Falldarstellung
(September 2002 in einem 3. Schuljahr einer Grundschule)
Die Praktikantin Frau Sommer steht vor der Tafel, die Kinder sitzen jeweils zu sechst an Gruppentischen und packen gerade ihr Frühstück in die Schulranzen. Frau Sommer macht das Ruhezeichen (linker Zeigefinger über den Mund, rechte Hand in die Höhe gereckt). Nach und nach verebbt das Gemurmel, die Kinder bringen sich auf ihren Plätzen in Position, d.h. sie richten ihren Blick auf Frau Sommer, einige ahmen das Zeichen nach. Frau Sommer lehnt sich an die geschlossene Tafel und sagt mit leiser Stimme und freundlich lächelnd den Kindern zugewandt: „Wir machen heute Rechnen und jetzt schaut mal genau hin!“ In dem Moment öffnet sie die Tafel, in deren Innern drei Zahlen (7,8,9) auf Kärtchen mit Klebestreifen angebracht sind. Einige Kinder rufen ein verstehendes „Ah“ in die Klasse und recken ihre Finger in die Höhe. Andere melden sich eher unscheinbar und wieder andere schauen andere fragend an, einige sind eher unbeteiligt. Frau Sommer schaut die Kinder aufmunternd und fragend an. Nach ca. einer Minute nimmt sie Thomas dran: „Thomas! Was meinst Du?“ Thomas antwortet: „Da kann man eine Rechenaufgabe draus machen: 7 plus 8 plus 9.“ Frau Sommer schaut ihn freundlich zweifelnd mit hin und her wiegenden Kopf an und sagt lang gedehnt: „Nicht ganz…“ und an die gesamte Klasse gewandt: „Denkt noch einmal nach!“ Nun melden sich weniger Kinder aber um so heftiger. Sie springen fast vom Stuhl und recken die Hände nur noch halb sitzend in die Höhe. Manche flüstern dabei laut und aufgeregt in die Klasse „Frau Sommer ich weiß“ oder „ah, jetzt versteh ich“. Frau Sommer blickt erfreut auf die sich eifrig meldenden Kinder und sagt an Sarah gewandt: „Sarah, was meinst Du?“ Einige Kinder äußern ihre Enttäuschung darüber, dass sie nicht dran genommen wurden und rufen: „Ohmanno!“ oder schlicht „Oh“ und ihre vorher noch so eifrigen Gesten erschlaffen demonstrativ. Die Kinder sinken auf ihre Stühle zurück, die hochgereckten Arme fallen auf den Tisch. Sarah sagt: „9 plus 8 plus 7“…
Dieses Ratespiel dauerte noch eine Weile, bis Frau Sommer dann erklärte, dass man aus diesen Zahlen – sie meinte Ziffern – zweistellige Zahlen machen kann. Viele Kinder waren inzwischen unruhig, wackelten auf den Stühlen, kramten in ihren Schulranzen, unterhielten sich mit Ihrem Nachbarn.
Interpretation
Diese Beobachtung ist aus der Perspektive einer Beraterin entstanden, die Anfängerinnen auf ihrem Weg in die Schule begleitet. Die Beschreibung orientiert sich daher an der Lehrerin und der didaktischen Dramaturgie. Die Eröffnung des Unterrichts durch einen sog. „stummen Impuls“ scheint für „Vorführstunden“ ein probates Mittel, die Aufmerksamkeit der Kinder zu gewinnen, sie am Unterrichtsgeschehen zu beteiligen und damit zu zeigen, dass man Lehrerin sein kann. Die konkrete ethnographische Betrachtung, d.h. die Rekonstruktion der Handlungen der Beteiligten einer so weitverbreiteten schulischen Inszenierung mit Hilfe von Beobachtungen, erhellt die Sinnhaftigkeit der Aufführung für schulisches Lernen. Der Aufführungscharakter wird hier sehr deutlich symbolisch unterstrichen: Der Raum vor der Tafel wird zur Bühne auf der die geschlossene Tafel wie der Theatervorhang geöffnet wird.
Das vorgestellte Beispiel hebt auf didaktisch/methodische Fragestellungen ab, die relevant sind für Praktikantinnen, die lernen wollen, wie man Schule macht. Erlebnisse mit Anfängerinnen (übrigens auch mit Schulanfängerinnen) stärken den analytischen Blick für schulische Routinepraktiken und schulische Arrangements, die nachgespielt häufig noch nicht funktionieren. Das Scheitern derart alltäglicher schultypischer Verfahren lenkt die Aufmerksamkeit auf die diesen Verfahren zugrunde gelegten Struktur ebenso wie auf die Analyse der schulischen Intentionen.
Die ethnographische Rekonstruktion der Handlungen der Schülerinnen und Schüler soll hier exemplarisch an zwei Aspekten veranschaulichen, wie sie versuchen, der Veranstaltung durch ihr Handeln Sinn zu verleihen und wie die anfängliche Kooperation mit der Lehrerin in Unruhe umschwenkt:
- Offensichtlich wissen die Kinder, wann es Zeit ist die Finger zu heben und eine Frage zu beantworten auch wenn sie nicht explizit gestellt wurde. Sie geben dem Öffnen der Tafel und den drei Ziffern einen Sinn, indem sie sinnvolle Antworten geben: Im Unterrichtsfach Rechnen wird gerechnet und mit Zahlen macht man Rechenaufgaben. Dieser Sinn kommt jedoch mit der Intention der Inszenierung oder des didaktischen Arrangements nicht zusammen.
- Die Kinder zeigen, in der Schule geht es um Antworten und zwar um die richtigen. Es geht jedoch nicht nur um die richtigen Antworten, sondern vor allem darum öffentlich zu machen, dass man sie weiß. Da sie nur reden sollen, wenn die Lehrerin sie beim Namen nennt, finden sie Wege, um trotzdem deutlich zu machen, dass sie die richtige Antwort wissen (Vielleicht auch, wenn sie sie nicht wissen). In dieser Szene wird so ein Dialog inszeniert, der gar keiner ist. Der Sinn des Meldens und demonstrativen Zeigens, dass ich etwas weiß, begründet sich nicht über den Inhalt oder das Thema, sondern über die Darstellung der Rolle eines Schülers.
Die nur angedeuteten Aspekte machen deutlich, dass hier Schule stattfindet und zeigt Handlungsmuster auf, die so nur in einer Schule passieren können – Handlungsmuster, die schulische Ordnung ausmachen und aufrechterhalten. Das Gelingen und Scheitern geplanter didaktischer Arrangements, wie der „stumme Impuls“ hängt auch von der Verständigung der Teilnehmer über die Bedeutung für die schulische Situation ab.
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