Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

‚Lehrer/innen sind faul’: Thomas

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Beispiel (B12): ‘Lehrer/innen sind ungerecht’

Auch mit dem letzten Beispiel möchte ich noch einmal zeigen, in welcher Form sich die Widersprüchlichkeit schulischer Handlungsmuster manifestieren kann und wie Schüler damit umgehen. Dem folgenden Transkriptionsausschnitt geht ein Gespräch über einzelne Unterrichtsfächer und die damit verbundenen Probleme des Aktanten voraus. In diesem Kontext kommt der Schüler Hans auf das Fach Kunst zu sprechen. In den Tagen vor dem Interview hatte er sich über seine Kunstlehrerin aufgeregt, weil er sich von ihr ungerecht zensiert fühlte.

Beispiel ( B 12 ): Hans

( 1) Also da hab’ ich in dem Sinn keine Schwierigkeiten,
( 2) wobei mich natürlich jetzt der Lehrer aufregt.
( 3) Ich will ja keine Namen nennen, ((Lachen))
( 4) aber ich hätt’ mich bei der Zensurengebung,
( 5) ich hab’ so ne Collage gemacht,

(I/1) Ja.

( 6) so aufgeregt, dat gibt’s überhaupt nich’.

(I/2) Hättest oder hast?

( 7) Hab’ ich mich.
( 8) Ich hab’ mich !!so!! aufgeregt darüber (…), !!nein,!! gibt’s nich’.

(l/3) Warum? Erklär ma!

( 9)  Ja, weil/(…) da war die Aufgabe inner Collage „Krieg und Frieden“.
(10)  Und da ging es jetzt darum, also man mußte erst mal nen Triptychon, dat is’ ja son dreigeteiltes Stück, und äh nen Zitat von Guernica mußte da drauf sein, (…) entweder das Pferd oder der Krieger oder irgendwas mußte da drauf.

(I/4) Das galt für alle?

(11) Das galt für alle.
(12) Und jetzt sollten wir dat irgendwie umsetzen.
(13) Man sollte aber en aktuellen, wenn’s ging, en aktuellen Bezug bringen.
(14) Also dann haben wir uns überlegt, also wir war’ne Gruppe von drei Leuten, und wir haben uns überlegt, äh auf Falkland-Inseln nich’ nur auf die . äh toten Menschen undsoweiter da hinzuweisen, sondern auch auf die zerstörte Natur undsoweiter, die dabei ja nie beachtet wird.
(15) Wenn Krieg is’, is’ Krieg, dann interessiert dat ja keinen.

(I/5) Mhm.

(16) Hatten wir uns als Zielsetzung gemacht.
(17) Und jetzt war’n wir soweit,
(18) wir hatten als einzige Gruppe so fein gearbeitet, also alles mit richtiger Perspektive und so, dat mußte/ja okay (…) vielleicht ist./liegt/liegt dat an mir.
(19) Ich kann dat nich’ haben, wenn dat alles so zusammengewurschtelt is’ und keine Perspektive hat.
(20) Dat hab’ ich irgendwie/muß dat sein.
(21) Jedenfalls hab’ ich dann äh/haben wir dann so mit vielen kleinen Sachen gearbeitet, eben den Rand mit blauer äh Spritz/also aus der Dose gespritzt, da mit dem blauen Himmel und auch richtig so dreidimensional hin 1…).
(22) Jetzt war die Mitte noch leer.
(23) Dann war jetzt Anfang Juni.
(24) Ja, wir hatten gedacht, wir hätten bis zum Ende/kurz vor/also ein Tag oder
(25) Ja, und dann kam unserer Lehrerin, sagte:
(26) „Ja, 30. Juni muss abgegeben werden.“
(27) „Ja, Okay.“
(28) Haben wir gesagt:
(29) „Ja, wenn wir einmal oder zweimal nachmittags machen, dann …“
(30) also freiwillig jetzt schon, auf freiwilliger Basis,
(32) (haben wir gesagt), „dann schaffen wir das.“
(33) Da war auch/da hab’ ich dat einmal nachmittags gemacht, weil ich ja Klausuren in Kunst schreib’, und da hab’ ich auch mal nachmittags anderthalb Stunden selber noch mal gemacht, weil ich ja da in der Stunde fehlte, weil ich Klausur schrieb.
(34) Und äh da auch weitergemacht,
(35) aber die Mitte war jetzt eben leer.
(36) Und auf einmal jetzt, dat war Mitte Juni, ja dann hieß es auf einmal, kam unsere Lehrerin an:
(37) „Ja, ich hab’ keine Zeit. Am 23. Juni muß jetzt die Arbeit fertig sein.“
(38) War klar, dat konnt’ natürlich nich’ fertig werden.
(39) Ja, . haben wir noch Tohuwabohu.
(40) Da mußte auch noch ‘ne schriftliche Reflexion gemacht werden.
(41) Ja, auch noch.
(42) Hab’n wir . äh noch einem aus unserer Gruppe, dem Mädchen gegeben, weil wir vorher schon immer uns so gestritten haben.
(43) Weil wenn man zu dritt is’, dann versucht man ja immer äh ungefähr einen Kompromiß, aber wenn dann irgendwat nich’/dann funktionierte dat nich’.
(44) Jedenfalls dat Mädchen hat dat gemacht.
(45) Ja, und jetzt war – wann war dat – vorgestern ja Zensuren für die Collage.
(46) Ja, die Collage erst ma’ keine Fehler drin.
(47) Okay, dat is’ vielleicht, die Lehrerin jetzt gesagt, keine Fehler drin, auch gut, gemacht hier.

(I/6) Also die Mitte war immer noch frei?

(48) Die Mitte war frei, ja.
(49) Haben wir ja nich’ geschafft.
(50) Äh, is’ zwar die Mitte frei, aber ja dat war eben wegen Zeitmangel.
(51) Und die Collage is’ so an sich sehr gut, war alles richtig und so, keine Fehler, auch der Guernica-Zitat war gut integriert (((Geräusche))) gut integriert.
(52) Und ja die schriftliche Reflexion is’ auch alles drin gewesen.
(53) Ja aber: „In der schriftlichen Reflexion sind keine Fachausdrücke gebraucht worden, und deswegen kann ich das Ganze nur ‘Zwei’ nennen.“
(54) Also wie ich dat gehört hab’, ich wär’/ . . dat/dat war einfach.
(55) Also fachlich, also fachlich an sich, was drin sein sollte, war drin, bloß eben nich’ mit den Fachausdrücken.
(56) Ich mein, okay, man sollte ja immer Fachausdrücke anwenden, aber wenn nich’, dann nich’.
(57) Ich mein, besser man kann es erklären, als daß man/ . ich mein, is’ ja viel wichtiger, dat erklären zu können (…).

(I/7) Ja, sie hätte ja sagen können: „Versucht ja vielleicht noch mal nachher.   Ihr wisst ja…“ oder? Ne?

(58) Nee, dat kennt die nich’
(59) Ja, und darüber Hab’ ich mich dann so aufgeregt.

(I/8) Mhm, auch vor den anderen oder mehr so innerlich?

(60) Ja mehr so, ja mehr/die Leute von meiner Gruppe, die/die haben sich ja in dem Sinne/alle von meiner Gruppe haben sich aufgeregt über sowat, ne.
(61) So’ne Begrüßung zu geben, also weil da keine (…) fachliche  . Sprache drin war, dafür so’ne/
(62) Also ich mein jetzt, „Zwei“ is’ ja vielleicht keine schlechte Zensur, aber ich mein, ( ) so’ne Zensur dafür runterzudrücken.
(63) Wobei die Collage eben wirklich, . also is’ vielleicht jetzt subjektiv, meiner Meinung nach die beste von allen war, weil wirklich die meiste wirklich Kleinarbeit drinsteckte.
(64) . Deswegen hab’ ich mich da so drüber aufgeregt über. (65) . Versteh’ ich dann nich’.

(l/9) Aber ihr sagen tust du es dann nich’?

(66) Ich wollte dat aufschreiben, ich hab’ dat sogar aufgeschrieben alles, auf vier so DIN-A-4 Seiten hab’ ich mich voll ausgelassen.
(67) ((Lachen-)) Aber ich hab’ gesagt:
(68) „Lieber nich’, noch hab’ ich vielleicht bei der zwei Jahre Kunst. Kann ich nicht riskieren.“ ((-Lachen))

(l/10) Aha.

(69) Ich hatte dat schon angefangen.
(70) Ich wollte dat auch erst noch mit Schreibmaschine schreiben und der/zu der schriftlichen Reflexion dabeifügen, aber hab’ ich dann doch nich’ gemacht.
(71) Lieber nich’.
(72) ((Leise)) Is’ dann immer dat Problem.
(73) Is’ die Angst vor’m Lehrer, die dann doch durchgreift.

Paraphrasierende Ablaufbeschreibung

Das Beispiel (s12) besteht aus drei Abschnitten, nämlich einer Ankündigung in den Segmenten (s1) bis (s8), einer Erzählung in den Segmenten (s9) bis (s57) und einem Nachfrageteil in den Segmenten (s57) bis (s73). Die Analyse wird sich auf die beiden letzten Abschnitte konzentrieren, in denen der Schüler seine Erfahrungen im Umgang mit den Widersprüchlichkeiten schulischer Handlungsmuster darstellt. Im ersten Abschnitt, der im Wesentlichen der Kontextualisierung dient, deutet der Sprecher eine selbsterlebte Geschichte an, um damit eine Erzählung anzukündigen. Das Besondere der Geschichte liegt in ihrer Aktualität sowie vor allem in der (aufregenden) Erlebnisqualität für den Schüler. Aus diesem Grund elizitiert die Bitte der Interviewerin in Segment (I/3): „Warum? Erklär ma’!“ eine ungewöhnlich lange Erzählung.

Abschnitt II: (s9) – (s57)
Wir haben in Abschnitt II eine spontane Stegreiferzählung vorliegen, die weitgehend den Kriterien für selbsterlebte Geschichten, die in §3.1 entwickelt wurden, entspricht. Eine Ausnahme bildet das weiter unten zu behandelnde Verhältnis von Komplikation und Pointe der Geschichte, das einen Bruch aufweist. Die Geschichte wird eindeutig aus Aktantensicht erzählt und verdeutlicht klar die subjektive Erlebnisperspektive des Erzählers. Insgesamt ist die Erzählung sehr stark an der Chronologie des realen Ereignisverlaufs orientiert, der sehr ausführlich und ohne, Fokussierung auf die Pointe der Geschichte wiedergegeben wird. Indiz hierfür ist die Darstellung auch der Ereignisse, die für die Pointe ohne Relevanz sind. So schildert der Erzähler alle Schritte des Aufgabe-Lösungs-Musters, beginnend mit der Aufgabenstellung durch die Lehrerin über den Lösungsversuch der Schüler bis zur Beurteilung durch die Lehrerin. In dieser spontanen, d.h. weitgehend ungeplanten und unreflektierten, Erzählweise sind die Gründe für die Spezifika dieser Erzählung zu suchen, u.a. für den o.a. Bruch.

Die Erzählung beginnt in den Segmenten (s9) bis (s13) mit der Etablierung eines Erzählraums zur Orientierung des Hörers. Durch die Wiedergabe und Erläuterung einer Aufgabenstellung wird ein Erzählraum etabliert, der aus den zum Aufgabe-Lösungs-Muster gehörenden Handlungselementen besteht. Die Wiedergabe der Ereigniskette setzt in Segment (s14) mit der ausführlichen Darstellung des zweiten Musterschritts, der Lösungsversuche der Schüler, ein. In den Segmenten (s14) bis (s21) schildert der Schüler zunächst die Lösungsidee seiner Arbeitsgruppe sowie deren technische Realisierung.

Es folgt in den Segmenten (s22) bis (s44) der Komplikationsteil der Erzählung, bestehend aus der Wiedergabe mehrerer unerwarteter Ereignisse. Die Lehrerin teilt den Schülern zweimal eine Terminverkürzung für die Abgabe ihrer Arbeiten mit, wodurch deren Fertigstellung gefährdet wird. In beiden Fällen reagieren die Schüler mit neuen Ausführungsplänen, die zusätzliche, freiwillige Arbeitstermine sowie eine stärkere Arbeitsteilung vorsehen. Die Darstellung der Komplikation erfolgt szenisch-vorführend, indem beispielsweise die Mitteilungen der Lehrerin in wörtlicher Rede wiedergegeben werden. Des Weiteren werden die durch die Terminverkürzung aufgeworfenen Probleme für die Schüler detailliert dargestellt. Der ausführliche Komplikationsteil führt hörerseitig zu der Erwartung, dass die Auflösung oder Pointe der Geschichte in Zusammenhang mit den Terminverkürzungen steht. Diese Erwartung wird jedoch im folgenden Erzählteil enttäuscht.

Innerhalb der Ereigniswiedergabe gelangt der Sprecher mit den Segmenten (s45) bis (s53) beim letzten Musterschritt an, der Beurteilung der Schülerlösungen durch die Lehrerin. Im vorliegenden Fall waren die Arbeiten zum Zweck der Notenfindungen angefertigt worden, so dass dem letzten Musterelement eine besondere Bedeutung zukommt. Nach einer zeitlichen Orientierung („vorgestern“) in Segment (s45), die noch einmal die Aktualität der Geschichte unterstreicht, beginnt Hans mit einer indirekten Wiedergabe des Urteils der Lehrerin. Dabei wird er durch eine Interviewfrage nach dem Fertigstellungsgrad der Arbeit unterbrochen, die zeigt, dass auch die Interviewerin die folgende Pointe in diesem Zusammenhang erwartet. Die knappe Antwort in den Segmenten (s48) bis (s50) widerlegt diese Erwartung jedoch. Denn die aus der Terminverkürzung resultierende Unvollständigkeit der abgelieferten Lösung ist für den weiteren Fortgang der Geschichte ohne Relevanz. Es ist im Gegenteil so, dass die Arbeit von der Lehrerin als fehlerfrei beurteilt wird und die Terminverkürzung insofern ohne nachteilige Auswirkungen auf die Beurteilung bleibt. Die in Segment (s53) wiedergegebene Pointe liegt vielmehr in dem benoteten Urteil der Lehrerin selbst, das der Schüler als ungerecht, weil widersprüchlich, empfindet. Die Pointe steht also in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der ausführlich dargestellten Komplikation. Um die Bedeutung der Benotung für die Erzählung zu unterstreichen, wird sie

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in direkter Rede wiedergegeben. Mit der Bekanntgabe der Pointe endet zugleich die Wiedergabe der Ereigniskette.

In den folgenden Segmenten (s54) bis (s57) verdeutlicht Hans in erzählspezifischer, emphatischer Weise seine subjektive Erlebnisperspektive, die durch Erregung und Unverständnis über die empfundene Ungerechtigkeit gekennzeichnet ist. In dieser Haltung wird er durch die Interviewerin in Segment (I/7) unterstützt. In Segment (s59) schließt der Sprecher seine Erzählung ab, indem er implizit die Interviewfrage aus Segment (I/3) als beantwortet erklärt.

Abschnitt III: (s60) – (s73)
Der letzte Abschnitt enthält einen Nachfrageteil, in dem die Interviewerin zweimal nach den Reaktionen des Schülers auf die empfundene Ungerechtigkeit fragt. Auf die erste Frage in Segment (I/8) antwortet er ausweichend mit einer repetetiven Darstellung seiner Empörung und Erregung. Erst auf die Nachfrage in Segment (I/9) schildert Hans seine Reaktionen, die sich auf das Niederschreiben seiner Überlegungen beschränken. Auf eine ursprünglich geplante Auseinandersetzung mit der Lehrerin über die Benotung verzichtet er aus strategischen Gründen, um die Lehrerin nicht zu verärgern. Er befürchtet für den Fall negative Konsequenzen.

Rekonstruktion des Aktantenwissens in (B12): die Verarbeitung eines aktuellen Unterrichtserlebnisses

Wir haben in Beispiel (B12) den seltenen Fall einer spontanen Erzählung zum Thema Schule und Unterricht vorliegen. Anders als bei den meisten anderen Erzählungen zu diesem Thema handelt es sich nicht um eine für das Interview funktionale Erzählung einer länger zurückliegenden Geschichte, sondern um die Wiedergabe eines aktuellen Geschehens, dessen Ende noch nicht oder gerade erst erreicht ist. Die paraphrasierende Ablaufbeschreibung hat gezeigt, dass die Erzählung den Kriterien für spontane Stegreiferzählungen entspricht, was sich u.a. in der deutlich erkennbaren Erregung des Sprechers sowie der emphatischen Darstellung seiner subjektiven Erlebnisperspektive äußert. Wir können daher davon ausgehen, dass der Erzählung neben ihrer intendierten Funktion für das Interview auch eine erhebliche Entlastungsfunktion (vgl. hierzu §3.1.2, Verschiedene Funktionen des Erzählens) für den Sprecher zukommt. Denn das entscheidende Ereignis der ungerechten Benotung liegt nur zwei Tage vor dem Interview, so dass sich der Sprecher mitten in einem Verarbeitungsprozess dieser Ereignisse befindet. Innerhalb dieses Verarbeitungsprozesses hat die Erzählung die Funktion, zur Aneignung der Geschichte durch den Erzähler beizutragen. Aus diesem Grund können wir davon ausgehen, dass die Ereignisse weitgehend unreflektiert, d.h. entsprechend ihrer aktuellen Erlebnisperspektive, wiedergegeben werden.

Die Erzählung in Beispiel (B12) ermöglicht die Rekonstruktion des Aktantenwissens anhand von Verbalisationen, die aus dem unmittelbaren zeitlichen Kontext eines wichtigen schulischen Ereignisses stammen. Ich halte es für sinnvoll, solche unmittelbaren Äußerungen, die sich auf ein singuläres Ereignis beziehen, ebenfalls für die Rekonstruktion des Aktantenwissens heranzuziehen, um der Frage nachzugehen, welches Wissen unter Handlungsdruck zur Anwendung kommt bzw. gebildet wird. Es geht bei der folgenden Rekonstruktion einerseits um das Wissen, das im Rahmen der Handlungsplanung (bspw. Situationseinschätzung, Entscheidungsfindung bei Ziel- oder sonstigen Konflikten, vgl. auch §1.2.3, Die Diskursanalyse) benutzt wird, und andererseits um das Wissen, das über die Ereignisse ausgebildet wird.

Ich werde die Wissensrekonstruktion mit einer knappen Analyse des Objekts des Wissens beginnen, i.e. der Handlungskontext, auf den sich die Erzählung bezieht. Die erzählten Ereignisse sind Bestandteil einer spezifischen Form des Aufgabe-Lösungs-Musters, dessen Widersprüchlichkeit (vgl. §2.2.3) sich in unserem Fall in einem spezifischen Bruch manifestiert. Das Muster wird von der Lehrerin zu Prüfungszwecken eingesetzt, weil sie die Lösungsergebnisse als Legitimation ihrer Notengebung benötigt. Ihr Interesse an den Ergebnissen ist somit ein spezifisch institutionelles. Auf der anderen Seite steht das Interesse der Schüler, eine möglichst gute Lösung zu entwickeln, sei es, weil sie entweder eine gute Note erzielen wollen oder weil sie zumindest partiell Interesse an der Aufgabenstellung haben. Die spezifische Bruchstelle dieser Form des Aufgabe-Lösungs-Musters liegt nun in der Beurteilung durch den Lehrer. Mangels objektiver Beurteilungskriterien, die möglicherweise in der praktischen Bewährung der gefundenen Lösung liegen könnten, muss der Lehrer auf andere, institutionell angemessene, zumeist formalisierte Kriterien zurückgreifen. Zum Bruch bzw. Konflikt zwischen Lehrer und Schüler kommt es dann, wenn die Fremdbeurteilung durch den Lehrer nicht mit der Selbsteinschätzung des Schülers übereinstimmt. Zu diesem Fall, in dem die Widersprüchlichkeit des Aufgabe-Lösungs-Musters manifest wird, ist es in unserem Beispiel gekommen.

Bei der Rekonstruktion des Gewussten zu diesem Objektbereich werde ich mich zunächst auf das beschränken, was der Schüler über die ungerechte Beurteilung weiß. Die Hintergrundfolie, auf der Hans die Beurteilung durch die Lehrerin sieht, ist die zumindest partielle Identifizierung des Schülers mit der Aufgabenstellung, die sich u.a. in seiner originären Lösungsidee (Thematisierung des Falklandkrieges) und seinem Engagement bei der Umsetzung (freiwillige Zusatzarbeit) äußert. Die Ursache für die ungerechte Benotung sieht Hans bei der Lehrerin, der er vorhält, falsche Beurteilungskriterien anzuwenden. Er kritisiert jedoch lediglich den Beurteilungsmaßstab, nicht aber die Benotung an sich. Auf diese Weise personalisiert er den grundlegenden Widerspruch des Aufgabe-Lösungs-Musters, indem er der Lehrerin die Schuld für ungerechte Noten zuweist, ohne die objektive Unmöglichkeit gerechter Noten zu sehen. Hierin dokumentiert sich einmal mehr das für das Institutionswissen 1. und 2. Stufe typische, weil systematische, Nicht-Wissen.

Zugleich ist das Gewusste ein Dokument dafür, wie sich die Widersprüchlichkeit des Musters im Wissen selbst niederschlägt. Betrachtet man einmal die Kritik des Schülers an dem Urteil in den Segmenten (s54) bis (s57), so stellt man eine immanente Widersprüchlichkeit fest, die sich in einer gleichzeitigen Anerkennung und Ablehnung der angewandten Kriterien äußert. Einerseits bestätigt er die Maßstäbe der Lehrerin, die ihre Benotung mit einem Mangel an Fachtermini begründet, wenn er sagt, dass „man (…) Immer Fachausdrücke anwenden (sollte)“ (s56). Andererseits hält er es aber für „besser, man kann es erklären“ (s57). Dieser von Hans nicht bemerkte Widerspruch ist eine Konsequenz seines systematischen Nicht-Wissens.

Ein Dilemma der Schüler/innen: Sich-Wehren oder Schweigen

Abschließend möchte ich der Frage nachgehen, wie der Schüler auf die erfahrene Ungerechtigkeit praktisch reagiert, um einen weiteren Teil des Wissens zu rekonstruieren, das in dem widersprüchlichen Handlungsprozess zur Anwendung kommt. Die Wiedergabe seiner konkreten Handlungen in den Segmenten (s66) bis (s73) des Nachfrageteils erlauben die Rekonstruktion eines Ziel- bzw. Maximenkonflikts. Die bereits begonnene Niederschrift seiner Meinung über die Benotung, die er der Lehrerin geben wollte, geht auf etwa folgende Maxime zurück: „Wehre Dich gegen Ungerechtigkeiten!“ Der Handlungsabbruch, d.h. die Entscheidung, der Lehrerin die Niederschrift nicht zu geben, ist die Konsequenz einer anderen schulischen Maxime, die gegen die ursprüngliche Handlungsabsicht spricht: „Verärgere den Lehrer nicht!“

Hierin offenbart sich ein Dilemma, von dem die Schüler in ihrem Alltag permanent betroffen sind: der Umgang mit den erfahrenen Widersprüchlichkeiten. Unabhängig davon, ob es sich dabei um ungerechte Zensuren, um langweiligen Unterricht, um schlechte Lehrer oder um unzulängliche Beratungen handelt, stehen die Schüler vor dem Zielkonflikt, sich entweder gegen die Widersprüche zur Wehr zu setzen und aufgrund der Zensurenmacht der Lehrer Benachteiligungen zu befürchten, oder die Widersprüche ohne Gegenwehr zu ertragen. Diesen Maximenkonflikt hat Hans als systematisches Wissen gespeichert, wie die Segmente (s72) und (s73) zeigen:

(72) „Is’ dann immer dat Problem.

(73) Is’ die Angst vorm Lehrer, die dann doch durchgreift.“

Die Tatsache, dass sich der Schüler in diesem Konflikt für die zweite Maxime („Verärgere den Lehrer nicht!“) entscheidet, zeigt, welchen Einfluss die (berechtigte oder unberechtigte) Angst der Schüler vor schlechten Zensuren auf das Verhältnis von Lehrern und Schülern hat. Es kommt zu dem von Ehlich (1980) beschriebenen Vertrauensverlust, der sich in diesem Fall in der Vermeidung einer Auseinandersetzung mit der Lehrerin äußert.

Mit freundlicher Genehmigung des Peter Lang Verlages
http://www.peterlang.com/index.cfm?vID=41422&vLang=D&vHR=1&vUR=2&vUUR=1

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