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Falldarstellung

Es geht in der folgenden Szene um eine Neuorganisation der Verteilung von Klassendiensten (wie „Tafeldienst“, „Blumengießen“ u.ä.) in einer Gruppe der 4. Jahrgangsstufe an der Laborschule Bielefeld. Die Neuregelung ist nötig geworden, weil die bestehende Regelung, bei der sich die „Schnellsten“ immer für den leichtesten Dienst melden und eintragen lassen, allgemein als ungerecht empfunden wird.

Mark hat einen Vorschlag zur Neuregelung: Die Lehrerin soll nach einer Klassenliste gehen, damit die Dienstverteilung gerecht ist. Malte stimmt dem zu, so werde es in der Werkstatt auch gemacht, damit alle mal mit allem drankommen. Die Lehrerin greift den Vorschlag auf und sagt, es sollten Paare gebildet werden, die dann immer zusammen für Dienste eingeteilt werden. Sie schlägt vor, dass sich möglichst die Kinder zusammen finden, die auch im Bus zusammen fahren oder auf andere Weise den Nachhauseweg teilen, weil es bei manchen Diensten auch mal später werden kann.

Die Paare werden dann so gebildet, dass reihum gefragt wird, mit wem das jeweilige Kind zusammen arbeiten will. Es zeigt sich, dass die Kinder dieses Vorgehen so interpretieren, dass, sofern kein spontaner Widerspruch kommt, die Teams gleich als gebildet angesehen werden. Damit sind aber am Anfang die Kombinationsmöglichkeiten noch am größten und werden dann immer geringer. Es fängt an bei Jonas und Mark, die zusammen ein Team bilden möchten. Der nächste Befragte ist Sven, der Daniel angibt. Daniel scheint nicht sofort einverstanden, nach kurzem Zögern ist er aber bereit.

(… ) Uwe nennt zunächst Mark, der ist aber schon vergeben, und benennt dann Christian, der nicht begeistert reagiert, aber wohl bereit ist, mit Uwe ein Team zu bilden. Als Maria, die Lehrerin, Stefan fragt, mit wem er zusammen arbeiten will, zuckt er die Schultern und guckt zu Boden, es fällt ihm niemand ein. Die Lehrerin schlägt Chiara vor – die neben ihr sitzt und es ihr glaube ich zugeflüstert hat -, Stefan erklärt sich zögernd einverstanden. Es wirkt auf mich so, als würde er nicht die Energie aufbringen, nein zu sagen (und damit das Verfahren zu komplizieren), obwohl Chiara nicht seine Wunschpartnerin ist. Malte hatte bereits außer der Reihe angekündigt, dass er und Björn ein Paar bilden wollen, und bestätigt das jetzt, wo er an der Reihe ist, noch einmal.

Dann kommt die Reihe an Thomas, es sind jetzt schon nicht mehr viele Kinder übrig. Thomas würde gerne mit Martin zusammen ein Paar bilden, der sagt aber, er würde lieber mit Christian zusammen arbeiten, der wiederum gerade Uwe zugeordnet wurde. Christian meint, er wolle auch lieber mit Martin als mit Uwe ein Team sein, denn Uwe habe ihn geärgert. Maria fragt daraufhin Uwe, ob er nicht mit Thomas ein Team bilden könne. Das will Uwe aber nicht. (…) Die Lehrerin versucht noch einmal, Uwe zu überreden, dass er Thomas akzeptiert, Uwe will aber partout nicht. Dann kommt der Lehrerin die Idee, dass unter diesen Umständen Uwe und Thomas schon bestehenden Paarungen zugeordnet werden sollen. Thomas sucht sich Sven und Daniel aus, die ihn aber nicht aufnehmen wollen. Björn macht den Vorschlag, dass Thomas allein bleiben soll. Dieser Vorschlag macht die Lehrerin wütend, sie sagt, Björn solle sich mal vorstellen, ihm würde es so gehen. Sie wolle der Gruppe jetzt noch einmal „klarmachen“, dass Thomas sich in letzter Zeit wirklich bemüht und gebessert habe, die Gruppe müsse ihm auch eine „Chance geben“.

Interpretation

Vor welche Handlungsprobleme hat die Lehrerin hier – durch ihre Vorschläge und Prozesssteuerung – sich selbst und die Kinder gestellt? An anderen Stellen habe ich Detailinterpretationen solcher Prozesse vorgelegt (vgl. Breidenstein/Kelle 1998; Kalthoff/Kelle 2000), im Rahmen dieses Beitrags sollen ein paar Hinweise zur Interpretation genügen. Aus pragmatischen Gründen (gemeinsamer Heimweg) hat die Lehrerin eine bestimmte Form der Teambildung initiiert und offensichtlich die weit reichenden Folgen dieser Maßnahme nicht vorhergesehen. Im Verlauf der Szene wird die sukzessive Einschränkung der Optionen und die Not der Kinder, mit diesem Mechanismus umzugehen, immer deutlicher, wobei auch unterschiedlich erfolgreichen Strategien des spontanen Umgangs mit dieser Situation sichtbar werden, Malte z.B. hat den Mechanismus frühzeitig erkannt und für sich „vorgesorgt“. Der Lehrerin war, da sie ganz andere Absichten hatte, nicht bewusst, dass durch ihr Vorgehen wesentlich die Beliebtheits- oder Statusordnung der Klasse aktualisiert und klassenöffentlich dargestellt wird und einige Kinder, wenn nicht die ganze Klasse in eine peinliche Situation gebracht werden. Denn am Ende ist klar, dass das unbeliebteste Kind „übrig bleibt“, das liegt aber nicht nur daran, wie die Lehrerin in der Situation meint, dass die anderen Kinder ihm keine „Chance geben“, sondern auch und vor allem an der Struktur und Dynamik des Teambildungsverfahrens, das sie gewählt hat und das für das Ziel der Integration von Außenseitern völlig kontraproduktiv ist. Daneben restituiert das Verfahren genau das Prinzip des „wer zuerst kommt, mahlt zuerst“, das die Kinder gerade abschaffen wollten.

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