Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Schüler: reden durcheinander.

Liest man nun das Protokoll also unter Absehung seines tatsächlichen Kontextes und seiner Sprecher als eine Aufzeichnung irgendeiner sozialen Praxis, lässt sich der hier aufgezeichnete Wortlaut als Wiedergabe eines akustischen Eindrucks verstehen. Wohlgeformt ließe sich beispielsweise an den Kontext eines turbulenten Geschehens, wie es auf einem Marktplatz üblich ist, denken. Auf einem solchen Platz könnte ein Wochenmarkt stattfinden. Es scheint geredet zu werden und sich also um den Vollzug von Sprechakten zu handeln. Das Durcheinander lässt auf eine Vielzahl von Sprechern und Sprechakten schließen.
Der durch die Lesart eines Marktplatzgeschehens nahegelegte Trubel des akustischen Eindrucks zeichnet sich interaktionsbezogen durch eine komplexe Gleichzeitigkeit verschiedenartiger Handlungsformen aus. Während der Zeit des Markthaltens sind vielerlei unterschiedliche Menschen damit beschäftigt, Waren zu kaufen oder zu verkaufen. Parallel handelt es sich dabei auch um einen sozialen Knotenpunkt, an dem sich etwa Nachbarn treffen oder Freunde losen Kontakt pflegen, um etwa Informationen auszutauschen. Dies kann ganz gezielt verabredet werden oder ungeplant und zufällig entstehen. Die Interaktionsformen können ebenfalls variieren: von der direkten „face to face“ ­Kommunikation, dem Handel zwischen Käufer und Verkäufer, dem nachbarschaftlichen Plaudern zum Zwecke des Informationsaustausches bzw. der Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen, bis hin zu einfachen Formen der Arbeitsteilung auf Seiten der Käufer oder der Verkäufer, die ihr Angebot durch das an verschiedenen Orten postierte Personal optimal zu veräußern suchen.
Der Eindruck eines Durcheinanders verschiedener Sprechakte entsteht für den Beobachter vor allem durch die hohe Unübersichtlichkeit, den Grad von Komplexität der sozialen Bezüge, bei gleichzeitigem Mangel, nicht alles auf einmal überblicken zu können. Dabei wäre, das Geschehen analytisch gesehen, wahrscheinlich jeder einzelne Interaktionszusammenhang – nonverbaler oder verbaler Art – für sich betrachtet wohlstrukturiert und sequenziert. Insgesamt, als eine vielschichtige Einheit, betrachtet, ist das Marktgeschehen eine zeitliche und räumliche Ordnung, deren Grenzen zum Außen jedoch fließend sind. Das Markthalten ist zwar an eine gewisse maximale Höchstdauer gebunden, doch bauen Einige ihre Stände früher als Andere auf oder ab. Zudem herrscht zur übrigen Stadt oder zum Dorf ein Kommen und Gehen der Akteure, das verschiedenartiger zeitlicher Taktung unterliegt. Auch können Individuen oder Gruppen hinzukommen, während andere den Ort wiederum verlassen. Der Markplatz ist Teil eines öffentlichen Raumes, der aber nicht rigide und voll­ständig gegenüber privaten Interaktionen und Netzwerken abgegrenzt ist.

Schüler: reden durcheinander.

Zieht man nun in zunächst ganz allgemeiner Weise, also ohne an dieser Stelle bereits den konkreten fallspezifischen Kontext zu thematisieren, Wissen über den allgemeinen institutionellen Rahmen des protokollierten Geschehens, die Interaktionsform Unterricht als solcher, also auch die Information, dass es sich bei den Sprechern des Sprechakts um Schüler handelt hinzu, wird deutlich, dass sich einige Dimensionen der Marktplatzlesart auf die schulische Situation durchaus übertragen lassen. Das Klassenzimmer ist ebenso wie der Marktplatz ein öffentlicher Raum, der zu bestimmten Zeiten Privatheit und selbstgewählte, netzwerkartige Interaktionen seitens der Schüler ermöglicht. Die Interaktionen sind ebenfalls durch Vielgestaltigkeit zeitlich und räumlich ausgedehnter Formen ausgezeichnet, die aufeinander abgestimmt und in sich wohlstrukturiert, aufgrund ihres gleichzeitigen Prozessierens jedoch von Beobachtern weder vollständig noch simultan zu erfassen sind.
Das aufgezeichnete Geschehen scheint in seiner Gesamtheit bisher nicht auf etwas Gemeinsames konzentriert zu sein, sondern hat eher den Charakter einer lockeren, zerstreuten Zusammenkunft. Mit der Frage konfrontiert, wann denn eine solche Situation stattfinden könne, ist der Interpretierende geneigt anzunehmen, der Unterricht habe wohl noch nicht begonnen, denn sonst ließe sich eine rigider systematisierte Ordnung von Interaktionen erwarten. Andernfalls würde man es wahrscheinlich als Grenzfall unterrichtlicher Kommunikation auffassen. Vielleicht hat der Lehrer aber auch den Klassenraum für einen Moment verlassen. Oder der Unterricht befindet sich in einer Phase, in der die Schüler in Gruppen oder zu zweit arbeiten, was ein Durcheinander-Reden erklärte.
Für eine Rekonstruktion unterrichtsspezifischer Praxis – und hier nun in ganz allgemeiner Weise, jenseits des zu untersuchenden besonderen Falles interkulturellen Unterrichts – ist an dieser Stelle interessant festzuhalten, dass die sich in den Interpretationen ausdrückenden sozialen Erwartungen an Unterricht an einen verabredeten oder instruierten, aber stets transparenten Grad sozialer Ordnung von Interaktionen gekoppelt sind. Dies markiert eine deutliche Differenz zwischen schulischer Situation und Wochenmarktsituation, die zwar äquivalent darin sind, sich durch eine, wie beschrieben, komplexe Gleichzeitigkeit in sich organisierter, doch unüberschaubarer Interaktionen auszuzeichnen, aber sich in den Erwartungen an Ordnung immens unterscheiden. Eine Unüberschaubarkeit lässt sich sinnlogisch als Unterricht erst dann verstehen, wenn sie sich entweder mit geordneten Unterrichtsformen, etwa Gruppenarbeit, vermitteln lässt, oder als Unterbrechung des Unterrichts – der Lehrer verlässt den Raum – gelesen werden kann.
Das heißt selbstverständlich aber nicht, gleichsam davon ausgehen zu können, dass mit Beginn des Unterrichtsprozesses nun alle nicht im engeren Sinne auf Unterricht bezogenen Kommunikations- und lnteraktionsstrukturen aufhören, für die an ihm Beteiligten verbindlich zu sein. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall, wie auch ethnografische Untersuchungen zum Unterricht es immer wieder nahelegen (vgl. Breidenstein 2006). Im Sinne einer Vorder- und Hinterbühne des sozialen Geschehens kann die im Unterricht stattfindende Kommunikation mindestens in zwei Kontexten kodiert werden: Zum einen in demjenigen des quasi offiziellen Unterrichts und zum anderen im dazu komplementären Kontext der peergroup (1) (vgl. Breidenstein/Kelle 2002). Jenseits subjektiver Deutungen finden diese Kodierkontexte ihre strukturlogische Entsprechung in den zwei Regelkreisen sozialer Interaktionen, den Regeln der peergroups, die, für die Lehrperson meist im Verborgenen liegend, verbindlich bleiben und denjenigen des offiziellen Unterrichtsgeschehens (2). Darüber hinaus ermöglicht dies geradezu ein Spiel mit den kommunikativen Grenzen beider Sphären.

Schüler: reden durcheinander.
Lm: An diesen Tisch setzen sich bitte die türkischstämmigen…

Verlässt der Leser des Protokolls wieder den Kontext Unterricht und setzt seine kontextfreie Lektüre fort, so lässt sich der nun anschließende Sprechakt, als eine gegenstandsbezogene räumliche Verortung verstehen. Das Demonstrativpronomen zeigt an, dass der Gegenstand den Interagierenden entweder bekannt ist, oder gestisch auf ihn hingewiesen wird. Ein Tisch als solcher kann mannigfaltig brauchbar sein, entweder zur Arbeit nutzen oder als Treffpunkt dienen, eine Gruppe kann sich um ihn zu einem gemeinsamen Essen oder Spiel versammeln. Durch die Pluralform des Verbs lässt sich ausschließen, dass ein Einzelner gemeint meint sein könnte. Mit der räumlichen Verortung ist ebenfalls eine soziale Verordnung verknüpft. Der Tisch ordnet nämlich durch seine jeweilige geometrische Form die Sich-an-ihn-Setzenden sozial und räumlich und zwar nicht nur in der horizontalen sondern auch in der vertikalen Achse.
In der Vertikalen gliedert er den Körper der Person, die sich an ihn setzt, in einen öffentlichen, oberen, und einen verborgenen, unteren Teil, wodurch Interaktionen begrenzt möglich bzw. unmöglich werden, was sich auch in sozialen Regeln und gesellschaftlichen Wertschätzungen ausdrückt. Insofern es sich nicht um einen Glastisch handelt, ist alles, was sich unter der Tischplatte abspielt, den Blicken der an ihm Sitzenden entzogen. Wer umgekehrt einen Blick unter den Tisch wirft, macht sich die Situation zu eigen, möchte neugierig erfahren, was ihm sonst verborgen ist. Damit entzieht er sich seinerseits aber den Blicken der Anderen. Wenn auch etwa andererseits zu festlichen Gelegenheiten auf dem Tisch getanzt wird, werden damit die für den sozialen Umgang mit ihm üblicherweise geltenden Regeln für diesen Moment außer Kraft gesetzt, wodurch das Tanzen nicht nur den Charakter einer Entgrenzung erhält, sondern dies auch umgekehrt die Verbindlichkeit der Regel für die anderen Momente geradezu bestätigt. Es lässt sich sagen, eine Person wird, indem sie sich an einen Tisch setzt, durch denselben in einen sozial erwünschten und einen unerwünschten, nur in Ausnahmefällen zulässigen Teil seines Körpers gegliedert. Wie etwa auch das Ablegen der Füße und Beine auf den Tisch als Kennzeichen einer besonders lässigen Art gelesen wird. Lässig wirkt dabei die lockere Handhabung der Konventionsregel.
Die soziale Ordnung, die sich über die räumliche Horizontale herstellt ist, eng mit der Struktur durch sie möglicher und unmöglicher Blicke der Am-Tisch­sitzenden, sowie ihrer körperlichen Nähe zueinander verbunden. Hierbei entscheidend ist die geometrische Form, die das Soziale strukturiert. Als Runder Tisch steht sie sprichwörtlich für die Gemeinschaft Gleicher, historisch als Tafelrunde, modern als demokratisches Forum, unterschiedliche Interessen diskursiv auszuhandeln. In seiner rechteckigen Form kann der Tisch dagegen familiäre Hierarchien symbolisieren: mit dem männlichen Familienoberhaupt an der kurzen Seite sitzend. Die räumliche Nähe zum Patriarchen lässt in einem derartigen Kontext Schlüsse über das Vertrauensverhältnis der Familienmitglieder zu ihm zu, das sich symbolisch durch den Platz innerhalb der Tischordnung manifestiert. Die rechteckige Form lässt zudem auch an Vertragspartner denken, die sich gruppenweise gegenüber sitzen, wobei die kurzen Seiten wahrscheinlich entweder frei blieben oder für neutrale Beobachter, Stenotypisten etc. reserviert wären.
Auch in diesen sozialen Situationen ist, wiederum diejenige Struktur von Bedeutung, die über mögliche und unmögliche Blicke der Akteure entscheidet: Der Patriarch behält alle im Auge, der direkte Blickkontakt zwischen den Vertragspartnern könnte eine Begegnung auf gleicher Augenhöhe oder aber die Konfrontation, sich buchstäblich die Stirn zu bieten, ermöglichen. Ebenso kann der freie Raum auf dem Tisch zwischen ihnen als Ausdruck dafür gelesen werden, nichts zu verbergen. Eben alles auf den Tisch – vor den Augen aller Anwesenden – zu legen. Wie etwa auch beim Pokerspiel, final alle Karten sehen zu lassen (3).

Schüler: reden durcheinander.
Lm: An diesen Tisch setzen sich bitte die türkischstämmigen…

Der weitere Verlauf des Wortlauts verdeutlicht nun den Gesamtcharakter des Sprechakts als Bitte. Dies lässt zunächst ganz allgemein an eine die Kommunikation bestimmende Konvention von Höflichkeit denken. Der Sprechakt des Bittens ist darüber hinaus aber auch an ein klares performatives Verhältnis zwischen den Interagierenden gebunden. Der Gebetene kann zum einen die Bitte nur um den Preis abschlagen, das Risiko in Kauf zu nehmen, vom Bittenden oder etwaigen Dritten als unhöflich eingeschätzt zu werden. Wie zum anderen der Bittende seine Bitte an jemanden richtet, gerade weil es nicht in seiner Macht steht, das, worum er bittet, selbst zu tun. Der Sprechakt einer Bitte rückt die Akteure in eine reziproke Beziehung zueinander.
Der spezifisch schulische Kontext im Rahmen von Unterricht wirft darauf nun ein besonderes Licht, denn es betrifft die Interaktion zwischen Lehrer(n) und Schüler(n) in ganz grundsätzlicher Weise. Zunächst ist nämlich davon auszugehen, dass es sich bei Lehrer-Schüler-Interaktionen um asymmetrische Beziehungen handelt. Der Lehrer hat gegenüber den Schülern im Normalfall einen Wissensvorsprung, er verfügt über dasjenige Expertenwissen, welches jene erst erlangen sollen. Zudem muss er in Ausübung seiner Profession die Funktionen ausführen, welche die Gesellschaft der Institution Schule vorgibt: Er bewertet, beurteilt, selektiert die Schüler. Die Bitte, die der Lehrer hier ausspricht, zeigt aber demgegenüber an, dass dennoch nicht alles in seiner Macht zu liegen scheint. Die Schüler müssen augenscheinlich gebeten werden, etwas zu tun, was sie von sich aus wahrscheinlich nicht tun würden, aber was umgekehrt erst durch ihre Tätigkeit zu dem werden kann, was es sein soll.
Wird die Bitte mit ihrem Gegenteil – dem Imperativ – maximal kontrastiert, so lässt sich sagen, dass diese sprachliche Form ihren wohlgeformten Kontext nur in deutlich hierarchisch strukturierten Kommunikationsverhältnissen, etwa der Befehlstruktur beim Militär, erhält. Bei aller Asymmetrie schulischer Kommunikationsstrukturen sind wir aber nicht geneigt, ihn für schulische Kontexte in demokratischen Gesellschaften zu akzeptieren. Etwaige Anweisungen und Aufrufe, die Disziplin einzuhalten, werden wir erwarten, jedoch aber keinen Befehl. Andererseits wird aber die Bitte in schulischen Kontexten trotz aller Asymmetrie auch nicht als zynisch eingeschätzt, sondern ihr wird durchaus ein eigenständiger strukturlogischer Sinn eingeräumt. Dieser verweist auf die Eigentümlichkeit des schulischen Arbeitsbündnisses, dass sich im Sinne eines Bildungsversprechens auslegen lässt. Sein Kern: Wenn die Subjekte sich auf die Angebote des Lehrpersonals einlassen, werden sie zu der Bildung gelangen, die ihnen versprochen wird. Die Formulierung der Bitte zeigt, dass Unterricht nicht ohne die beteiligten Bildungssubjekte und eben ihre Bereitschaft, sich auf das pädagogische Angebot, hier vom Lehrer, einzulassen, auskommt (4). Hierin zeigt sich die Eigenstrukturlogik von Bildungsprozessen, die allerdings je fallspezifisch ausgeformt wird. Wobei an dieser Stelle selbstverständlich noch nichts über ein etwaiges fallspezifisches oder gar systematisches Gelingen oder Misslingen des Bündnisses ausgesagt werden kann. Dies könnte erst der weitere Verlauf der Interaktionssequenz zeigen. Der Bitte des Lehrers, soviel ist an dieser Stelle jedoch festzuhalten, entspricht komplementär die Subjektivität der Schüler. Sie ist jedoch stets gerahmt durch den asymmetrischen Kommunikationszusammenhang.

Schüler: reden durcheinander.
Lm: An diesen Tisch setzen sich bitte die türkischstämmigen

Die Adressaten der Bitte werden nun kulturspezifisch identifiziert und zwar hinsichtlich des Kriteriums der Abstammung. Differenzierter betrachtet, handelt es sich um eine nationalethnische Kategorie, die zwei Formen von Zugehörigkeit, nationalstaatliche (türkisch-) und ethnische (-stämmig) miteinander verbindet. Den Formen von Zugehörigkeit entsprechen zweierlei geburtenrechtliche Kriterien, die Staatszugehörigkeit von Personen zu regeln. Innerhalb des ius sanguinis klärt die Staatsangehörigkeit der Eltern bei Geburt ihrer Kinder deren Zugehörigkeit, also die familiale Abstammung. Innerhalb des ius soli ist das entscheidende Kriterium das Staatsgebiet, auf dem das Kind zur Welt gekommen ist, also die Nation. Das Verhältnis zwischen nationaler und ethnischer Zugehörigkeit kann jedoch auch differieren. Beispielsweise gibt es Menschen, die sich zur Ethnie der Kurden zählen, sowohl mit türkischem als auch mit irakischem Pass.
Die Pluralform des Sprechakts lässt darauf schließen, dass Mehrere gebeten werden, sich an einen Tisch zu setzen. Diese werden aber nicht, was durchaus denkbar wäre, als Individuen mit Namen angesprochen, sondern über das Kriterium Zugehörigkeit einer Gruppe zugeordnet. Dabei ist eine Homogenität des Kriteriums unterstellt. Soll der Bitte erfolgreich entsprochen werden, muss den Adressierten deutlich sein, inwieweit sie sich dazuzählen oder gerade nicht dazuzählen können. Eine nicht ganz unproblematische Situation, wie gerade beschrieben, denn individuelle Biografien kultureller Zugehörigkeit lässt ein solches Raster bisher unberücksichtigt: Gehört man dazu und wenn ja, dann auf welche Weise überhaupt?
Zur netzwerkartigen Kommunikationsform zu Beginn der Gesamtsequenz steht die Semantik der Abstammung trotz aller Schwierigkeiten, sie zu definieren, im deutlichen Kontrast. Das mit ihr evozierte Bild des Stammes verweist auf eine subjektiv-willentlicher Einflussnahme entzogene natürliche Ordnung, wie sie beispielsweise in einem Stammbaum abgebildet wird, in dem die Genese einer Familie ihre Darstellung findet. Die dem Stammbaum zugrunde liegende Ordnung verbindet die Mitglieder der Familie und sortiert sie innerhalb der Generationen und klärt die Beziehungen zwischen ihnen. Gegenwart und Vergangenheit sind auf diese Weise miteinander verbunden. Die Identität, des Einzelnen erklärt sich über seine Herkunft und die seiner Vorfahren. Auch der Baumstamm, an den sich denken lässt, verbindet den Ursprung des Baumes, das Erdreich, aus dem er gewachsen ist, mit seinen Gliedern, den Ästen. Über den Stamm gibt der Baum das für seine Existenz lebensnotwendige Wasser weiter. Metaphorisch steht der Baumstamm für eine feste Standfestigkeit während demgegenüber das Netzwerk eher auf eine Struktur loser, lockerer und wählbarer Verbindungen verweist.
Zieht man die anfängliche, gedankenexperimentelle Lesart des Marktplatzes noch einmal hinzu, so zeigt im Gegensatz dazu der schulspezifische Kontext nun kontrastiv, dass zumindest ein Sprecher, der Lehrer, das Wort ergreifen kann, ohne dass es bisher einer vorherigen Einführung (üblicherweise eine gemeinsa­me Begrüßung) bedurfte. Er scheint im vorliegenden Fall allein die Aufmerksamkeit durch seine Anwesenheit und die Tatsache, das Wort ergreifen zu können, auf sich zu ziehen. Während ihn dies einerseits mit einiger Macht in der Interaktion auszeichnet, bricht sie sich andererseits an der Position, in der er sich als Bittender befindet. Es handelt, sich also bei dieser Kommunikationsofferte um eine brüchige Figur.
Die Adressierten der Bitte sind zwar bisher ausschließlich als die Türkischstämmigen bezeichnet und verortet worden. Dies macht aber nur dann Sinn, wenn es auch zumindest eine oder mehrere weitere Ethnien innerhalb der Gesamtgruppe gibt. Mit der Identifizierung geht also strukturell auch eine Differenzierung einher. Die anderen sind bisher nur als unbestimmte Masse ex negativo, also nicht türkischstämmig zu sein, angesprochen.

Schüler: reden durcheinander.
Lm: An diesen Tisch setzen sich bitte die türkischstämmigen…
…Lärm…

Das Protokoll verzeichnet nun einen weiteren akustischen Eindruck, der den Sprechakt begleitet oder aber ihn unterbricht. Das Protokoll ist an dieser Stelle nicht eindeutig. Gegenüber dem vorherigen Eindruck des Durcheinander-Redens scheinen sich hier nun aber weniger geordnete Interaktionen oder Sprechakte identifizieren zu lassen. Es ist sozusagen ein stummer Lärm. Auch lassen sich keine verbal geäußerten Reaktionen der Adressaten auf die vorausgegangene Bitte ermitteln. Es ist aber nicht auszuschließen, dass der Lärm durchaus durch eine nonverbale Reaktion verursacht wird. Verweilt man zunächst in der Sinnlogik eines den Sprechakt begleitenden Lärms, könnte er entstanden sein, weil die Adressierten bereits genau Bescheid wissen und sich nun auf die vom Lehrer erbetene, gewünschte Weise zusammensetzen. Auffällig an dieser Lesart wäre es, zu sehen, dass sie gar nicht erst abwarten, bis der Sprechakt vollzogen und sie ggf. als Personen angesprochen werden, sondern quasi vorauseilend, den Sinn des Sprechakts bereits antizipierend, auf ihn reagieren. Die durch den Sprecher erbetene Tischordnung würde damit interaktionslogisch zumindest in Teilen verbindlich vollzogen; die bereits aufgefächerten Sinndimensionen damit zumindest auf der Ebene, des offiziellen Unterrichts akzeptiert.
Ganz anders stellt sich der Fall dar, wenn man die sinnlogischen Fäden der Lesart, dass es sich beim protokollierten Lärm um eine Unterbrechung des vom Sprecher vollzogenen Sprechaktes handelt, weiterspinnt. Hierdurch erhält der Lärm dann den Charakter eines nonverbalen Protests, wie er beispielsweise für Unmutsäußerungen typisch ist. Interaktionslogisch gesehen würde mit einem zum Ausdruck gebrachten quasi stillen Protest seitens der Gebetenen die Frage aufgeworfen, welche Zwänge im Spiel sind, dass sie ihren Unmut nicht, öffentlich äußern. Eine Antwort kann an dieser Stelle jedoch aufgrund der geringen Informationsdichte des Protokolls nicht gegeben werden.
Beide Reaktionsweisen, die sich durch die Lesarten ergeben haben, müssen sich in praxi nicht unbedingt ausschließen, sondern es ist ebenso denkbar, dass der Bitte entsprochen und dies mit Unmutsäußerungen einhergeht. Endgültig klären kann dies erst der weitere Kontext und Prozessverlauf.

Schüler: reden durcheinander.
Lm: An diesen Tisch setzen sich bitte die türkischstämmigen…
…Lärm…
Lm: …und an diesen Tisch setzen sich bitte nur die russischstämmigen Schülerinnen und Schüler.

Indem nun eine etwas umfangreichere Sequenz herangezogen wird, lässt sich deutlich machen, dass die sprachliche Gestalt der dieser Sequenz vorausgegangenen Bitte, in ihrer sprachlichen Anordnung auf fast identische Weise wiederholt wird. Sowohl die vorherige gegenstandsbezogene räumliche Verortung als auch die kulturspezifische Identifizierung nationalethnischer Zugehörigkeit der Adressaten werden wieder aufgenommen. Dies gibt dem Sprechakt insgesamt den Charakter nicht nur einer stark formalisierten, sondern beinahe formelhaften Redeweise. Die zuvor noch anonymen Adressaten werden nun als Schülerinnen und Schüler benannt und angesprochen. Statt der türkischstämmigen wird jetzt die russischstämmige Schülerschaft gebeten, sich an einen Tisch zu setzen, der wahrscheinlich wiederum gestisch angedeutet wird. Denselben Tisch anzudeuten scheidet wohlgeformt aus, da der spezifizierende Zusatz („nur“) andere Gruppen von Schülern als die russischstämmigen eindeutig ausschließt. Mit diesem Sprechaktteil wird die Differenzierung der Gesamtgruppe in unterschiedliche Ethnien bestätigt und weiter fortgeführt. In Unkenntnis des weiteren Protokollverlaufs lässt sich jedoch an dieser Stelle nicht sagen, ob damit bereits die gesamte Gruppe vollständig aufgeteilt oder erst zwei Gruppierungen eingeteilt worden sind und welchen Sinn dies für den Unterricht haben könnte.
Die Segmentierung zieht aber dessen ungeachtet verschiedene Ordnungsstrukturen nach sich. Es sind zunächst zweierlei Binnenverhältnisse dabei zu unterscheiden: Eine Ordnungsstruktur betrifft das Verhältnis der einzelnen Segmente zueinander, also das Binnenverhältnis der Klasse oder des Kurses insgesamt. Diese sind bisher voneinander anhand des eingeführten Kriteriums nationalethnischer Zugehörigkeit distinkt. Wer türkischstämmig ist, ist nicht russischstämmig und umgekehrt. Untermauert wird dies durch die räumliche Ord­nung verschiedener Tische als voneinander abgegrenzter Orte, wie Nationen auf einer Landkarte. Die andere Ordnungsstruktur bezieht sich auf das Binnenverhältnis innerhalb der Gruppe der türkisch- oder russischstämmigen Schüler. Wer dieser oder jener Gruppe zugehört, ist hinsichtlich der Abstammung identisch mit den Anderen in derselben Gruppe. Sie wird damit homogenisiert.
Auf der Ebene der Kommunikationsordnung schafft also die Segmentierung des Lehrers eine gruppenexterne Differenz gruppeninterner Homogenität. Sobald die Schüler dies im Interaktionsprozess nachvollziehen, sich also auf die Art gruppieren, wie er es sich erbeten hat, ist die Ordnung für das sich anschließende Kommunikationsgeschehen verbindlich in Praxis gesetzt. Die somit über die Gruppeneinteilung vermittelten Ordnungsstrukturen bestimmen fortan, zumindest bis zu ihrem Widerruf, die fortlaufende Kommunikation und das darüber ablaufende immanente Bildungsgeschehen strukturlogisch, da jedweder Sprecher aus der Gruppe fortan nicht mehr bloß als Individuum spricht oder handelt, sondern dies vor allem als Vertreter und Zugehöriger einer distinkten Kultur tut.
Bei aller Differenzierungsleistung, die mit diesen Ordnungsstrukturen einhergeht, bildet die Anrede der Gruppenmitglieder als Schülerinnen und Schüler eine gemeinsame Klammer: Die Einheit der Differenz auf Schulklassenebene. Sie sind damit zunächst wiederum nicht als individuelle Personen angesprochen, sondern in ihrer schulspezifischen Rolle. Die Rollenförmigkeit lässt, sich aber als Kontrast zur Semantik der Abstammung lesen: Während der Begriff Rolle in soziologischer Terminologie, beispielsweise in derjenigen Talcott Par­sons’, an das Erlernen spezifischer Verhaltensanforderungen moderner Gesellschaften, beispielsweise affektive Neutralität und universalistische Orientierung (vgl. Parsons 1968), geknüpft ist, verweist der Begriff der Abstammung demgegenüber auf natürliche, gerade nicht erlernbare Zugehörigkeit. Je nachdem wie rigide er gefasst wird, verschärft sich der Kontrast.
Die Semantik der Abstammung setzt also auch die unter ihrem Kriterium subsummierten Individuen in ein Binnenverhältnis, nämlich in eines zu sich selbst, was sich als dritte Ordnungsstruktur eruieren lässt. Sie sind angesprochen als Abstammende einer Kultur, als Einzelne nur insofern für die Einteilung in Gruppen wichtig, als sie Vertreter eines Allgemeinen, eben der nationalethnischen Abstammung sind, deren Zugehörigkeit ihrer subjektiven Verfügbarkeit entzogen ist. Der Sprechakt thematisiert die Schüler damit aber andererseits jenseits ihrer Rolle, in der sie umgekehrt wiederum angesprochen sind. Das Kriterium Abstammung erfordert, dass sie ja gerade quasi von Natur aus diejenigen sein sollen, als die sie hier benannt werden. Also als diejenigen, die sie jenseits ihrer Rollenzugehörigkeit sind.

Schüler: reden durcheinander.
Lm: An diesen Tisch setzen sich bitte die türkischstämmigen…
…Lärm…
Lm: …und an diesen Tisch setzen sich bitte nur die russischstämmigen Schülerinnen und Schüler.

Nimmt man nun einmal die Unterrichtsminiatur insgesamt in den Blick, so lässt sich deutlich eine sinnlogisch abgeschlossene Teilsequenz einer Arbeitsanweisung eines Lehrers in Form einer Bitte erkennen, die trotz einiger Vermutungen über Schülerinteraktion und -reaktion mit diesen bisher noch unvermittelt blieb, da das Protokoll bis auf den vieldeutigen Lärm keine klar identifizierbaren Reaktionen der Schüler verzeichnet. Als Teil einer didaktischen Instruktion ist sie erheblich formal gehalten, bisher jenseits einer inhaltlichen Ausgestaltung. So lässt, sich an dieser Stelle auch noch nichts über einen strukturell ablesbaren unterrichtsbezogenen, didaktischen oder sozialen Zweck, der mit dieser Arbeitsanweisung verbunden ist, aussagen.
Handelt es sich um ein Spiel, in dem zwei kulturdifferente Teams gegeneinander antreten? Gab es vielleicht einen Streit zweier Ethnien und die Streitenden müssen nun separiert werden? Es ließen sich noch weitere Fragen stellen, genau so viele, wie sich Kontexte finden lassen.
Ich möchte aber an dieser Stelle die weitere extensive Lektüre abbrechen und stattdessen nun den tatsächlichen fallspezifischen Kontext zur Interpretation heranziehen, denn bereits jetzt ergeben sich aus den Interpretationen vielerlei Hinweise, aus denen sich anhand des bis hierher interpretierten Materials einige Strukturspezifika dieses Falles interkulturellen Unterrichts exemplarisch erschließen lassen. Um diese aber abschließend entwerfen zu können, ist es zuvor wichtig, die interpretierte Sequenz in ihren tatsächlichen Fallkontext zu stellen, damit eine Einbettung in den Gesamtkontext der schulischen Interaktion erfolgen kann.
Es gab also weder einen Streit zu schlichten noch sollte ein multikulturelles Spiel begonnen werden, sondern das Protokoll gibt die Einstiegssequenz eines Unterrichts in der 5. Schulstunde eines gymnasialen 9. Jahrgangs im Fach Praktische Philosophie wieder. In der vorherigen Stunde ist eine Reihe zum Thema Kultur und Heimat begonnen worden. Zur didaktischen Umsetzung des Themas sind Gruppen entlang der im Kurs vom Lehrer identifizierten Ethnien gebildet worden. Neben den in der Sprache des Falles der vorliegenden Sequenz benannten türkisch- und russischstämmigen Schülern, wurde noch eine deutsche und eine weitere Gruppe eingeteilt, deren ethnische Zugehörigkeit nicht häufig genug im Kurs vorhanden war, um eine eigenständige Gruppe bilden zu können. Die Gruppen sind zu dem Zweck eingeteilt worden, Fragen für einen Fragebogen zu entwickeln, mittels dessen die Schüler die Mitglieder der jeweils anderen Gruppen im Anschluss selbst befragen sollten. Mit der Befragung war der Unterrichtsprozess in der vorherigen Stunde nicht ans Ende gekommen, so­dass es nötig wurde, sich nochmals in dieser Stunde in Gruppen zusammen zu setzen. Mit der interpretierten Sequenz wird also die Gruppeneinteilung und damit die gesamte didaktische Instruktion der vorherigen Stunde aufgegriffen und sequenzlogisch weitergeführt.
Es ist klar, dass diese didaktische Instruktion nun selbst durchaus zum Gegenstand einer eigenständigen sequenzanalytischen Rekonstruktion gemacht werden könnte, doch davon möchte ich an dieser Stelle absehen. Denn somit lassen sich nicht nur einige Varianten des Gesamtkontextes rascher ausschließen und damit, das Verfahren abkürzen, sondern nun können die bisher durch die extensive Lektüre gewonnenen Ordnungsstrukturen auch im Zusammenhang mit der didaktischen Instruktion ausgedeutet werden. Denn erst, so ist deutlich festzustellen und abzulesen, dass ihr Zweck weder darin bestand, für ein Spiel einzuteilen noch streitende Ethnien zu separieren, sondern die pädagogische Arbeitsform Gruppenarbeit umzusetzen, in der eine Form (Fragebogen) erarbeitet werden soll, um sich anschließend gruppenübergreifend zu befragen. Letztlich soll dies also in eine dialogische Kommunikationsform zwischen den kulturspezifisch eingeteilten Gruppen münden, die sich infolgedessen als angestrebter Interkultureller Dialog verstehen lässt.

Fallspezifische Strukturproblematiken

Die Rekonstruktionsergebnisse der extensiven Lektüre sollen nun in abstrahierender Weise zusammengefasst und hinsichtlich ihrer Strukturproblematiken, die daraus deutlich werden, pointiert und zugespitzt werden. Als Unterrichtsgeschehen summa summarum betrachtet, passiert auf der Oberfläche nichts Ungewöhnliches, sondern etwas ganz Alltägliches: Ein Lehrer gibt den Schülern eine Arbeitsanweisung, bittet sie, sich in Gruppen zusammen zu setzen, um das in der vorherigen Stunde Begonnene nun weiterzuführen und ggf. zu einem Ende zu bringen. Über die extensive Lektüre des Unterrichtsprotokolls jedoch ließen sich tiefere Sinnschichten rekonstruieren. Insgesamt ergibt sich somit der Eindruck eines Sprechaktes, der vielfältig ordnet und Einteilungen vornimmt: kulturelle (Zugehörigkeit, Abstammung), soziale (Gruppenbildung durch externe Differenzierung und interne Homogenisierung) und physische (Tisch, Raum). Es hat sich interaktionslogisch gezeigt, dass insgesamt in der die Schulstunde eröffnenden Sequenz durch die didaktische Instruktion des Lehrers ein strukturierendes Ordnungsprinzip der Zuweisung von Schülerindividuen zu einer bestimmten Kultur im Sinne einer nationalethnischen Abstammung für den weiteren Verlauf des Prozesses verbindlich geltend gemacht werden soll. Diese den Unterricht eröffnende Sequenz lässt sich auch als eine kommunikative Stiftung symbolischer und sozialräumlicher Ordnung entlang der Kriterien kultureller Abstammung und Differenz charakterisieren. Sie bildet interaktionslogisch eine Offerte an die Schüler, deren Ordnungsstrukturen durch ihre Akzeptanz für die sich anschließende Praxis des Unterrichts verbindlich gemacht werden könnte. Die verschiedenen ordnenden und einteilenden Strukturen lassen sich folgendermaßen systematisieren. Auf dem Wege der Systematisierung wird deutlich, dass ihnen verschiedene Krisenpotenziale inhärent sind.

a) Ordnung des offiziellen und inoffiziellen Unterrichtsgeschehens

Insbesondere der mittels extensiver Lektüre erarbeitete kontrastive Vergleich zwischen unterrichtlicher und außerunterrichtlicher Kommunikation, verdichtet in der Lesart eines Marktplatzgeschehens, hat sich in der Rekonstruktion für die Spezifik von Unterricht insgesamt, nicht nur für den Fall Interkulturellen Unterrichts, sondern auch darüber hinaus als besonders aufschlussreich erwiesen. Er zeigt, dass zwar eine neue Interaktionsordnung etabliert wird, diese jedoch die vorherige nicht vollständig ersetzt, sondern gewissermaßen ins Verborgene verdrängt, wo sie die lnteraktionsdynamik wohl aber weiterhin als quasi stummes Geschehen mitbestimmen wird. Man wird vom Lehrer am Anfang einer Schulstunde, der Schwellenphase von Interaktionsordnungen, intentional nichts anderes erwarten, als mittels einer didaktischen Instruktion das Unterrichtsgeschehen strukturieren zu wollen. Doch mit der Installation des offiziellen Unterrichtsgeschehens gehen mannigfache, das soziale Geschehen ordnende Regeln einher. Die Kommunikations- und Äußerungsformen werden eingeschränkt, sanktionierbar, überhaupt differenzierbar. Die Beziehungsformen untereinander sind rigider reglementiert als dies zuvor der Fall war. Auch der Artikulationsspielraum ist voneinander verschieden. Es lässt sich nicht alles im offiziellen Unterricht sagen, was sich inoffiziell sagen ließe. Die Akteure werden nicht zuletzt von denjenigen Personen, die sie außerhalb des offiziellen Unterrichts sind, damit zu Schülern im Unterricht. Ein wesentliches Ergebnis schulspezifischer Sozialisation zeigt sich gerade darin, die Schülerrolle zu lernen und auf diesem Wege von sich als Person abstrahieren zu können. Die Rekonstruktion lässt darauf schließen, dass die Schüler aber nicht nur in ihrer Rolle am Unterricht teilnehmen, sondern zudem auch als Mitglieder einer peergroup. Sie zeigt ganz deutlich, worin das Bedingungsgefüge dieser Praxis besteht. Erst die Akzeptanz seitens der Schüler lässt die verschiedenen Ordnungen und ihre Gewichtung interaktionslogisch verbindlich werden, wie sich umgekehrt auch genau daran das Krisenpotenzial festmachen lässt. Denn diese Ordnung könnte an jeder Prozessstelle aufgekündigt werden, ist also als prinzipiell krisenhaft einzustufen. Mit Oevermann wäre dies eine materiale Bestimmung der Krisenhaftigkeit dieser fallspezifischen Praxis, von hier aus ließe sich nach den Routi­nen fragen, die den Unterricht angesichts dessen stabil halten (vgl. Wagner 2001).

b) Ordnungen, der gegenständlichen Verortung

Die über die Kommunikation gestifteten Ordnungsweisen werden durch die Tischordnung untermauert und geben dem Raum eine physische und symbolisch ablesbare Ordnung. Das Setzen an einen Tisch ermöglicht den an ihm Sitzenden nicht nur Konzentration auf die Gruppenarbeit, und Kommunikation miteinander, es unterstreicht im vorliegenden Fall aber auch die Homogenität der sozialen Ordnung. Die Blicke der am Tisch Arbeitenden sind entscheidend. Es reden zunächst Gleiche miteinander, die von denjenigen, die an anderen Tischen sitzen, unterschieden sind. Es wird in physischer Hinsicht getrennt und zusammengefügt.
Die Gesamtgruppe des Kurses Praktische Philosophie diversifiziert, und verortet: Diese Schülergruppe gehört an diesen, die andere an jenen Tisch. Das Arbeiten am Tisch korrespondiert mit der Ordnung von offiziellem und inoffiziellem Unterrichtsgeschehen – der Ort des Austauschs eines Zettelchens findet nicht ohne Grund unter dem Tisch statt. Es stellt eine Dichotomie des sozial erwünschten und unerwünschten Unterrichtsverhaltens auf.

c) Ordnung externer Gruppendifferenz und interner Gruppenhomogenität

Das Ordnungsprinzip des offiziellen Unterrichtsgeschehens steuert ebenso darüber hinaus die interaktionsbezogenen und bildungsbezogenen Anschlussmöglichkeiten, die Öffnungen und Schließungen hinsichtlich sozialer Verortung und subjektiver Selbstdefinition, die eng mit den Ordnungsstrukturen der Gruppeneinteilung verbunden sind. Über die soziale Einteilung in kulturspezifische und -differente Gruppen wird die innere Ordnungsstruktur des offiziellen Unterrichts ausgeformt. Die extensive Lektüre ergab, dass mit der kommunikativ gestifteten Verortung eine soziale Einordnung einhergeht. Mit der über Abstammung eingeteilten kulturellen Zugehörigkeit der Schüler sind letztlich die individuellen Personen als Träger ihrer kulturspezifischen Eigenarten angesprochen. Sie sollen damit jenseits ihrer Rolle thematisiert werden. Es kommt zu einem Paradox: Sie sind als Bildungssubjekte, als Personen, durch ihre Abstammung angesprochen, die aber nun gerade nicht das persönlich Individuelle sondern das natürlich Allgemeine darstellt.
Innerhalb der Gruppe ist eine Homogenität ihrer Mitglieder unterstellt, gruppenextern eine Kulturdifferenz. Dies kann nun potenziell mit der kulturellen Selbstverortung der Schüler konfligieren, wie es mit Blick nicht nur auf die tatsächliche Migrationswirklichkeit der allochthonen, sondern auch der Kulturzugehörigkeit, der autochthonen Schüler des fallspezifischen Kontextes deutlich gemacht werden kann. Beispielsweise unterstellt die Einteilung in eine russischstämmige Gruppe eine kulturspezifische Homogenität, die bei dieser Gruppe im vorliegenden Fall allein schon hinsichtlich ihrer Herkunftsländer fraglich ist, kommen ihre Vertreter doch nicht nur aus Russland sondern ebenso aus Usbekistan und Kasachstan. Darüber hinaus wird die gruppenexterne Differenz zwischen Russen und Deutschen geradezu problematisch, wenn man bedenkt, dass gerade sie, wenn man so will, als Vertreter einer ersten Generation nach Deutschland kommen konnten, weil sie, bzw. ihre Eltern, die Möglichkeit nutzten, die ihnen als sogenannte Russlanddeutsche migrationspolitisch gewährt wird. In ihrer familialen Abstammungsgeschichte, wenn man so will, lassen sich Bezüge zum Zielland der elterlichen Migration herstellen. Dies ist neben dem Bestehen sogenannter Aufnahmetests, in denen Kenntnisse der deutschen Sprache und kulturspezifisches Wissen über Deutschland erfragt wird, Bedingung für ihre Einwanderung nach Deutschland. Insofern man also das Einteilungskriterium, das der Lehrer einführt, beim Wort nimmt, stellt sich die Frage nach kultureller Zugehörigkeit bei dieser Gruppe geradezu auf den Kopf. Die Einteilung erweist sich somit als künstlich. Dies gilt grundsätzlich aber nicht nur für diejenigen Schüler mit sogenanntem Migrationshintergrund, sondern ebenso auch für die Nichtmigrierten.
Bildungsbezogen gesprochen kann sich der Konflikt einer problematischen Selbstverortung negativ in einer strukturellen Entthematisierung von ambivalenten und komplexen Selbstdefinition von Kulturalität spiegeln. Denn mit realistischem Blick auf die tatsächliche Migrationswirklichkeit und Kulturzugehörigkeit generell lässt sich davon ausgehen, dass diese doch eher individuell­biografischer Art sein werden. Das Dilemma Interkultureller Pädagogik taucht auf und wird hier im Unterricht praxisrelevant, denn eine pädagogische Beziehung unterschiedlicher Kulturen herstellen zu wollen, setzt nun mal eine Existenz differenter Kulturen verbindlich voraus, welche der Unterricht strukturgenetisch erst stiftet.
Die soziale Verortung birgt, also insgesamt das Konfliktpotenzial, dass die auf beschriebene Weise unter eine Kulturzugehörigkeit Subsumierten sich nicht so eindeutig verorten können, wie es das Ordnungsprinzip verlangt. Der Konflikt lässt ein über die didaktische Instruktion vermitteltes Problem der Integration zwischen Individuum und Gruppe in der Unterrichtspraxis deutlich werden. Darüber hinaus entsteht ebenso ein Integrationsproblem hinsichtlich der gesamten, nun in Segmente aufgeteilten, Klasse. Hierbei ist nicht zuletzt entscheidend, inwieweit die „peerculture“ selbst kulturalistisch geformt ist. Entweder bestätigt das Ordnungsprinzip des Unterrichts die vorgängigen, außerunterrichtlichen Kulturalismen, manifestiert sie damit erheblich, oder liegt eben quer zu ihnen, geriete also in Konflikt. Dieser Konflikt könnte dann wiederum entweder quasi subkutan das weiter prozessierende offizielle Unterrichtsgeschehen bestimmen, oder aber außerhalb des Unterrichts in der Praxis der Gleichaltrigenkultur virulent werden.
All diese Strukturproblematiken sind eingelassen in die institutionelle Bildungspraxis, die sich am bittenden Charakter des Sprechakts ablesen ließ und deren Grundlage das spezifische Arbeitsbündnis und sein immanentes Bildungsversprechen unter der Voraussetzung asymmetrischer Kommunikationsverhältnisse bildet. Fallbezogen sind nun verschiedene Interaktionsverläufe strukturell möglich. In Unkenntnis des weiteren Stundenverlaufs könnte man beispielsweise vermuten, dass im weiter prozessierenden Unterricht den Schülersubjekten durchaus noch Gelegenheit gegeben wird, ihre individuelle Sicht auf die ihnen zugedachte Kulturzugehörigkeit zum Thema machen zu können, gerade indem die klischeehafte Einteilung zur Sprache käme. Damit würde die Differenz zur zugewiesenen Zugehörigkeit thematisch. Dies blieb jedoch aus. Sie entsprachen der Bitte ihres Lehrers, vollzogen somit alle interaktionslogischen Anschlüsse mit. Auf der Ebene des offiziellen Unterrichtsgeschehens akzeptierten sie damit letztlich alle Ordnungsweisen und hielten die Praxis trotz ihrer Konflikte stabil. Sie machten eben buchstäblich mit. Der intendierte und angestrebte Interkulturelle Dialog blieb dadurch nicht nur künstlich, wie es der weitere Verlauf des Protokolls zeigt. Sondern die Schüler spielten gewissermaßen die ihnen zugewiesene kulturelle Identität, da die Ordnungsstruktur des Unterrichts komplexe und ambivalente Selbstdefinitionen strukturell entthematisierte.

Fußnoten:

(1) Dieser Kontext muss dabei keinesfalls homogen sein, sondern kann sich zusammensetzen aus ebenso vielen verschiedenen Subkontexten, wie sie die peergroup innerhalb des Kurses umfasst. Von Gleichaltrigenkultur zu reden bedeutet ja nicht, dass alle gleichen Alters auch darüber hinaus gleich sind, sondern innerhalb ihrer kommt es zu Friktionen und Differenzierungsprozessen, die sich allemal auch im Unterricht bemerkbar machen können.

(2) Die Annahme zweier sozialer Regelkreise lässt sich anhand der Ergebnisse, wie sie die zusätzlich zu den Protokollen durchgeführten Gruppendiskussionen ergeben haben, illustrieren. In einer Passage macht dort eine Schülerin explizit auf das soziale Verpflichtungsgefüge der peergroup aufmerksam: „jetzt mach ich mit, aber dann kommt so’n klein [unv.] Zettelchen (…) ja, dann ist man sozusagen verpflichtet, mit jemandem zu reden oder Zeit zu haben“.

(3) Die auf dem Wege der extensiven, feinanalytischen Lektüre des Protokolls gewonnenen Ergebnisse geben Hinweise darauf, inwieweit auch ästhetische und räumliche
Formen Praxis strukturieren können, sobald sie in Kontexte sozialer Handlungen eingebettet werden. Als strukturierte und strukturierende Strukturen sind solche sozial symbolischen Entitäten insbesondere für die Soziologie Pierre Bourdieus (Bourdieu 1987) von Interesse. In der hier zugrunde gelegten Methodologie des genetischen
Strukturalismus Ulrich Oevermauns werden symbolische Ordnungen als fallspezifische Strukturen jedoch erst dann nachweisbar, wenn sich ihre Strukturgebung im
Prozessverlauf verbindlich zeigen lässt. Dies kann selbstverständlich an dieser Stelle noch nicht behauptet werden.

(4) Dies ließe sich auch kritisch etwa gegen Oevermanns These einwenden, der es als Folge des strukturellen Widerspruchs institutioneller Bildungsprozesse zwischen Neugierannahme als Voraussetzung und gesetzlicher Schulpflicht als die Verunmöglichung von Bildungsansicht, die Didaktik der Schule erschöpfe sich in Formen des Nürnberger Trichters – einpauken und eintrichtern (Oevermann 2002). Auch wenn seiner Analyse des strukturellen Widerspruchs durchaus zuzustimmen ist, reduzieren
die für ihn daraus folgenden Überlegungen zur Didaktik die tatsächliche Komplexität der schulischen Vermittlungen doch in allzu fahrlässiger Weise.

Literatur:

Bourdieu, Pierre (1987): Sozialer Sinn. Frankfurt am Main

Breidenstein, Georg/Kelle, Helga (2002): Die Schulklasse als Publikum. Zum Verhältnis von Peer Culture und Unterricht. In: Die Deutsche Schule. 2002, Heft 3. S. 318-329

Breidenstein, Georg (2006): Teilnahme am Unterricht. Studien zur Schul- und Bildungsforschung. Wiesbaden

Parsons, Talcott (2002): Sozialstruktur und Persönlichkeit. 7. Auflage, Eschborn bei Frankfurt

Wagner, Hans-Josef (2001): Objektive Hermeneutik und Bildung des Subjekts. Weilerswist

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