimmer in langen, anstrengenden Gesprächen zu klären versuchen. Obwohl die Kinder anschließend erschöpft und unkonzentriert wirken, gelingt es mir, einige wichtige positive „Ziele“ des Deutschunterrichts gemeinsam zu erarbeiten.
Die Schüler erwarten vom Deutschunterricht: (1) „Diskussionen“ in der Klasse; (2) Besprechung „ernster Gedichte“ (im Gegensatz zu Nonsens-Lyrik); (3) „Theaterspielen“; (4) „nicht nur sachliche Aufsatzthemen“. – In bezug auf letzteren Punkt wird deutlich, daß mehrere Schüler spontan eine negative Übertragung auf mich entwickeln. Ein Schüler stellt sofort provozierend die Frage: „Werden Sie auch solche idiotischen Themen stellen wie der Lehrer im letzten Jahr.“ – Auch ich spüre bereits, daß ich, um das Gespräch mit den Schülern einigermaßen in Gang zu halten, immer wieder „sehr streng“ werden muß.

15.9.: Als ich den Raum betrete, streiten sich erneut ca. 10 Schüler erbittert und wütend um „ihre Plätze“.
Es fehlen wiederum drei Bänke, so daß fünf Schüler stehen müßten. Die Streitenden sind z. T. völlig außer sich. Die vier Stunden Unterricht vorher verliefen für mich sehr spannend und äußerst konzentriert. Mit diesen Klassen war ich jedoch schon seit einem Jahr vertraut. Ich bemerke nun, daß ich große Schwierigkeiten bekomme, mich erneut auf „Sitzordnungsprobleme“ in der Klasse 7f einzustellen, von der mir bis heute nach wie vor nur wenige Schüler mit Name bekannt sind. Da ich den Streit der Schüler übertönen muß, brülle ich nun lauter, als es mir lieb ist. Die sich streitenden Schüler hören jedoch nicht auf, sich zu zanken. Ich spreche nun einzelne Schüler an, so gut dies geht, direktiv und sehr energisch. Auch jetzt nimmt der Streit noch kein Ende. Nun „platzt mir der Kragen“. Ich gehe auf eine der streitenden Gruppen zu und unterbreche wütend ihr Gerede. Die angesprochenen Schüler reagieren erschrocken. Erstmals breitet sich völlige Ruhe im Klassenzimmer aus.
Als es endlich ruhig wird, entschuldige ich mich zunächst bei der Klasse für diesen „Ton“ und rekonstruiere zusammen mit den Schülern noch einmal, wie die Mißstimmung entstanden ist. Doch das interessiert wiederum niemanden. Mit versteinerter Miene sitzen alle da und warten ab. Einige Schulbänke müssen nun noch zusätzlich ins Klassenzimmer getragen werden. Erneut entsteht Unruhe, wieder Diskussionen, wer auf welchem Platz sitzen soll, usw.
Das Thema der Stunde: „Vorbereitung einer Diskussion“. Ich knüpfe an die „Ergebnisse“ der letzten Unterrichtsstunde an. Die versteinerten Gesichter im Klassenzimmer bleiben. Ich rufe nun einen Schüler auf. Er „weiß nichts mehr“. Ich gewinne den Eindruck, daß das mehr oder weniger demonstrativ zur Schau getragenes „Vergessen“ eine positive Resonanz und einen erkennbaren Solidarisierungseffekt in der Klasse auslöst. Die Spannung steigt.
Ich rufe einen anderen Schüler auf. Dieser setzt zwar sofort zur Antwort an, spricht dann jedoch nach meinem Empfinden merkwürdig „affektiert“. Es entsteht für mich der Eindruck, als „inszeniere er etwas“. Durch den merkwürdig affektierten Tonfall und das sich ausbreitende Gelächter der Mitschüler irritiert, glaube ich, ihn nun doch konfrontieren zu müssen: Ob er Antworten im Deutschunterricht im letzten Jahr immer so merkwürdig formuliert habe? „ Unterricht ist doch kein Zirkus“. – Nun höre ich, daß der Schüler zu stottern beginnt. Dann bricht er in Tränen aus.
Das Gelächter in der Klasse verstummt. Der Haß gegen den Lehrer, der vor ihnen steht, ist nicht mehr zu übersehen.

16.9.: Am folgenden Tag kommt die Mutter des Schülers in meine Sprechstunde, um sich zu beschweren: Sie schildert nun die Szene im Unterricht so, als hätte ich ihren Sohn als „Stotterer“ vor allen Klassenkameraden bloßgestellt und absichtlich diskriminiert.

18.9.: Der Klassenleiter der 7f spricht mich an: Ich hätte in der Klasse 7f ein „sprachbehindertes Kind sehr hart angefaßt“. Er warnt mich: Ich sollte doch bitte „achtgeben“, in der Klasse seien auch „Kinder des Elternbeiratsvorsitzenden“, die sich für solche Fälle „sehr interessieren“.

Ende Oktober: Etwa sechs Wochen nach Schuljahresbeginn sind die Bauarbeiten am Schulhaus abgeschlossen und die Klasse bekommt ihr festes Klassenzimmer. In einem neuen, geräumigen und ruhigen Raum entsteht eine Sitzordnung, in der jeder Schüler „seinen Platz“ einnimmt. Die Kämpfe um Schulbänke verschwinden. Die Klasse wirkt nun zu Beginn des Unterrichts ruhiger und gelassener. Von einer Stunde zur anderen verbessert sich zudem das Arbeitsklima. Die Kinder werden zunehmend entspannter und konzentrierter. Der Dialog mit den Schülern gelingt in wachsendem Maß. Zu Beginn des Unterrichts stellt sich die Klasse von sich aus auf das Thema ein. Auf kleinere Ermahnungen und Verwarnungen des Lehrers reagieren einzelne Schüler jedoch nun überängstlich. In Situationen, in denen der Lehrer selbst durch Erzählungen und Einfälle für Entspannung sorgen möchte, ist noch ein Rest an Mißtrauen und fehlender Resonanz spürbar. Doch die Anregungen des Lehrers werden nun angenommen. Irgendwelche Desorientierung durch den persönlichen Unterrichtsstil des Lehrers scheint keine Rolle mehr zu spielen.

16.11.: Der Klassenleiter der Klasse 7f spricht mich vor dem Klassenelternabend erneut an und warnt mich, daß Frau B., die im Elternbeirat sehr aktiv sei, die Gelegenheit ergreifen werde, um mit mir darüber zu sprechen, daß ich „zu streng“ sei.

18.11.: Klassenelternabend: Die Eltern tragen eine Sammlung von „Beschwerden“ vor, aufgrund derer ich den Eindruck bekomme, daß jeder Satz, jede Geste, jeder Hinweis von mir seit Wochen im Unterricht genau notiert wird. Als zentraler und dominierender Konflikt zwischen den Eltern und mir konstelliert sich dann ohne das Dazutun des Lehrers die Szene um das sprachbehinderte Kind heraus. Mehrere Eltern tragen erneut eine Version der Ereignisse vor, in welcher der Lehrer in voller Absicht und wohl wissend, was er tut, diesen Schüler vor der Klasse bloßstellen wollte. Die Gegendarstellung des Lehrers bewirkt keine Korrektur der Einstellungen. Selbst der Einwand einer Mutter, die aus früheren Erfahrungen darauf hinweist, der Lehrer hätte sich in ähnlich gelagerten Fällen doch sehr um behinderte Kinder bemüht, kann das Klischee vom „sadistischen Pauker“ nicht korrigieren.
Erst nach einer langen und heftigen Auseinandersetzung beginnen einzelne Eltern etwas einzulenken. Dann der Satz: „Sie müssen schon verstehen, daß es zum ,Schulterschluß’ zwischen den Eltern und ihren Kindern gekommen ist.“ – Von diesem Satz ausgehend, gelingt es dann sogar auch Schwierigkeiten in der Beziehung zwischen Elternhaus und Schule zu benennen. Die Eltern bestehen jedoch darauf, daß ich mit den Schülern nun ein „pädagogisches Gespräch“ führen soll.

19.11.: Das pädagogische Gespräch mit der Klasse: Ich teile der Klasse den Vorschlag einer Mutter mit, ein pädagogisches Gespräch über die „schlechte Atmosphäre“ in der Klasse 7f zu führen und lasse die Schüler darüber abstimmen, ob sie das auch wollen. Es entsteht ein einstimmiges Votum für dieses Gespräch. Die Schüler wollen auch sofort damit beginnen.
Die folgende Auseinandersetzung, in der ein durchgehend anklagender und vorwurfsvoller Ton der Schüler zu spüren ist (überwiegend allerdings moderat und erträglich vorgetragen) wird nur von den Wortführern der Klasse geführt. Die anderen Schüler nehmen aufmerksam und stumm daran teil. Das Gespräch kreist erneut ausschließlich um die Szene mit dem sprachbehinderten Schüler. Ich schlage vor, zunächst noch einmal die „Fakten“ zu klären. Die Schüler wiederholen hartnäckig ihre „Beobachtung“, ich hätte den sprachbehinderten Schüler absichtlich kränken wollen. Sie bleiben auch nach meiner Gegendarstellung bei der Auffassung, daß ich mit dem Satz „ Unterricht ist doch kein Zirkus“ den sprachbehinderten Schüler „fertigmachen“ und „diskriminieren“ wollte.
Erst am Ende der Stunde werden die Wortführer der Klasse etwas unsicher: „So etwas könne man natürlich nie ganz beweisen“. – „Egal ob fertiggemacht oder diskriminiert, Tatsache ist, daß Sie den Schüler fertigmachen wollten“. – Ich gewinne nach diesem Gespräch den Eindruck, daß zunächst „Vorstellungen“ und „Phantasien“ vorgetragen werden, an denen die Schüler aus nicht ganz geklärten Gründen sehr hartnäckig festhalten müssen.

1.12.: Das zweite pädagogische Gespräch mit der Klasse. Nach Rückgabe der zweiten Schulaufgabe erinnert sich die Klasse von sich aus an mein Versprechen, möglicherweise noch einmal über die „schlechte pädagogische Atmosphäre“ zu Beginn des Schuljahres zu sprechen. Eine klare Mehrheit unter den Schülern wünscht sich ein solches zweites Gespräch.
Ich leite die Diskussion mit dem Hinweis ein, es solle nun noch einmal alles ausgesprochen werden, was aus der „Szene von damals“ immer noch im Gedächtnis haftet und auch bis heute noch schlechte Gefühle macht; darüber hinaus sollten die Schüler „nun aber auch Wünsche“ vortragen, was denn möglicherweise „jetzt noch besser werden könnte“.
Nun meldet sich die Klassensprecherin und fordert mich etwas provozierend auf, meine Sicht der Vorgänge von damals noch einmal darzustellen. Ich erkläre den Schülern, daß es nach meiner Auffassung sehr ungünstige Rahmenbedingungen gewesen seien, die dazu führten, daß beide Seiten Vorurteile entwickeln mußten.
Die Klassensprecherin nickt zustimmend und scheint mit dieser Interpretation des Sachverhaltes zufrieden zu sein. Nun frage ich nach, ob sie meine Deutung auch teile. Sie stimmt zu.
Ein Schüler fragt, ob ich damals nicht auch „etwas überreagiert hätte“. Ich gebe das zu, betone aber noch einmal, daß dieser Ausbruch von Wut ohne die „schlechten Rahmenbedingungen“ sicher nicht entstanden wäre.
Nun wenden zwei Schüler ein, auch bei anderen Lehrern hätten „schlechte Rahmenbedingungen“ existiert. Ihr Klassenleiter hätte mit ihnen einmal eine ganze Unterrichtsstunde damit verbracht, die Sitzordnung wiederherzustellen. Nun erklären andere Schüler, dies sei auch die „Aufgabe des Klassenleiters“, außerdem sei die Klasse bei diesem Lehrer „nicht ganz so schlimm gewesen“. Eine Schülerin verteidigt mich sogar: Sie könne sich gut vorstellen, daß man als Lehrer in einer solchen Situation auch einmal „ausflippt“.

14.1.: Nach den Weihnachtsferien erscheint mir nun der Zeitpunkt günstig, die Klasse an die erste Stunde dieses Schuljahres und an die am 9.9. ausgesprochenen „Erwartungen zum Deutschunterricht“ zu erinnern. Alle Ansätze zu einer „Realisierung“ der damals ausgesprochenen „Wünsche“ seitens der Schüler waren bisher gescheitert. In einer bereits früher einmal in ähnlicher Situation erprobten Form (vgl. Hirblinger 1989) wollte ich mit dem Projekt „Lügengeschichten – Wir biegen die Balken“ einen Gestaltungsimpuls geben, der mir geeignet erschien, das „Entwicklungsthema“ der Schüler nun zur Darstellung zu bringen. Die in einem „Container“ verwahrten guten Ideen der Schüler sollten wieder hervorgeholt werden. Verbleibende Ansätze zum Widerstand gegen dieses Projekt schmelzen nun rasch dahin.

15.1.: Das Thema zu einer Lügengeschichte kann völlig frei gewählt werden. Lediglich die Technik des Erzählens und die Bauform von Lügengeschichten wird im Unterricht an Beispielen erklärt. Das Vortragen dieser Erzählungen durch einzelne Schüler vor der Klasse bewirkt nun eine offensichtliche Wandlung der gesamten Unterrichtsatmosphäre.
Alle Schüler wollen ihre Erzählung vorlesen. Im Schutz des Gestaltungsmediums „Lügengeschichte“ entfaltet sich eine bunte Mischung aus libidinösen und aggressiven Phantasien. „In effigie“ und unter dem entspannten Gelächter der ganzen Klasse werden merkwürdige, quälende Objekte besiegt. Besonders gut kommt der Aufsatz von Isabella an, die einen sonderbaren, aus einem unterirdischen „Kanalsystem“ aufsteigenden „Gürtelfresser“ mit großer List überwindet. Auch Alexander nutzt in seiner Erzählung das „Gelächter des Abu Ben Schakal“, um rasch sein Gewehr durchzuladen und den Gegner außer Gefecht zu setzen.
Von ihrem Erfolg animiert, entwickeln die Schüler am Ende der Stunde die Idee, diese erste Sammlung von Lügengeschichten durch weitere Erzählungen zu ergänzen und sie als „Buch“ dann zu veröffentlichen.

Januar/Februar: Das Projekt zieht sich lange hin und wird durch andere Themen des Deutschunterrichts z. T. unterbrochen. Ende Januar beschließt die Klasse dann, der Sammlung von Lügengeschichten den Titel „Das Schweinskraut der Klasse 7f“ zu geben. Als neuen Rahmen für diese „Schweinskraut-Erzählungen“ schlagen die Schüler spontan das Thema „Gelk“ vor.
Ich versuche vorsichtig zu klären, wer oder was denn dieses „Gelk“ sei, zu dem alle eine „Lügengeschichte“ schreiben wollen. Doch die Schüler versichern mir nur, daß diese Idee weder von Lehrern stamme, noch sich auf bestimmte Lehrer beziehe. Zudem wird deutlich, daß Phantasien zum Thema „Gelk“ die Schüler schon seit längerer Zeit beschäftigen. Die Idee sei „kurz nach Beginn des Schuljahres“ entstanden. Damals hätte sich irgendwie die Phantasie von einem Wesen namens „Gelk“, gebildet. Genaueres wisse man jedoch nicht mehr.
Auch der Vortrag der „Gelk“-Erzählungen im Unterricht kann das Rätsel um „Gelk“ nicht ganz lösen. Es wird nur deutlich, daß „Gelk“ ein merkwürdiges, eher wohl männliches, etwas tierisch wirkendes Fabelwesen sein muß. In allen Erzählungen geht es zudem darum, daß dieses bedrohliche Ungeheuer durch List, mit Kraft oder durch geistig-psychischen Widerstand zu bekämpfen und zu besiegen sei.
Ich zitiere hier – stellvertretend für eine große Zahl von auch sprachlich-formal recht gut durchgestalteten Aufsätzen – die Erzählung eines Jungen und eines Mädchens:

So blau, blau, blau ist der Enzian/ ALFRED E.

2. Februar 1908: Ich stöberte gerade in meiner alten Bibliothek nach Lesestoff, denn meine Superman-Comics waren mir ausgegangen. Ich fand einiges wie z. B.: „Die Sage des verschollenen Semmelknödels“, oder „Zweiundvierzig Millionen und zwei Geschichten über eine Straße, in der eine Linde stand“. Aber das interessierte mich nicht sonderlich.
Dann plötzlich stieß ich auf etwas Interessantes. Ein Zettel, der in einem Buch über Taschenbüchern lag, stach mir ins Auge. Auf diesem Zettel stand: „Finde den Gelk und du wirst niemals welk“. Damit war wohl gemeint, daß man, wenn man den Gelk, was auch immer das sein möge, finden würde, man niemals altern werde. Nebenbei war auch noch eine Abbildung des Gelks. Dieses komische Tier sah aus wie eine Gurke vom Frost total zerfressen, die eine gelbe Rotzschicht überzogen hatte. Dieses Gebilde hatte anstatt Händen zwei Schraubenzieher und anstatt Füßen zwei Stecknadeln. Es stand auch noch dabei, wo man den Gelk finden kann und zwar im südamerikanischen Dschungel oder in den Wäldern Alaskas.
Ich rannte mit dem Zettel sofort in meine Werkstatt und baute mir eine Gelk-Such-Maschine, mit der ich nach meinen Berechnungen den Gelk finden müßte. Dann lud ich diese Maschine in mein, natürlich auch selbst gebautes Klein-Raumschiff und startete. Nach ca. zwei Jahren, sieben Monaten, 51 Wochen und zwei Tagen, vier Stunden, 12 Minuten, 13 Sekunden landete ich im Dschungel Südamerikas.
Ich plazierte meine Gelk-Such-Maschine am Anfang des Dschungels und fing an, nun nach dem Gelk zu suchen. Nach zwei Tagen Fußmarsch sah ich plötzlich zwei Abdrücke, die hundertprozentig von Stecknadelfüßen kommen mußten, im Boden. Sie führten zu einem Busch, hinter dem ich mindestens zweihundert Gelk-Weibchen und mindestens zweihundertein Gelk-Männchen entdecken konnte. Sie tanzten, glaube ich, einen Paarungstanz im Stile der Reise nach Jerusalem, bis nur noch zwei Männchen und ein Weibchen übrig waren. Das eine Männchen hatte eine ungewöhnliche Färbung. Es mußte ein Albino sein, denn es war weiß, hatte gelbes Haar und unter seiner Sonnenbrille konnte ich zwei rote Augen erkennen.
Ich glaube, es war der Heino-Gelk.
Ich wollte mir, bevor ich mir den Heino-Gelk schnappte, noch ein Nickerchen gönnen. Doch als ich mich umdrehte, sah ich plötzlich die anderen 398 Gelke um mich herumstehen. Sie wollten mich angreifen, aber der Heino-Gelk stimmte genau in diesem Augenblick einen Schlager an, der ungefähr so klang: „So blau, blau, blüht der Enzian“. Diese Minute, in der die Gelke durch das Gekreische Heinos gelähmt waren, benutzte ich, um mir den Heino-Gelk zu schnappen und durch einen Salto mortale einen Ast zu ergreifen. So schwang ich mich von Ast zu Ast und versuchte zu meinem Klein-Raumschiff zu kommen. Doch mit einem hatte ich nicht gerechnet, und zwar kamen mir die Gelke plötzlich auf ihren Stecknadelbeinen nachgewackelt. Sie waren vor mir am Raumschiff und zerlegten es mit ihren Schraubenzieher-Händen. Ich lachte nur, sprang auf meine Gelk-Such-Maschine, drückte den Knopf mit der Aufschrift „Rakete“ und schoß senkrecht in die Höhe.

Die Gelke unter mir waren so wütend, daß sie vor Wut platzten, so daß ich nun das einzige Exemplar eines Gelk besaß, das es noch gab. Zurück in Deutschland, verkaufte ich den Heino-Gelk an den Münchner Zoo und bekam satte zwei Milliarden, neunhundertneunundneunzigmillionenzweihunderteinunddreißigtausendfünfhundertdreiundzwanzig-
markvierundsiebzig. Für diese Summe baute ich mir ein Ölimperium in Arabien auf und wurde der reichste Mann der Welt und lebe heute noch mit meinen zweihundertsiebenunddreißig Jahren in größtem Wohlstand.

Gelk/SUSANNE K.

Eines schönen Wintertags, das Thermometer war so um die minus 50 Grad, kam ich gerade fröhlich von einem morgendlichen Dauerlauf aus dem Wald. Leider hatte ich heute nur 100 km geschafft, doch das sollte genug sein. Also, wie ich da so ging mit einem Gefühl, als könnte ich Bäume ausreißen, überfiel mich plötzlich etwas sehr Merkwürdiges. Es war ein Gefühl – ja, wie soll ich es beschreiben -, ein Gefühl, das wie Wellen durch meinen Körper rauschte und doch zugleich tief in mir drinnen festsaß. Es war äußerst seltsam, denn dieses Gefühl schien für einen Moment eigentlich ganz normal zu sein, doch dann durchdrang es mich wieder wie ein heiß-kalter Strom.
Ich konnte machen, was ich wollte. Ich bekam es nicht weg. Schnell zog ich „Globis Lexikon für alle Gefühlssituationen“, das ich natürlich immer bei mir trug, aus meiner Hosentasche und blätterte eifrig darin. Schon bald glaubte ich, es gefunden zu haben. Der dort beschriebene Zustand stimmte genau mit meinem Befinden überein. Ich hatte diesen Namen noch nie gehört: Gelk! Ich hatte Gelk! Ich war überglücklich, es gefunden zu haben. Doch im nächsten Augenblick schwand meine Freude dahin. In der folgenden Zeile las ich nämlich, daß bis heute noch kein Mittel erprobt worden sei, um Gelk loszuwerden. Gelk komme und gehe wie es wolle.
Jetzt hieß es, den eigenen Verstand zu gebrauchen, um dieses so unangenehme Gefühl zu beseitigen. Doch ich muß ehrlich gestehen, so schlau ich auch sonst war, über dieses Problem mußte ich erst einmal nachdenken. Aber wie so oft in solchen Fällen kam mir das Glück zu Hilfe. Nachdem ich zu Hause angekommen war und meine Jacke ausgezogen hatte, merkte ich, daß Gelk plötzlich wieder verschwunden war. Einfach so. Tja, ich sage ja immer: „Glück muß man haben“.
Doch leider blieb ich nicht allzu lange von Gelk verschont. Vier Tage später – ich glaube es war Freitag und es war zu meinem großen Bedauern wieder einmal ziemlich warm geworden, nämlich minus 20 Grad – also, wie gesagt, an diesem Freitag verspürte ich große Lust, in meinem Privatsee, den ich mir vor zwei Jahren angelegt hatte und der ungefähr einen Durchmesser von 600 Metern hatte, baden zu gehen. Mein einziges Problem war, daß der See zugefroren war. Mit ein wenig heißem Wasser konnte man jedoch das Eis zum Tauen bringen. Wie ich gerade dabei war, das Eis aufzutauen, kam es wieder, ganz unerwartet: Gelk hatte mich zum zweiten Mal überfallen! Wieder quälte mich dieses gräßlich unangenehme, eigentlich so undefinierbare Gefühl – und wieder wußte ich mir nicht zu helfen. Nach einiger Zeit beschloß ich, einfach nicht auf Gelk zu achten, und ich machte mich daran, mich umzuziehen. Als ich meine Jacke aufknöpfte, spürte ich auf einmal überhaupt nichts mehr. Wieder war Gelk einfach so verschwunden, und ich konnte mich befriedigt dem Schwimmen widmen.
Tja, wie man so schön sagt, aller guten Dinge sind drei! Und Sie werden es sicher schon ahnen: Gelk brachte mich ein drittes Mal ins Grübeln. Doch diesmal sollte sich mein Kopfzerbrechen auszahlen. An jenem Tag, den wir Donnerstag nennen, machte ich gerade Gymnastik. Aber nicht irgendeine Gymnastik! Es war mein weltberühmtes Fitness-Training zur Stärkung der Fuß- und Zehenmuskulatur. Ich war auf unserem Planeten bisher der Einzige, der sich mit diesen Problemzonen beschäftigte – nur ein Bewohner des Saturns interessiert sich noch sehr heftig dafür. Aber wollen wir nicht vom Thema abweichen! Ich war also dabei, meine Gymnastikübungen auszuführen und hatte schon gut acht Stunden trainiert und wollte eine kurze Pause einlegen. Da durchdrang es mich abermals. Und diesmal war Gelk noch viel ekelhafter als sonst. Ich hatte große Mühe, einen klaren Kopf zu bewahren, aber ich wollte Gelk endlich für immer loswerden und so riß ich mich zusammen. Jetzt mußte ich mich aufs Äußerste konzentrieren, um herauszufinden, wie man Gelk beseitigen könnte. Ich versuchte, mich an die anderen beiden Tage zu erinnern, an denen mich Gelk überfallen hatte. Ich hatte doch immer kurz bevor es … ja genau, das war es! Jetzt ging mir ein Licht auf! Mit einem Male war alles sonnenklar! Ich mußte ja nur meine Jacke ausziehen. Dann würde Gelk sicher wieder nachlassen. Doch zu meinem Entsetzen stellte ich fest, daß ich meine Jacke ja gar nicht anhatte. Aber auch jetzt verzweifelte ich nicht. Ich mußte eben erst die Jacke anziehen, bevor ich sie wieder ausziehen konnte. Das tat ich dann auch. Wie erwartet, war ich mit einem Male zu meiner großen Freude wieder von Gelk befreit!
Von diesem Tag an hat mich Gelk nie wieder heimgesucht. Sie werden mich fragen, warum. Doch für mich war das gar keine Frage. Als Anmerkung in „Globis Lexikon für alle Gefühlssituationen“ stand nämlich unter dem Namen „Gelk“ noch folgendes „Wenn Sie einmal herausgefunden haben, wie man Gelk beseitigt, wird es sie nie wieder belästigen“.

Interpretation

Das Konzept der „doppelten Erzählung“

Soweit das Fallbeispiel und die Erzählungen der Schüler. – Überblickt man die eben dargestellte Entwicklung noch einmal von der ersten Stunde an, so wird zunächst deutlich, dass das, was man als „Übertragungskommunikat“ (Neidhardt 1977, 1986; Muck 1980; Trescher 1985 a, 1985 b; 1993; Hirblinger 1990, 1992) im pädagogischen Bezug ansprechen könnte, in der gezeigten Konstellation etwas eigenartig Unbestimmtes bekommt. Die Beziehungswirklichkeit Unterricht wird von vielen Seiten her determiniert und gewinnt Sinn in verschiedensten Perspektiven. In Belastungssituationen, wie der beschriebenen, die in der Schule immer wieder entstehen können, ist dann nicht mehr mit hinreichender Gewissheit auszumachen, welcher Übertragungsaspekt der Schüler oder welche Gegenübertragungsreaktion des Lehrers dominiert. Dies fordert die methodische Reflexion auf ganz neue Weise heraus.

1) SzenischerAuslösereiz und Grundbedürfnisse

In dieser Konstellation bewährt sich zunächst die Annahme, dass das „Erfassen möglichst aller Verästelungen des Hauptthemas … keineswegs notwendig“ ist „zur Erarbeitung sinnvoller pädagogischer Interventionsstrategien“ (Trescher 1985b, S. 55). Der in selektiver Fokussierung handlungsleitender und erlebnisdominierender Gruppenphantasien gewonnene „rote Faden“ lässt sich dann im vorliegenden Fallbeispiel ex post vielleicht so verstehen, dass in einer multistrukturierten Übertragungsregression zunächst alle Beteiligten die Erfahrung machen müssen, im Setting „Unterricht“ elementare psychische Grundbedürfnisse nicht mehr unterbringen zu können. Die über Wochen und Monate anhaltende Fixierung im Bereich bestimmter „handlungsleitender und erlebnisdominierender“ Gruppenphantasien hat ihr objektives Gegenstück in einem „szenischen Auslösereiz“, der als Mangel an „optimaler Strukturierung“ die emotionalen Überreaktionen verständlich machen kann: Die Schulklasse ohne Raum, die Schüler ohne Stühle und Bänke, die über Stunden anhaltende organisierte Verhinderung der Beziehung zu einem neuen (möglicherweise „strengen“ und „schwierigen“) Lehrer – dies alles verweist auf die Missachtung elementarer psychischer Grundbedürfnisse und macht doch auch mit hinreichender Plausibilität verständlich, dass es zur Fragmentierung und Dissoziation im Erleben kommen kann.

Die De-Subjektivierung durch „szenische Auslösereize“ des Settings „Unterricht“ tangiert dabei bei allen Beteiligten den Bereich der Selbstregulierung dessen, was als „Kernselbst-Erleben“ (Stern 1985; Bohleber 1993, S. 53; Moser/Zeppelin 1995, S. 34) natürlich auch im Unterricht erhalten bleiben muss, sollen die Betreffenden ihre Integrität wahren können. Weil bestimmte Persönlichkeitsanteile nicht mehr in dem zu erwartenden Standard-Rahmen für Lernen untergebracht werden können, kommt es zur „Dissoziation“ des Erlebens und zum „Aushandeln der Dissoziation“ (Bauriedl 1985, S. 134). Im System solchen projektiven Agierens bildet sich dann eine psychische Realität ganz eigener Art: Die Einsicht in die Funktion von „szenischen Auslösemechanismen“ und in die Rolle von „Grundbedürfnissen“ wird von den Betroffenen zunächst abgewehrt (vgl. 15.9. und 18. 11.). Im Gegenzug hierzu halten Schüler, Eltern und Kollegen an der Phantasie fest, dass der Lehrer in der Stunde am 15.9. ein sprachbehindertes Kind absichtlich kränken und wegen seiner Sprachbehinderung auch bloßstellen wollte. In einem durch institutionelle Rahmenvorgaben vorübergehend chaotisierten Setting bildete sich so vorübergehend ein relativ stabiles (paranoid anmutendes) Erlebnisfragment aus, welches das Erleben und Verhalten aller Beteiligten erkennbar beeinflusst.

2) Der emotionale Ort der (Selbst-)Supervision

In solcher Perspektive muss nun der Begriff „szenischer Auslösereiz“ präzisiert werden. Definiert man den „szenischen Auslösereiz“ im Sinne Treschers als einen Wirkungsmechanismus, in dem spezifische „Einzelereignisse“, bei denen einzelne Gruppenmitglieder „nicht idente, wohl aber analoge unbewältigte Konflikte aus der aktuellen Lebenssituation oder der Lebensgeschichte … mobilisieren“ (Datler/Eggert-Schmid, Noerr 1994, S. 173), so sind mit Blick auf das Fallbeispiel zumindest drei Bereiche zu unterscheiden:

(1) Die Destabilisierung der Selbstregulation bei Ausübung der Lehrerrolle kann sich im institutionellen Handlungsfeld in einer Außenperspektive zum Setting ergeben. Der „szenische Auslösereiz“ hat dann seinen „Ort“ in einer administrativen Anordnung, die als Überbelastung oder Kränkung erlebt wird, und es kommt infolge dieser „mißlingenden Einigung“ im empathischen Bereich zum vorgängigen Agieren mit der Rolle. Der Lehrer trägt also ein im Umfeld zum Unterricht erworbenes habituelles Moment in das pädagogische Beziehungssystem zu den Schülern hinein.

(2) Ganz anders liegt der Fall, wenn durch entsprechende „szenische Auslösereize“ die Einigung im pädagogischen Bezug zur Klasse selbst misslingt, so dass sozusagen gleichzeitig Lehrer und Schüler um ihr inneres Gleichgewicht kämpfen müssen. Auch in diesem Fall muss das post-traumatische Belastungspotential im Unterricht durch „Aushandeln der Dissoziation“ (Bauriedl 1985) oder durch Machtkampf bewältigt werden. Die Lokalisierung der Beziehungsstörung erfolgt dabei zu Recht im Setting.

(3) Wiederum gänzlich anders gestaltet sich die Dynamik von Übertragung und Gegenübertragung im Erleben der Lehrerrolle, wenn der dynamisch-unbewusste Konflikt durch Verschiebung und Verdichtung aus dem Umfeld zum Unterricht von Seiten der Schüler und Eltern sich bildet. In dieser Konstellation dienen der Schutz der Schülerrolle und das damit erworbene habituelle Abwehrbündnis dazu, die an anderem Ort außerhalb der Schule (also in Familie und Gesellschaft) sich bildende Konfliktspannung in den Unterricht hineinzutragen. Die vorgängig in Erscheinung tretenden Übertragungsneigungen der Schüler haben dann mit der misslungenen Einigung im Unterricht möglicherweise nur sehr peripher etwas zu tun.

In allen drei Modalitäten kommt es so durch „szenische Auslösereize“ an sehr unterschiedlichen „emotionalen Orten“ der Institution zur Ausbildung verdinglichter Interaktionsformen in den Segmenten der Lehrerrolle. Durch Spaltungsprozesse und pseudo-symbolische Interaktionsformen müssen Schmerz, Angst, Wut und Ärger in Grenzen gehalten werden. Der Begriff „szenischer Auslösereiz“ ist dabei für alle drei Beziehungsfelder sehr erhellend, doch gewinnt er offenbar erst dann einen Sinn, wenn die Modi der Verarbeitung im jeweiligen Segment des pädagogischen Rollenhandelns unterschieden und entsprechend verortet werden können. Im ersten Fall verliert der Lehrer nämlich seine Empathie bereits vor der Begegnung mit den Schülern; er wird im Abwehrbündnis mit der Institution zum „Täter“, „Verfolger“, zwanghaften „Kontrolleur“ usw. In der dritten Konstellation machen die Schüler unter dem Druck externer Affektverschiebungen den Lehrer zum „Sozialtherapeuten“ und zum „Opfer“. Der Lehrer soll sich mit Konflikten befassen, die mit seinem Unterricht oft nur sehr wenig oder nichts zu tun haben. Nur im zweiten Fall liegt der Schlüssel zum Verständnis der „Episode“ in der Beziehungssituation selbst, die der Unterricht hervorbringt. Dass selbstverständlich alle drei Konfliktsysteme sich im Erleben der Lehrerrolle miteinander vermischen können, braucht kaum betont zu werden.

Liest man die Protokollnotizen unter dem Gesichtspunkt des Versuches einer Selbst-Supervision, so wird deutlich, dass der Lehrer die Beziehung zur Klasse lange bevor er den Klassenraum betritt, in einer eher defensiven Außenperspektive erlebt: Den depressiven Konflikt infolge einer „dritten Deutschklasse“ beachtet er nicht weiter und stellt sich ihm nicht aktiv; der Schulleiter wird dann kurz später als „Verfolger“ phantasiert. Diese defensive Position in Akten der Selbst-Supervision wird vom Lehrer in ersten Ansätzen offenbar erst verlassen, als sich mit dem Ausbruch narzisstischer Wut ein „Signal“ einstellt, das die Fehlentwicklung in der pädagogischen Beziehung zu den Schülern bewusst werden lässt. Erst von hier aus kann dann auch der „Schulterschluß“ zwischen Eltern und Schülern richtig verstanden und entsprechend behandelt werden. Die Bündniskonstellation und ihre Funktion im Dienste der institutionellen und interpersonellen Abwehr muss also vom jeweiligen emotionalen Ort durch psychoanalytischen Reflexion bearbeitet und aufgelöst werden können, damit das Lehrerhandeln im entsprechenden Rollensegment eine positive Wirkung entfalten kann.

3) Die „Wiederherstellung“ und das „Aushandeln“ des Rahmens

Versteht man unter „Unterricht“ ein in der Institution Schule organisiertes „Setting“, in dem Lernen und Erfahrungsbildung möglich werden soll, so lassen sich – sehr vereinfacht gesprochen – zwei Teilaspekte relativ klar unterscheiden:

(1) die Prozessdimension des Settings, d.h. die vorgängigen interaktiven und kommunikativen Abläufe der Unterrichtung;

(2) der Rahmen für die Prozesse, d. h. die Einrichtungen, Ritualisierungen, Normierungen, die den Unterricht als dynamisches Geschehen ermöglichen.

Die Aspekte der „psychischen Realität“ und der „Beziehungswirklichkeit“ im Unterricht werden dann verständlich, wenn man mit E. Goffman (1974) davon ausgeht, dass in der Institution Schule insgesamt und im Setting Unterricht als einem untergeordneten (und gleichgeschalteten) Teilsystem stets auch bestimmte unsichtbare Rahmungen existieren, die als implizite „Regeln“ oder „Normen“ den Sinn der Ereignisse kodeterminieren. M.B. Buchholz (1993) spricht in sehr erhellender Weise von einer „Selektion von Diskursregeln“, die das soziale Unbewusste einer Institution erzeugt.

Das Konzept des „Aushandelns des Rahmens“ (Körner 1992) in der psychoanalytischen Pädagogik geht davon aus, dass das bloße Festhalten an einem starr idealisierten Standard-Rahmen den Prozess einer offenen Erfahrungsbildung auch im Unterricht möglicherweise behindern kann. Das naive Festhalten am Standard-Rahmen und die damit verbundene habituelle Idealisierung der Lehrerrolle im System institutioneller Gleichschaltung (das Imago des „guten Lehrers“ im Sinne einer bürokratischen Identität) fixiert den Lern- und Erfahrungsprozess im Horizont von Teilobjekt-Identifizierungen. Das obige Fallbeispiel macht darüber hinaus deutlich, dass in besonders belasteten konflikthaften Konstellationen jedes Segment der Lehrerrolle zum Erfahrungsfeld werden kann, in dem das Abwehrbündnis mit vorgegebenen Rollenvorschriften verstärkt wird. Durch „Übertragungsidentifizierung“ (Trescher 1993) verselbstständigen sich dann die normativen Aspekte des Rollenhandels (als „Rolle“ in der Rolle), so dass Empathie und psychoanalytische Reflexion in eine defensive Position geraten. Das Schwinden der triangulären Position im Rollenhandeln und das Agieren mit den Rahmenbedingungen des Settings sind dann Ausdruck einer malignen Entwicklungstendenz; in ihr geraten die Ich-Aktivitäten im pädagogischen Bezug zunehmend in eine defensive Position.
Wenn sich die Ausbildung eines Übertragungskommunikats durch Agieren mit dem Rahmen objektiviert, so kann die angemessene pädagogische Antwort am jeweiligen „emotionalen Ort“ der psychoanalytischen Reflexion nur die „flexible Handhabung des Rahmens“ (Körner 1992) sein. In dieser Hinsicht sind – bezogen auf den institutionell vorgegebenen Standard-Rahmen – zwei Konstellationen zu unterscheiden:

(1) Die defensive Position psychoanalytischer Reflexion steht zunächst vor dem Problem der „Wiederherstellung des Rahmens“;

(2) Erst in einer nicht-defensiven Position kann es im eigentlichen Sinn um das „Aushandeln des Rahmens“ gehen.

Lernen und Erfahrungsbildung im Unterricht ist nur möglich, wenn Vertrauen auch in das Setting entstanden ist. Werden die Teilnehmer an einem Setting durch Bedingungen aus dem Umfeld oder durch Faktoren des Binnenraumes daran gehindert, diese basale Funktion zu realisieren, weil sie elementare Grundbedürfnisse nicht mehr im Setting unterbringen können, so verliert dieses die Funktion des „haltenden Rahmens“ (Trescher/Finger-Trescher 1992). In dieser Konstellation muss die pädagogische Intervention zunächst auf Wiederherstellung des Rahmens im Sinne einer Holdingfunktion gerichtet sein. Objektkonstanz, trianguläre Beziehungsmodi und symbolische Kommunikation bauen auf dieser basalen Funktion auf. Die defensive Position der Lehrerrolle am jeweiligen emotionalen Ort der Supervision kann dann nach meinen Erfahrungen in vielen Fällen auch nicht mehr allein durch „Rekonstruktion der Verständigungsverhältnisse“, sondern nur durch „Konstruktion der Widerstandsverhältnisse“ (Ebeling 1990, S. 95) verlassen und überwunden werden. Der Lehrer muss ein Zeichen setzen, dass er sich der Missachtung von Grundbedürfnissen, die Kernbereiche des subjektiven Erlebens zu gefährden drohen, widersetzt. Das „Mißlingen des Daseins und der Verständigungsverhältnisse“ (Ebeling 1990, S. 100) erfordert eine aktive Einstellung des „bewußten Sollens“ (S. 101). Die Gegenübertragungsreaktion am jeweiligen emotionalen Ort zeigt, dass der Rahmen für Rekonstruktionsarbeit, für Empathie, für Anteilnahme und für die Containerfunktion in der Lehrerrolle nicht automatisch gegeben ist, sondern erst zurückgewonnen werden muss. In einer bewusst eingenommenen engagierten Haltung geht es darum, die psychoanalytische Erkenntnishaltung gegen Überforderung zu schützen. In einer Einstellung des Bewahrens muss von allen Beteiligten ein gemeinsamer Umkehrpunkt gesucht werden.
Im oben dargestellten Fallbeispiel war sicher der Ausbruch narzisstischer Wut des Lehrers ein ungeschicktes „Zeichen“, das die Konfusion aller Beteiligten verstärken musste. Diese maligne Entwicklung wäre jedoch möglicherweise gefördert worden, wenn der Lehrer den Konflikt nur analysierend und reflektierend begleitet hätte. Wichtig und weiterführend waren im Sinne einer pädagogischen Gegensteuerung immer wieder die Versuche des Lehrers, das Verhalten der Schüler und Eltern nicht nur passiv-verstehend zu kommentieren, sondern alle Beteiligten aktiv, durch „positive Konnotationen“ (Fürstenau 1992, S. 181) aus der Sackgasse herauszuführen.

4) Gleichschwebende Aufmerksamkeit und narrative Struktur

In einem solchen Verständnis kommt das aus der psychoanalytischen Praxeologie übernommene Konzept der „gleichschwebenden Aufmerksamkeit“ nun sicher auch an eine Grenze, und es wird deutlich, dass für die im Setting „Unterricht“ geforderte Form einer assoziativen Urteilsfindung möglicherweise sogar ein neuer Begriff gesucht werden muss. Der Begriff „engagierte Empathie“ könnte andeuten, dass das spontane Oszillieren der Wahrnehmungsurteile im fragmentierten Erlebnisfeld des institutionellen Rollenhandelns sich mit intentionalen und aktiven Einstellungen verbinden muss, in denen sich der Wechsel zwischen Fokussierung (Bedeutungszuweisung) und Defokussierung (Bedeutungslöschung) auch als bewusst vorgenommene innere Regie vollzieht.
Es liegt auf der Hand, dass der Wechsel zwischen fokussierenden Einstellungen (dem Interesse an der Symbolbildung) und defokussierenden Einstellungen (der Auflösung von Pseudo-Symbolen) in einer bestimmten pädagogischen Szene mit der Grundregel von der „gleichschwebenden Aufmerksamkeit“ viel zu tun hat und doch im Sinne einer aktiven Regie über sie hinausgeht. Gleichschwebend bleibt die fokussierende und defokussierende Einstellung zudem nur dann, wenn sie den „Übertragungsidentifizierungen“ und der Analyse des „Gegenübertragungshabitus“ am jeweiligen emotionalen Ort der pädagogischen Praxis Rechnung tragen kann.
Aspekte einer solchen inneren Regie, die darauf abzielt, dem Lehrer ein gewisses Maß an Gegenübertragungsdistanz zu erhalten, zugleich aber dem Unterricht seine Sinnbestimmung als Bildungsprozess auch im multistrukturellen Übertragungsfeld zu bewahren, lassen sich im obigen Fallbeispiel am Umgang mit den didaktischen Vorgaben erläutern: Bereits in den ersten Stunden des Schuljahres (8.-10.9.) entwickelten die Schüler, nachdem sie sich etwas beruhigt hatten, zahlreiche „Wünsche“ und „Befürchtungen“ zum Deutschunterricht. In ihnen sind Bildungsstoffe der frühen Adoleszenz unschwer zu erkennen. In einem genügend guten Setting hätte dann der Unterricht im Umgang mit diesen Themen und Stoffen den Lernprozess der Schüler entsprechend fördern können. Diese auf der Grundlage empathischer Einigung entwickelten didaktischen Phantasien mussten nun jedoch unter dem Druck wachsender Übertragungsneigungen aus dem Lernprozess bewusst wieder herausgenommen und „verwahrt“ werden. In einem von Konfusion und negativen Übertragungen getönten pädagogischen Milieu hatten die Einfälle der Schüler in den ersten Wochen des Schuljahres vorerst keine Chance zur Realisierung. Projektive Neigungen und die sie begleitenden Phantasien und Affekte mussten also defokussierend behandelt werden, bis die sublimative Tendenz der ersten Stunde wieder zum Vorschein kam, so dass der Unterrichtsprozess an sie anknüpfen konnte. Den entscheidenden Hinweis, dass sich im Unterricht auch sublimative Tendenzen zeigten, lieferte dann die pädagogische Aussprache mit der Klasse am 1.12. In diesem Gespräch war zu erkennen, dass die Schüler

(1) die Deutung des Lehrers nicht mehr zurückwiesen und

(2) die „Überreaktion“ des Lehrers als Verhalten in einem Konflikt und nicht lediglich als Defekt interpretierten, sowie

(3) trotz anfänglicher Angstabwehr im Konflikt nunmehr in Ansätzen auch die Perspektive des Lehrers übernahmen und

(4) schließlich selbst aktiv an einer neuen Form der Beziehung zum Lehrer und an einer produktiven pädagogischen Zusammenarbeit interessiert waren.

Das Erzählen von „Lügengeschichten“, in denen sich auch zahlreiche unbewusste Phantasien im sprachlichen Gestaltungsprozess Ausdruck verschafften, wurde dann im Projekt „Gelk“ zur korrigierenden emotionalen Erfahrung. Mit dem Übergangsobjekt „Gelk“ fand die Episode eine „Schlußklammer“ (Goffman 1974). Jeder Schüler stellte sein eigenes Erleben im Umgang mit jenem Fabeltier dar, das sich offenbar in einer früheren Phase des Konfliktes als „Phantasie“ in der Klasse bereits gebildet hatte. Das Übergangsobjekt „Gelk“ steht dabei nicht nur für die Abschirmungsbedürfnisse von Frühadoleszenten („Gelk“ blieb ein Geheimnis!), sondern auch für das Immergleiche, das alle zunächst für das Allgemeine hielten und das sich die Schüler nun plötzlich als das Eigene und Besondere aneignen konnten. „Darin liegt eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß der Klient den Mut findet, neue Beziehungsentwürfe praktisch zu entwickeln“ (Körner 1995, S. 716; vgl. auch Fatke 1995). Die unbewusste Ohnmacht und die unerträgliche Gleichschaltung des Erlebens im institutionalisierten Unterrichtsprozess wurden mit „Gelk“ dann in einem sprachlichen Gestaltungsversuch überwunden.
Die hinter dem Satz „Unterricht ist doch kein Zirkus“ verborgene Einstellung konnte sich als Abwehrhabitus gegen das adoleszente Konfliktthema offenbar erst auflösen, als es dem Lehrer endlich gelang, den „Zirkus im Unterricht“ wieder zu akzeptieren und die innere Distanz zur eigenen Rolle in dieser Szene im Medium sprachlicher Reflexion wieder zurückzugewinnen.

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Trescher, H.-G.: Handlungstheoretische Aspekte der Psychoanalytischen Pädagogik. In: M. Muck/H.-G. Trescher (Hrsg.): Grundlagen der Psychoanalytischen Pädagogik. Mainz 1993, S. 167-201.

Trescher, H.-G.: Magie und Empathie. In: Chr. Büttner (Hrsg.): Zauber, Magie und Rituale. Pädagogische Botschaften in Märchen und Mythen. München 1985, S. 43-66 (b).

Trescher, H.-G.: Theorie und Praxis der Psychoanalytischen Pädagogik..Mainz 1985a.

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