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Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Jahresarbeiten stellen für Herrn Frank eine vertiefte Beschäftigung der Schülerinnen und Schüler mit einer Fragegestellung dar, die individuelle Bedeutsamkeit hat. Herr Frank möchte zwar Fragerichtung, Prioritätensetzungen und begangene Wege prinzipiell den Schülern überlassen, gibt aber dennoch Anregungen und macht Vorschläge, wenn er es für angebracht hält, z.B. wenn der Schüler oder die Schülerin entweder wenig eigene Vorstellungen entwickeln, inhaltlich nach seinen Vorstellungen zu anspruchsarm operieren oder in Sackgassen hineingeraten sind.
Florians Thema lautet: „Warum der Luftkrieg über England im Zweiten Weltkrieg nur scheitern konnte“. In den Interviews benutzt er zweimal den Ausdruck, er schreibe die Arbeit nach dem Motto „Hätte, wäre, wenn“. Dies bedeutet, dass er sich Gedanken darüber machen möchte, wie der Luftkrieg sich anders entwickelt hätte, wenn die deutsche Wehrmacht strategisch geschickter vorgegangen wäre. Herr Frank möchte ein solches Gedankenspiel auf keinen Fall gelten lassen. Dennoch nimmt er das Thema an, versucht aber Florian deutlich zu machen, dass er keine rein militärgeschichtliche Arbeit haben möchte, sondern eine Einbindung in die politischen Hintergründe für erforderlich hält. Der Luftkrieg sei Teil eines von Deutschland initiierten verbrecherischen Krieges gewesen. Und er weist auf eine Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 50. Jahrestag des Kriegsendes hin, in der dieser betont, dass der verlorene Krieg eine Befreiung für das deutsche Volk gewesen sei. Herr Frank möchte verhindern, dass die Jahresarbeit rein militärstrategisch aufgebaut ist, genau dies scheint aber das ursprüngliche Interesse von Florian zu sein. Florian versteht die Einwände seines Lehrers durchaus. Er erzählt im Interview, dass er zunächst die Arbeit so angegangen sei, wie er anstelle des Führers den Luftkrieg erfolgreicher geführt hätte. Er erkennt, dass Herr Frank dies für eine gefährliche Argumentation hält, findet es aber schwer, die Arbeit so zu formulieren, dass nicht der Eindruck entstehe, er sei der Meinung, Hitler hätte den Krieg besser führen sollen. Er habe sich deshalb mit Herrn Frank darauf geeinigt, dass er zwar bei seiner Richtung bleibe („Hätte, wäre, wenn“), dass er aber am Schluss der Jahresarbeit auf von Weizsäckers Rede eingeht, dass die Kriegsniederlage eine Befreiung für Deutschland gewesen sei.
In der folgenden Beratungssequenz bittet Florian seinen Lehrer um eine Kopie dieser Rede:

Florian: Eine Sache gibt’s noch (Herr Frank: mmm), wir haben ja mal .. gesagt, dass wir so ganz am Ende noch mal/ ähm … , dass die ganze Arbeit zwar irgendwie nach dem Motto hätte, wäre, wenn ist (Herr Frank: mmm), aber wir ja glücklich sein können (Herr Frank: mmm).., dass es eben so gekommen ist und dass wir eben befreit worden sind (Herr Frank: mmm), wie auch der Willi Brandt gesagt hat (einatmend) und wollte fragen, ob Sie die ähm ../ob Sie wissen, wo ich diese Willi-Brandt-Rede noch (Herr Frank: Weizsäcker) ja, Weizsäcker (Herr Frank: Richard von Weizsäcker) Richard-von-Weizsäcker-Rede noch mal herbekomme irgendwie.

Florian spricht das Thema von sich aus an, das offensichtlich bereits in einem früheren Gespräch Gegenstand der Beratung war. Durch das „wir“ („wir haben ja mal gesagt …“) stellt er Einvernehmlichkeit mit seinem Lehrer her. Herr Frank weiß sofort, wovon Florian spricht, obwohl dieser zunächst den Namen verwechselt, und bemüht sich einerseits der Bitte nachzukommen, die Rede zu besorgen und andererseits die damit verbundenen Ansprüche noch einmal darzulegen:

Herr Frank: Mmm, kann ich, .. das war.. glaub ich 8. Mai … wahrscheinlich 95, … 8. Mai 95, ja, ich hab‘ die auch, also das schreib‘ ich mir halt auf .. dann bring ich die mit. Jedenfalls hab‘ ich sie in Auszügen .. (Florian: Das wär schön.) dann müssen wir es kopieren .. . Also, das war nur ein Hinweis von mir. Sie können/ ich hab‘ gesagt, wichtig ist, wenn man eher so ne militärgeschichtliche .. , manchmal ja auch sehr technische Geschichte anschaut .., dass man den Werterahmen nicht aus dem Auge verlieren kann. Es kann ja nicht egal sein, warum … es einen Krieg gibt und .. dann kann ich immer noch sagen, sozusagen die, die diesen Krieg .. verursachen, die verbrecherisch einen Krieg auslösen/ kann ich immer noch untersuchen, wie hätten die den Krieg gewinnen können.  Das ist ja so ein bisschen ../das ist sozusagen auf dieser militärtaktischen, strategisch-technischen Ebene falsch gelaufen oder ../, aber ich kann natürlich auf gar keinen Fall ausblenden, dass es ein verbrecherischer Krieg ist..

Florian: Und dass es gut war, dass sie dumm genug waren, um den Krieg zu verlieren.

Herr Frank: (gleichz) .. ja, gut also, mmm das ist jetzt natürlich sehr  verkürzt, aber darüber nachzudenken …, das mit einzubringen, deswegen hab‘ ich ja auch gesagt, durchaus mal den Churchill .. lesen .. , um das Gegenstück (Florian: Ja) auch zu haben. Ja, das sollte schon..

Florian: (gleichz).. das werde ich dann vor allen Dingen hier auch reinbringen.

Herr Frank: Also das soll unbedingt .. mit rein .. und eben vernünftig .. ne selbständige Leistung von Ihnen/ .. . Ich hab‘ gedacht, Anstoß kann diese Rede von Weizsäcker geben … wo er sozusagen sagt, war das eigentlich eine Niederlage … mmm oder war’s ne Befreiung? Also, inwiefern .. dadurch, dass der Krieg .. verloren wurde, die Deutschen von Hitler befreit wurden. … Selbst haben sie’s nicht geschafft .., ja? Mmm. Also, das ist mir ganz wichtig.

Florian: (gleichz) ja, natürlich

Herr Frank: (gleichz) .. und ich kann diese Rede besorgen, ja!

Florian: Das wär‘ schön!

Herr Frank: Gut!

(Beratungsgespräch mit Florian am 2.4.)

Zunächst begründet Herr Frank inhaltlich, warum er die Einbeziehung der Weizsäcker-Rede wichtig findet: Der Werterahmen soll nicht aus dem Auge verloren werden. Diesen führt er gleich aus. Er gesteht dem Schüler also zu, dass man durchaus die militärtaktische Seite des Luftkriegs untersuchen könne, wenn diese allerdings in eine ablehnende Bewertung dieses Krieges generell eingebunden sei. Die saloppe Ausdrucksweise von Florian, dass die Deutschen „dumm genug“ gewesen seien, den Krieg zu verlieren, weist Herr Frank zurück („das ist jetzt natürlich sehr verkürzt…“), sie erweist sich aber als bezeichnend für das Problem. Florian sieht den von Herrn Frank nachdrücklich („also, das ist mir ganz wichtig!“) eingeforderten Werterahmen nicht oder er kann damit nichts anfangen. Ihm geht es um die militärische Strategie der Nazis, die er offensichtlich für „dumm“ hält. Herrn Frank geht es zumindest darum, dabei die Bewertung des Krieges als verbrecherisch nicht auszuklammern und die politische Seite einzubeziehen. Außerdem geht es ihm zusätzlich um einen wissenschaftlich-methodischen Anspruch. Der Schüler soll die Rede von Weizsäckers nicht einfach zitieren, sondern in ihr einen „Anstoß“ sehen, sich wirklich intensiv mit dieser Position auseinanderzusetzen. Dies wird Florian bis zum Ende der Arbeit nicht klar, was er da hätte leisten sollen, er bekommt allerdings keine konkrete Hilfe hierfür, wie er das hätte bewältigen können. Die Rede wird vom Lehrer vielleicht auch im Sinne einer fremden Autorität eingesetzt, die seine eigene Haltung widerspiegelt. Er scheint Florian vermitteln zu wollen, ohne es dezidiert auszudrücken: „Wenn du diese Rede verstanden hast, kannst du deinen Ansatz nicht mehr aufrecht erhalten.“
In dieser Gesprächssequenz kann man erkennen, dass hier zwei Seiten aufeinanderprallen, die nicht wirklich in Einklang zu bringen sind, weshalb die nur scheinbare Einvernehmlichkeit sich schließlich als Trugschluss herausstellt. Herr Frank bescheinigt Florian am Ende, dass er zu wenig Abstand zum Thema gehabt habe, dass er zu sehr in militärstrategischen Gedanken der Nazis verhaftet geblieben sei. Florian hält das nicht für gerechtfertigt, er habe doch am Anfang wie am Ende der Arbeit geschrieben, dass wir Deutschen froh sein können, dass der Krieg verloren wurde. Florian geht die Arbeit aus seiner Sicht werteneutral an und versucht, die beste Militärstrategie herauszufinden bzw. zu begründen. Konzessionen an Herrn Frank macht er, indem er am Ende der Arbeit (fast pathetisch, wie Herr Frank später meint) die Rede von Weizsäcker aufgreift. Dieser Schluss sei jedoch inhaltlich wie abgetrennt vom Hauptteil der Arbeit, kritisiert Herr Frank. Er hat eine distanzierte Analyse der Situation im Luftkrieg erwartet, die in den Werterahmen eingebunden ist, dass der Krieg als zu verurteilende Aggression von Deutschland ausging. Hierzu war Florian nicht in der Lage, weil er bislang nicht gelernt hatte, wie man im wissenschaftspropädeutischen Sinn, Literatur kritisch liest, Positionen gegenüberstellt, Daten von Meinungen unterscheidet oder selbst Stellung bezieht. Da Herr Frank von solchen grundsätzlichen Fähigkeiten bei Schülern des 12. Jahrgangs ausgeht, hat er im Wesentlichen versucht, auf der inhaltlichen Ebene Namen (Churchill, Weizsäcker) und Ideen (Werterahmen) einzubringen, aber so weit dies erhoben werden konnte, zu wenig konkrete Hilfe angeboten, wie z.B. die Position von Weizsäckers der eines beteiligten deutschen Piloten gegenübergestellt werden könnte. Vermutlich hätte Florian solche Bespiele für das weitere Vorgehen benötigt, um den Ansprüchen seines Lehrers näher zu kommen.

Darüber hinaus entzündet sich das Dilemma wohl nicht zufällig an der Perspektive auf den Zweiten Weltkrieg. Das Thema ist im Hinblick auf die deutsche Geschichte brisant. Für den Geschichtslehrer ist es völlig undenkbar, dieses Thema wertneutral zu bearbeiten oder sogar unkommentiert kriegspropagandistische Formulierungen zu übernehmen. Er verlangt bei diesem Gegenstand besonders kritische Distanz. Das heißt, aus Sicht des Lehrers stehen die Werte im Grunde fest, es gibt inhaltlich auch hier wenig Spielraum für den Schüler. Allerdings beruht das Thema auf echtem Interesse von Florian und er setzt den militärstrategischen Schwerpunkt als Fragestellung ja durch. Man muss Florian wohl tatsächlich eher Naivität als eine ausgeprägt rechtsorientierte politische Haltung unterstellen. Aber dass Herr Frank euphemistische Formulierungen in der Arbeit, wie „dieser bisher einzigartige Luftkrieg“ oder „einer der erfolgreichsten deutschen Jägerpiloten“ unakzeptabel findet, ist nachvollziehbar. Es ist in diesem Fall ein Konglomerat aus unterschiedlichen politischen Ansichten und Bewertungen des Zweiten Weltkriegs, aus dem Anspruch einer selbstständigen Themenwahl und darin einer selbstständigen Prioritätensetzung, aus wissenschaftlich orientierten Ansprüchen im Umgang mit Literatur und mit formalen Standards entstanden, das bis zum Schluss verworren bleibt.

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