Falldarstellung

Situation: Erziehungswissenschaftliches Schulpraktikum in einer dritten Grundschulklasse mit einer Gruppe von acht Studierenden im ersten Semester.

Beobachtungsaufgabe für die Hospitation an diesem Tag:
„Was tut das von Ihnen für die Beobachtung ausgewählte Kind als erstes, wenn eine Aufgabe gestellt wurde?“
(Thema der Beobachtung: Arbeitsverhalten in einer Aufgabensituation)

In der Besprechung nach dem Unterrichtsvormittag ergab sich folgendes Auswertungsgespräch über die Schülerin Lisa in der Deutschstunde:

Studentin: Die Lisa hat koi Luscht ghätt. (Lisa hatte keine Lust.)
Dozentin: Was hat sie gemacht?
Studentin: Die hat koi Luscht ghätt. (Sie hatte keine Lust.)
Dozentin: Können Sie beschreiben, was sie getan hat?
Studentin: Sie hat nit ogfange. Und koi Luscht ghätt. (Sie hat nicht angefangen und keine Lust gehabt.)
Dozentin: Lust oder Unlust kann man nicht so einfach sehen. Was hat Lisa denn getan?
Studentin: Die hat einen Strich gemalt. Ganz ausführlich.

Interpretation

Was lernten die StudentInnen über (Unterrichts-)Beobachtung?
In dem Auswertungsgespräch treffen der alltagsgeprägte Beobachtungshabitus der Studentin und die Anleitung zu systematischer Trennung von Beschreibung und Deutung im professionellen Beobachtungskontext aufeinander: Die Studentin, am Anfang ihres Studiums, interpretiert ihre Beobachtung unreflektiert: „Lisa hatte keine Lust.“ Sie versteht zunächst die Nachfrage „Was hat Lisa gemacht?“ nicht als Angebot zur beschreibenden Korrektur ihrer Wahrnehmung. Es bedarf einer Irritation: „Lust kann man nicht so einfach sehen.“ Erst nach mehreren Nachfrageanläufen ist die Studentin in der Lage, die Beschreibungsebene zu betreten.

Was lernten die BeobachterInnen über Lisas Arbeitsverhalten in der beobachteten Aufgabensituation?
Glücklicherweise ist die Klassenlehrerin zugegen. Denn nur mit ihrer Hintergrundinformation kann der „Strich im Heft“ kontextuell gedeutet werden. Lisa tut etwas sehr Sinnvolles: Sie überträgt eine Ordnungsstruktur, die sie beim Fachlehrer für Mathematik neu kennengelernt hat, selbstständig und ohne Nachfrage auf ihre Arbeitsweise im Deutschheft. Offenbar hat sie den Strich zur Gliederung einer Heftseite und zur leichteren inhaltlichen und aufgabenbezogenen Übersicht im Heft schätzen gelernt. Sie denkt dabei fächerübergreifend, hat also in diesem Fall kein „Fach-Ich“ oder „Fachlehrer-Ich“ ausgebildet, das aufmerksam die Regeln des jeweiligen Unterrichts beobachtet und nur dort anwendet. Ich vermute, sie hat den Bezugspunkt „Was erscheint mir sinnvoll?“ gewählt. Dabei scheint sie sich sicher, dass die Deutschlehrkraft diese Eigenständigkeit mitträgt.

Eine Nachfrage bei der Schülerin war im Moment der Auswertung nicht möglich. Für einen Umgang mit einer ähnlichen Situation unmittelbar im Unterricht wäre es wichtig, die eigene Wahrnehmung an den Intentionen des betreffenden Kindes zu korrigieren (kommunikative Validierung). Denn es ist ja durchaus möglich, dass der erste intuitive Eindruck „Sie hat keine Lust.“ richtig sein mag. Aufgabe einer professionellen Beobachtung wäre dann, die Schülerin zu fragen, etwa durch Verbalisierung dessen, was beobachtet werden kann: „Du malst einen Strich in dein Heft. Was hast du dir dabei überlegt?“ (Methode des Spiegelns). Diese Frage würde dem Handeln des Kindes Sinn unterstellen und es einladen, die eigene Begründung zu formulieren.

Werkbasierung und Konkretionsorientierung
Das Auswertungsgespräch hat gezeigt, dass das Prinzip der Werkbasierung (Graf 2004, S. 314 A. 185 und S. 318) (hier: das beobachtbare Zeichnen des Strichs als Grundlage einer möglichen Deutung) ein wichtiger Weg ist, zu angemessenen Beuteilungen von SchülerInnenleistungen zu gelangen. Die Werkbasierung ist Grundlage der Konkretionsorientierung, die zur Anbahnung einer Kompetenzorientierung im pädagogisch-diagnostischen LehrerInnen-Handeln führt ( www.grundschulpaedagogik.uni-bremen.de/Personen/UlrikeGraf ; Graf 2004, 312). Leitfrage dieser Orientierung ist: Welches Können zeigt das Kind in dem, was es tut? Die Kompetenzorientierung bezieht sich auf das offenbarte Können im vorgelegten Produkt oder der realisierten Handlung als der konkreten Werkvorlage. Ein solcher ständig vorliegender konkreter Bezugspunkt, auf den ein Gespräch auch immer wieder gelenkt werden kann, verhindert schnelle Vor-Urteile und allgemeine Festschreibungen, fokussiert auf das gezeigte Können und eröffnet Raum für weitere Entwicklungsentwürfe.

Literatur:

Graf, Ulrike: Ausbildung pädagogisch-diagnostischer Kompetenzen im Grundschulstudium. Erprobte Module im „Projekt Schuleingangsdiagnostik“ an der Bremer Universität, www.grundschulpaedagogik.uni-bremen.de/Personen/UlrikeGraf, 2005.

Graf, Ulrike: Schulleistung im Spiegel kindlicher Wahrnehmungs- und Deutungsarbeit. Eine qualitativ-explorative Studie zur Grundlegung selbstreflexiven Leistens im ersten Schuljahr, Hamburg (Kovac) 2004.

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