Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Für das gemeinsame Literaturprojekt in meiner Klasse wählte ich das verbreitete und in zahlreichen Lehrplänen empfohlene Buch „Hanno malt sich einen Drachen“ von Irina Korschunow (München: dtv junior, 29. Auflage April 2003). In meiner Klasse konnten zu Beginn des 2. Schuljahres einige Kinder flüssig lesen, die meisten erlasen Wort für Wort die Texte, und meine vier Sorgenkinder hatten mit dem lautierenden Erlesen einzelner Wörter nach wie vor ihre Probleme. Von einer annähernd gleichen Lesegeschwindigkeit oder Leseflüssigkeit konnte in meiner Klasse keine Rede sein. Diese Spannbreite von Lesefähigkeiten sollte zur Lektüre eines Buches für alle integriert werden. Ich behielt deshalb das meinen Schülerinnen und Schülern seit dem 1. Schuljahr vertraute Verfahren des Vorlesens ganzer Bücher bei. Einen wichtigen Unterschied gab es allerdings: Jedes Kind besaß ein eigenes Buchexemplar.
Abb. 1: Dreiköpfige Drachen faszinieren die Kinder
Beim Vorlesen hörten die Kinder die ersten Kapitel aus der Geschichte vom dicklichen Außenseiter Hanno mit vielen schulischen sozialen Problemen und Lernschwierigkeiten. Unter anderem wird das den Kindern bekannte Problem des mühseligen langsamen Lesens von Hanno selbst thematisiert: „Lass das lieber“, sagt Hanno zum kleinen Drachen, der unbedingt Lesen lernen will. „Lesen ist langweilig. Für eine einzige Seite braucht man doch mindestens eine Stunde.“ (S. 51)
Solche und andere Textpassagen nahmen die Kinder besonders wahr, weil die eigene Schulsituation und die Leseprobleme angesprochen wurden. Das Vorlesen bei Gleichzeitiger „Verfügungsgewalt“ über ein eigenes Buch bot nun den Vorteil, allen Kindern, auch den langsamen Leserinnen und Lesern, den Spaß an der Geschichte und die Affiziertheit von den im Text verhandelten Themen zu ermöglichen, ohne den gewandten Leserinnen und Lesern das Lesepensum zu rationieren.
Aber Vorlesen ist noch kein Selbstlesen. Und so hatten die Kinder die Aufgabe, sich mit dem abschnittweise Vorgelesenen selbst spontan zu beschäftigen. Es gab noch keine spezifische Aufgabenstellung, sodass sich die unterrichtsmethodische Gliederung „Vorlesen“ und die anschließende „Beschäftigung mit dem Text“ fließend ergaben.
Was war nun nach der ersten Vorleserunde, in der ich den Kindern die ersten beiden Kapitel zu Gehör gebracht hatte, zu beobachten? Neben jenen, die gezielt dort weiterlasen, wo ich beim Vorlesen unterbrochen hatte („Auf welcher Seite hast du aufgehört?“), gab es Kinder, die scheinbar ziellos im Buch herumblätterten, Kapitelüberschriften entzifferten und/oder die Bebilderung ansahen. Einige wollten etwas Bestimmtes nachlesen und kamen mit gezielten Fragen zu mir: „Wo steht das noch mal mit Hanno und der Turnstunde?“ oder „Wo ist das, wo der Drache kommt?“ Auf solche Fragen hin blätterte ich gemeinsam mit den Kindern in ihrem Buch und zeigte ihnen – je nach Lesegeschwindigkeit des jeweiligen Kindes – den Kapitelbeginn, die Seite oder auch den Absatz, wo das Gesuchte nachzulesen war. Aber nicht alle reagierten mit eigenem Lesen.
Etwa ein Viertel meiner 22 Kinder begann unmittelbar nach dem Vorlesen und ohne intensiveren Zugriff auf das eigene Buch (allenfalls wurden die Bilder angesehen) mit einer Buntstiftzeichnung. Vor allem die Kinder, die wussten, dass das Lesen ihnen schwer fallen und viel zu langsam gehen würde, wählten nicht die Begegnung mit der für sie verwirrend großen Ansammlung von Buchstaben, Wörtern und Sätzen. Ihre Zeichnungen ließen erkennen, dass das Gehörte sie erreicht und somit das Buch sie interessiert hatte. Damit war ein erstes Ziel erreicht, nämlich allen Kindern ein bedeutsames Buch mit einem persönlich bedeutsamen Inhalt darzubieten. Insbesondere die im zweiten Kapitel erwähnten dreiköpfigen Drachen hatten es ihnen angetan (Abb. 1).
Durch ihre Mitschüler/innen inspiriert, begannen mit fortschreitender Unterrichtszeit auch die meisten anderen Kinder mit dem Zeichnen zumeist von Drachen-Bildern. Ich achtete bei diesem Einstieg darauf, dass sich alle Kinder ohne besondere Leseaufgabe mit den vorgelesenen Seiten des Buches beschäftigten, damit sie Gelegenheiten zur Erkundung des Textes und des Buches hatten.
Eine wichtige Bedingung für Beobachtungen von Zugriffsweisen auf Texte scheint mir zu sein, dass die inhaltliche Beschäftigung mit dem Text nicht sofort durch spezifische Leseaufgaben wieder eingeschränkt wird. Aber war es auch möglich, die Erkundungen der Kinder auf den Text selbst zu richten und nicht nur auf die Bilder?
Die Arbeit mit den Lesetagebüchern beginnt
Abb. 2: Malena und Julia schreiben und zeichnen zu interessanten Textstellen
Mein Vorschlag, die zu Anfang entstandenen Bilder in ein eigens dafür vorgesehenes Heft zu kleben (und weitere Bilder gleich dorthinein zu zeichnen) bewirkte, dass am nächsten Tag das Lesetagebuch eingeführt wurde – zumindest in seiner gegenständlichen Form. Ich behielt die Form der weiten Aufgabenstellung bei. Es galt, im ausgegebenen DIN-A5-Blanko-Heft etwas zudem vorgelesenen Text zu machen und dabei das eigene Buchexemplar zu benutzen. Einige Kinder nutzten das zum Schreiben. Bildüberschriften entstanden, oder die Bilder erhielten einen Satz zur Erklärung (Abb. 2. links und unten).
Ferner gab es die Idee, einzelne Sätze oder auch ganze Absätze aus dem Buch abzuschreiben (Abb. 3).
Abb. 3: Zerrin schreibt eine Textstelle ab, die sie interessiert
Ein Mädchen schrieb im Anschluss an die Vorleserunde zum dritten Kapitel eine eigene kleine Geschichte, die – inhaltlich betrachtet – wie ein zusätzliches Buchkapitel erscheint (Abb. 4).
Abb. 4: Julia versetzt sich in die Situation des kleinen Drachen und schreibt ein eigenes Kapitel.
Solche Formen eigenständiger Schreibaktivität waren nicht bei allen Kindern zu beobachten. Viele nutzten weiterhin die Möglichkeit zum Zeichnen. Andere standen nach dem Vorlesen fragend vor mir und wollten wissen: „Was kann ich machen?“ „Malen?“ „Hab ich schon.“ „Lesen?“ „Och nö!“ „Schreiben?“ „Ich weiß nicht, was.“ – Aber dies war auch zu Anfang nicht gefordert. Die Kinder hatten verschiedene Möglichkeiten zum Umgang mit dem Text, und diese hatten sie auch genutzt.
Eine weitere wichtige Bedingung für gelingende Leselernprozesse in sensiblen Phasen ist, dass wir nicht „unter der Hand“ versuchen, die schwachen Kinder doch noch zum Schreiben zu bringen. Kongruentes Verhalten zu den Anforderungen und den Möglichkeiten in der didaktischen Situation ist das Gebot der Stunde. So ergibt sich dann die Möglichkeit, in einer neuen didaktischen Situation den Anspruch der Aufgabenstellung noch einmal anders zu gestalten.
Aufgabenstellung zum Lesetagebuch
Ich entschloss mich zu dem Wagnis, Aufgaben für das Lesetagebuch zu formulieren, die alle Kinder mit dem Anspruch zur Arbeit am Text konfrontierten.(1) Am nächsten Tag legte ich nach dem Vorlesen kleine Aufgabenzettel bereit. Die Zettel bezogen sich auf das aktuelle und auf die bereits vorgelesenen Buchkapitel. Ich hatte drei Typen von Aufgaben entwickelt:
- Direkte und enge Arbeit mit dem Text, Wissensaufgaben (Typ 1).
- Möglichkeit zum Nachspüren der emotiven und affektiven Rezeption (Typ 2).
- Aufgaben zum (freien) Schreiben, zum Zeichnen oder zum Gestalten mit Sprache (Typ 3).
Die Übergänge zwischen den verschiedenen Aufgabentypen waren fließend, und die Kinder waren frei in der Auslegung dessen, was sie als Anregung auf den Zetteln erhielten. Die Aufgabenzettel konnten individuell ausgesucht werden, wichtig war jedoch, dass mindestens eine Aufgabe ausgewählt werden musste. Die Zettel wurden vor ihrer Bearbeitung ins Lesetagebuch eingeklebt. Alle Kinder konnten so auf ihrem Niveau und nach ihren Möglichkeiten auf Aufgaben zum Text zurückgreifen – ein hoher Anspruch gerade für die Kinder mit Leseproblemen.
Das Herangehen der Kinder an die Aufgabenzettel war unterschiedlich. Neben dem besonnenen Stöbern mit anschließender intensiver Arbeit an einer Aufgabe (zumeist des Typs 2 oder 3) gab es auch das ehrgeizige Projekt, so viele Zettel wie möglich in möglichst kurzer Zeit „zu schaffen“. Die Kinder, die nach der letztgenannten Methode verfuhren. bevorzugten die Wissensfragen zum Text (Typ 1) und handelten auch Typ 2 und 3 mit wenigen Worten oder Buntstiftstrichen ab. Vor allem diejenigen, denen das Lesen im Buch schwer fiel, nutzten die Möglichkeit, im Gespräch mit mir eine der Aufgaben auszuwählen – auch Zeichenaufgaben waren wieder dabei.
Entscheidend war, eine Aufgabe, die sie sich zutrauten, eigenständig zu bearbeiten.
Mein Ziel war es, dass die Kinder Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten gewinnen sollten und in einem Spielraum von Möglichkeiten die Chancen, die mit den Schreibaufgaben gegeben waren, erfahren sollten.
Beobachtungen für erste Ansätze von praktischer literarischer Kompetenz
Nach dem Vorlesen von mehr als der Hälfte der Kapitel war meine Unsicherheit, dass das Vorlesen die Leseaktivitäten behindern könnte, gänzlich verflogen. Meist hörte ich unmittelbar nach dem Vorlesen von mehreren Kindern: „Ich les‘ das weiter!“ Durch den beim Vorlesen entstehenden Wunsch etwas nachzulesen und durch die Arbeit mit den Aufgabenzetteln entwickelten die Kinder die Fähigkeit, sich überhaupt in einem Buch zu orientieren. So waren Begriffe wie „Kapitel“, „Inhaltsverzeichnis“, „Textabschnitt“ etc. am Ende unseres Leseprojekts vielen Kindern vertraut. Mehrfach ergab sich für mich die Gelegenheit, mit Kindern, die wie wild im Buch herumblättern, weil sie auf der Suche nach einer bestimmten Szene waren, einen Dialog wie den folgenden zu führen:
L: Was suchst du denn‘?
Josef: Das mit der Schokolade.
L.: In welchem Kapitel steht das denn?
Josef: Was?
L.: Guck doch mal vorn im Inhaltsverzeichnis nach. Vielleicht kriegst du dann eine Idee, wo du suchen musst.
Ich zeige Josef das Inhaltsverzeichnis, er beginnt mit dem Lesen der Kapitelüberschriften.
Josef: Hier! Der kleine Drache frisst Schokoladenfeuer.
L.: Ja, in dem Kapitel steht das bestimmt. Auf welcher Seite, musst du also jetzt lesen?
Josef: Was? Wieso?
L.: Weiche Zahl steht denn dahinter?
Josef: 17.
L.: Das ist die Seite auf der das Kapitel anfängt. Da musst du anfangen zu lesen.
Frühe Lesetagebücher als Anknüpfungspunkte für weiterführendes literarisches Lernen
Das beobachtete Interesse der Kinder an praktischer Kompetenz zum Umgang mit Büchern hatte mich dazu motiviert, die Aufgaben auch als Möglichkeit zum literarischen Lernen zu verstehen. Zum literarischen Lernen gehört, wie Kathrin Waldt (2003) noch einmal herausgearbeitet hat, die Fähigkeit zur Imagination, zur Erarbeitung und Erprobung von literarischen Formen und die Deutung der Symbol- und Bildhaftigkeit der Sprache. Elemente solcher literarischer Aktivitäten ließen sich auch in den einfachen Texten der Kinder beobachten. Emine gibt dem kleinen Drachen zwei neue Köpfe. In freier gestalterischer Arbeit zeichnet sie etwa in der Mitte ihres Lesetagebuches zwei Drachen. Der erste hat zwei Köpfe. Und der darunter stehende Text lautet: Der kleine Drache hat zwei Köpfe. Der kleine Drache freut sich und spuckt Feuer aus. Der auf der nebenstehenden Seite abgebildete Drache hat drei Köpfe. Im Text dazu heißt es: Der kleine Drache hat drei Köpfe, und er kann fliegen, und das findet er schön.
Emine hat hier voller Fantasie und Gestaltungswillen in das Buchgeschehen eingegriffen. Sie hat sich in die Wunschwelt des kleinen Drachen hineinversetzt und ihm die wichtigsten Wünsche erfüllt: Drei Köpfe haben, Feuer spucken und fliegen können (Abb. 5).
Abb. 5: Emine bringt ihre Vorstellungen über wundersame Entwicklungsmöglichkeiten zu Papier.
In Hannas Text lässt sich die literarische Form des „Botenberichts“ entdecken. Sie schreibt zum Aufgabenzettel mit der Aufforderung „Schreibe eine Geschichte vom Drachenfeuerfest“ ihren Text (Abb. 6).
Abb. 6: Hanna verfasst einen Botenbericht
Orthografische Fassung:
Ich weiß, dass jedes Jahr bei den Drachen ein Fest gefeiert wird. Es geht ungefähr so, dass der kleine Drache immer verlor und die anderen gewinnen. Der kleine Drache verliert immer.
Julia kommt der Phantasieexistenz des kleinen Drachen auf die Spur und thematisiert zugleich die Symbol- und Bildhaftigkeit der Darstellung. Denn in ihrem Text zu der Buchillustration des Kapitels „Der kleine Drache lernt singen“ geht es in pointierter – wenngleich nicht ausgesprochener Weise – um die symbolhafte Existenz des Drachen. Julia nutzt die fiktionalen Möglichkeiten der Literatur für die Schilderung der Situation (Abb. 7).
Abb. 7: Julia nutzt literarische Möglichkeiten.
Fußnoten:
(1) Mir ist durchaus bewusst, dass die dialektische Literatur zum Lesetagebuch die Freiheit von Vorgaben und Auflagen zur Vorraussetzung für die volle Entfaltung seiner lesedidaktischen Möglichkeiten erklärt (vgl. Hintz 2002, 92). Diese Vorraussetzung übersieht jedoch die unterschiedlichen literarischen Erfahrungen und Lernsozialisation der Kinder. Die Aufgabe der Lehre bleibt die Formulierung (nicht Sanktionierung!) eines konkreten Anspruchs, der den Kindern gegenübertritt und vermittelbar sein muss.
Literaturangaben:
Bertschi-Kaufmann, A.: Kinderliteratur und literarisches Lernen. Lese- und Schreibentwicklungen im offenen Unterricht. In: Richter, K./Hurrelmann, B. (Hrsg.): Kinderliteratur im Unterricht. Theorien und Modelle zur Kinder- und Jugendliteratur im pädagogisch-didaktischen Kontext. Weinheim/München 1998. 199-214
Waldt. K.: Literarisches Lernen in der Grundschule. Herausforderung durch ästhetisch-anspruchsvolle Literatur. Freiburg 2003
Hintz, L: Das Lesetagebuch. Intensiv lesen, produktiv schreiben, frei arbeiten. Baltmannsweiler 2002
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