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Falldarstellung

Die folgende Analyse bezieht sich auf ein Unterrichtsprojekt, das im Fall „Symbolbildung in der Adoleszenz“ von Heiner Hirblinger ausführlich dargestellt ist.

Interpretation

Heiner Hirblingers Arbeit „Über Symbolbildung in der Adoleszenz“ ist mir außerordentlich wertvoll, legt er damit doch eine große kasuistische Studie zum Bildungsprozess unter psychoanalytischen Gesichtspunkten vor. Mit seinem Material gibt er uns Einblick in den längerdauernden Erfahrungsbildungsprozess, erlaubt uns, eine lebendigere und fundiertere Phantasie über das Geschehen zu entwickeln, als es die häufiger zu findenden kleinen kasuistischen Vignetten zulassen. Deren Funktion liegt ja dann auch viel stärker darin, eine theoretische Position beispielhaft zu veranschaulichen. Hirblinger indessen versetzt uns in die Lage, seine theoretisierenden Auswertungen am Material prozesshaft nachzuvollziehen und sie auch noch zu erkennen als Weg der Bearbeitung seiner Erfahrungen.

Überblicken wir kasuistisch bezogene Veröffentlichungen aus unserem Arbeitsfeld der Kooperation von Pädagogik und Psychoanalyse, dann ist nicht zu übersehen, in welchem Ausmaß sich Arbeiten zu Fragen des erzieherischen Umgangs in den Vordergrund geschoben haben. Damit aber rücken ins Zentrum die kommunikativen Verflechtungen des erzieherischen Bezugs, die Wirkungen und Veränderungen der inneren Realität der Zöglinge. Weltvermittlung und Traditionsübermittlung als nicht abtrennbare Seite der pädagogischen Aufgabe hingegen verschwinden allzu häufig aus dem Augenmerk. Dies ist keineswegs eine notwendige Folge der Spezialisierung in pädagogische Aufgabenfelder wie etwa Sozialpädagogik, Heilpädagogik und Schulpädagogik. Vielmehr scheint mir dies eine Frage des Selbstverständnisses zu sein, ob uns die Bildungsaufgabe als Hinführen zur Welt der Menschen hinreichend präsent bleibt angesichts der Fragen, die sich uns aus der Kultivierung der Mitmenschlichkeit stellen. Wie Jugendliche unserer 90er Jahre sich Büchners „Leonce und Lena“ aneignen können, wie dieses ironisierende Lustspiel zur geistigen Situation des frühen 19. Jahrhunderts zu produktiver Differenzerfahrung für heutige Jugendliche werden kann, wie der Spielraum zwischen historischer Symbolisierung und heutiger Identitätssuche Gestalt gewinnen kann – in diesen Raum von Bildungserfahrung führt uns Hirblinger.

(…)

In seiner theoretischen Ausarbeitung verfolgt Hirblinger die weitreichende These, dass in der Adoleszenz so Einzigartiges, qualitativ Neues geschehe, dass es gerechtfertigt sei, von einer adoleszenten Position zu sprechen. Begründet sieht er dies zusammengefasst darin, dass unter der Schubkraft von Trieb und Narzißmus mit der adoleszenten Ich-Idealbildung die alte Omnipotenz, die an die Eltern delegiert war, neu angeeignet wird, das Über-Ich gezähmt wird und ein autochthoner Prozess der Erfahrungsbildung einsetzt. Der Triebaspekt wird später noch genauer qualifiziert als die Wirkung der ursprünglichen Bisexualität der Libido (Hirblinger, Ms., 9 u. 11).

Psychoanalyse hat lange Zeit unter dem Einfluss der Bedeutung der infantilen Neurose die Gewichtigkeit der postödipalen Entwicklungen eher gering geschätzt und insbesondere die Adoleszenz sehr unter das Vorzeichen einer Wiederholung der ödipalen Konflikte gestellt. Dass sich hier aber seit sicherlich 30 Jahren Veränderungen vollziehen, kann nicht übersehen werden. Nun jedoch der Adoleszenz eine autochthone, ganz eigene, unabhängige Erfahrungsbildung zuzuschreiben, macht mich skeptisch. Unter dem Aspekt der Kontinuität der Entwicklungsprozesse möchte ich deshalb zunächst die Weiterbearbeitung der depressiven Position aufgreifen.

Ich stimme mit Hirblinger überein, wenn er, Louise Kaplan (1988) aufgreifend, Wiedergutmachungsprozesse als ein übergreifendes Thema der Adoleszenz ansieht. Von Wiedergutmachung zu reden, heißt aber, sich strukturell auf die depressive Position und deren Bearbeitung durch reparative Gesten zu beziehen. Die depressive Position, nicht als früher Entwicklungsschritt verstanden, sondern als lebensbegleitendes Thema, sie zentriert sich doch zunächst in dem Schritt, eigene Aggressivität nicht nur einfach zu leben, sondern ihrer bewusst zu werden als etwas, das ich tue. Es geht also um jenen Schritt zum „Ich bin“. Winnicott zeigte die Bedeutung dieses Schrittes für die Genese des objektiven Objekts auf, das unabhängig von mir existiert und nicht mehr von mir in die Welt hinein entworfen wird. Der zweite bedeutsame Schritt wird dann an die Fähigkeit zur Wiedergutmachung geknüpft, nämlich die Entwicklung von „Ich kann“ und die Fähigkeit zur Besorgnis, jener Grundlage aller Empathie (Winnicott 1971, 101 ff. und Loch 1986, 225 f.). Es geht also um psychodynamische Grundlagen der Autonomie, die zugleich die Abhängigkeit immer neu regulieren. Schmerzhaft erlebte Abhängigkeit wiederum ist eine der wichtigen verleugnenden Quellen für Gefühle der Omnipotenz, jener Omnipotenz, von der Hirblinger behauptet, dass sie vor der Adoleszenz an die elterlichen ÜberIch-Repräsentanzen delegiert sei. Ich meine, das ist zu radikal gefasst, und diese Radikalität bietet wichtigen Vorwand, die Adoleszenz zu idealisieren. Nicht nur, dass wir in der sogenannten Latenz in hohem Maß subjektive Gewissheit des eigenen Könnens bei den Kindern beobachten, nährt meinen Zweifel an Hirblingers Behauptung. Auch die in dieser Zeit beständig laufende Tendenz, auch nicht-elterliche Vorbilder zu wählen, transformiert bereits beständig das Ich-Ideal. Wenn nun mit der Pubertät die körperlichen Veränderungen und die gesellschaftlichen Faktoren auch von dieser Seite her die Ähnlichkeitsrelation zu Eltern und Erwachsenen deutlich nähren, dann setzt ein mit größerer Realität versehener Schub an Möglichkeitsversprechungen ein. In ihrem Gefolge findet eine akzentuierte Umschreibung der Kindheit statt, Freuds Gesichtspunkt der Nachträglichkeit erlebt eine heftige Renaissance. Diese Umschreibung betrifft ganz besonders die Erfahrungen von Abhängigkeit und Selbständigkeit. S. Bernfeld machte bereits 1935 in der Arbeit über die einfache männliche Pubertät darauf aufmerksam.

Als zweiten Gesichtspunkt möchte ich noch Hirblingers Argument aufgreifen, dass die Eigenständigkeit der Adoleszenz gewichtigst getrieben werde durch die Wirkung der Bisexualität der Libido. Die biologische Seite der Sexualität aufarbeitend, kommt R. Reiche in seiner Arbeit zur Geschlechterspannung (1990) zu dem Fazit, dass es lediglich um ein Mehr oder Weniger bei der Determinierung von männlich oder weiblich gehe. Wesentlich wirksamer sei jedoch die psychosoziale Polarisierung von männlich und weiblich, die sich an den Di-Morphismus anlehne, also die unterscheidbare Körpergestalt von Frauen und Männern. Diese polare Organisation geschlechtlicher Bilder wird dadurch konterkariert, dass das Kind vom Beginn subjektiv wahrgenommener sexueller Erregung mit Vater und Mutter fertig werden muss und es dies nur tun kann, weil es sich bisexuell zu identifizieren vermag. Die Festlegung der späteren manifesten sexuellen Objektwahl bleibt dabei offen. Unter diesem Gesichtspunkt der doppelten Identifikation eröffnet sich also einerseits der Weg zu einem idealisierten Selbstbild, die Geschlechterspannung abwehrend. Hier setzt dann die adoleszente Körperentwicklung eindeutigere Hindernisse. Andererseits kann man auch nicht übersehen, dass bereits vor der Adoleszenz in vielfältiger Weise Auseinandersetzungen mit der Geschlechterpolarität stattfinden und der aggressive wie libidinöse Umgang mit der „anderen Hälfte“ eine deutliche Thematik ist.

Bei allem Respekt vor den heftigen und wichtigen Prozessen in der Adoleszenz möchte ich etwas Luft aus forcierten Vorstellungen über die Eigenständigkeit der jugendlichen Entwicklung ablassen. Ich meine, sie kann nicht nur aus sich selbst heraus verstanden werden, wie es Hirblinger vorschlägt (Hirblinger 1991, 110). Mir stellt sich die Frage, ob er mit solchen Tendenzen zur Idealisierung jugendlicher Entwicklung sich unbemerkt jenen Positionen erziehungswissenschaftlicher Jugendforschung zugesellt, die die Adoleszenz mit der Last der großen Hoffnungen der Erwachsenen befrachten und sich zugleich in den Juvenilisierungsprozess unserer Gesellschaft einfügen und ihm huldigen.

Ich möchte mich jetzt direkter dem Projekt zuwenden und knüpfe an der Stelle seiner Empfängnis an, bei Ludwigs Märchenvariante. Im Lehrer waren Gedanken um Fürsorglichkeit wachgeworden und eine Bereitschaft, sich auf die Jugendlichen in ihrer konfliktträchtigen dissoziierten Gespanntheit einzulassen. Letztlich wohl wie eine Fortsetzung und Erweiterung der Erfahrungen mit dem kreativen Schreiben kommt das Projekt „dramatisches Gestalten“ zustande.

Die doppelgesichtige Lust zur Selbstdarstellung setzt sich bei den Schülern durch, die Stärke ihrer Ambivalenz sicherlich gemildert durch das Wissen, dass Büchners Text im Hintergrund greifbar ist. Das mag schützenden Rückzug versprechen. Hirblinger berichtet von beträchtlicher Sicherheit im Darstellen. Die andere Seite, beispielsweise die Wirkung von Scham, vermute ich als Hintergrund, wenn die Zuschauer nur indirekt und hinter Nebentätigkeiten kaschiert den Scharaden folgen. In diesem Bereich zeichnet sich beispielhaft ab, wie die Gegenübertragungsphantasie von der Fürsorglichkeit des Lehrers konkrete Gestalt gewinnen kann. Etwa indem Wege verfügbar gemacht werden, die es den Schülern erleichtern, sich vom Gespielten auch wieder zu distanzieren; oder indem geeignete Strukturen oder auch Fixpunkte für szenische Gestaltungen gemeinsam entwickelt werden, vielleicht auch mal vorgegeben werden. Aus diesem letzten Bereich heraus hätte vielleicht der Gruppe „Szene im Weltraum“ eine frühe Stütze gegeben werden können, um nicht so sehr in die kindische Blödelei zu rutschen. Dies sind zwar Ideen, welche die Möglichkeiten zu regredieren begrenzen könnten, die aber den Schülern als unaufdringliche Rahmen genügend Ich-Stützen geben könnten gegenüber einem Absinken in eher destruktive Verwirrung.

Wenn ich das Projekt überschaue, dann scheint mir wichtige Arbeit gelungen zu sein, weil sich vitale, persönlich relevante Symbolisierungen entwickeln konnten. Im Bildungsgang einer 11. Klasse würde ich mir jedoch darüber hinaus wünschen, dass didaktische Linien stärkeres Gewicht bekämen. Aus ihnen ließen sich durchaus beispielhafte Interpretationen zu den aktuellen Inszenierungen der Jugendlichen gewinnen.

Ich denke etwa an jene Gruppe, von der wir unter dem 28.3. im Tagebuch erfahren. Es geht um die Entwicklung von Szenen zum Thema „Langeweile, Gleichgültigkeit in Beziehungen“. Christian ist der Sprecher, Udo und Benjamin spielen verflacht und mit Mühe eine Eheszene über das Eingeständnis eines Ehebruchs bis hin zum Selbstmord. Im Verfolgen der alle überraschenden nachgeschobenen Selbstinterpretation der Jungen, dass es eigentlich um eine Publikumsbeschimpfung gehe, entfaltet Hirblinger gekonntes methodisches Geschick. Aber das ist eigentlich nicht mein Punkt. Vielmehr, ob die nachgeschobene Idee einer Publikumsbeschimpfung nicht eher ein abwehrdeterminierter Holzweg ist? Die Szene ließe sich durchaus begreifen als unbemerkte Gestaltung des adoleszenten Themas der Entidealisierung der Eltern. Dieser Zerstörung der Elternimagines können wir zwar teleologisch ein Versprechen auf mehr Autonomie zuordnen. Aber zuerst einmal steht sie doch wohl in der doppelten Verflechtung des Kampfes der Jugendlichen gegen die Eltern und des Erlebens von Verlust, wenn die früher idealisierten Eltern sich als allzu menschlich erweisen und die Idealisierungen zerbröckeln.

Kampf zwischen den Eltern und Kampf gegen die Eltern sind eng miteinander verknüpft, und der Verlust der kindlichen Idealisierung ist erstrebt und macht Angst zugleich. Damit gewinnt aber der eigene Angriff Gefährlichkeit, und seine Abwehr kann zu depressiver Langeweile führen (Haynal 1976). Dass dieses Thema des Kämpfens gegen die Altvorderen in der Klasse von hoher Bedeutung ist, wissen wir aus Hirblingers Schilderung der Verzweiflung der Lehrer der Klasse.

Gibt es zu einer so verstandenen Analyse der Klasse kulturhistorische Entsprechungen bei Büchner, die sich einer didaktischen Analyse erschließen könnten? Immerhin hat Büchner den raschen Aufbruch des revolutionären französischen Kampfes und die schreckliche Erfahrung ideologisierter Vernunftherrschaft im Hintergrund. Die ambivalente Gloriole Napoleons ist gebrochen und besiegt; austro-preußische Restauration und Liberalismus bedingen und bekämpfen sich, und das vernehmliche Grummeln des liberalen Bürgertums in Deutschland hat sein 1848 noch vor sich. Ideale der Vernunftherrschaft glühen, sind mit Erschütterung gepaart und gebrochen im Wiederaufgreifen romantischer (Leidens-)Sehnsucht zugleich.

Büchner selbst hatte aus seinem Kampf gegen die erdrückende politische Herrschaft in Hessen nach Straßburg fliehen müssen. Hier im Exil schreibt er „Leonce und Lena“, also wohl kaum der Versuch, adoleszentes Erleben künstlerisch zu gestalten. Viel eher das Projekt, etwas aus der kulturellen Situation seiner Zeit, nämlich Verzweiflung und Erfahrung von Aussichtslosigkeit zu artikulieren. Der Prinz Leonce sieht vor sich die Zumutung, durch Heirat und Regierungsgeschäfte ein „nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft“ werden zu müssen, und will gegen diese Einvernahme durch das Hergebrachte lieber „seine Demission als Mensch geben“. Wohin bloß greifen, wenn Engagement nur zum schrecklich entlarvten Ideal der Vernunft führt und Liebe eben zur Ehe, zur Einordnung in Tradition? Wozu dann Kampf, wozu dann Engagement? Bleibt die Flucht in scheinromantische Langeweile, entleert aller Ideale.

Ich bin kein Germanist, bewege mich auf brüchigstem Eis. Aber vielleicht wird dennoch meine Frage deutlich. „Leonce und Lena“ ist für uns kulturelles Dokument. Ausschließlich so begriffen, wäre es leichthin nichts als leere bildungsbürgerliche Symbolisierung. Insofern in dem Stück aber auch historisch überdauernde menschliche Lebensthematik gestaltet wird, eröffnet es immer wieder neue Zugänge, bietet sich – einem Präkonzept vergleichbar – zur Artikulation aktueller Lebensthematik an und wird dadurch zu lebendiger Symbolisierung. Der Bruch jedoch, dass Lebenserfahrung und innere Realität von Schülern dieser Klasse 11b und Büchners „Leonce und Lena“ analoghafte Bezüge erlauben und zugleich nicht ineinander aufgehen, dieser Bruch erzwingt interpretierende Anstrengung. Ricoeur arbeitet dieses Anliegen bezogen auf sprachliche Symbole heraus:

„Ich möchte sagen, daß es dort Symbole gibt, wo der linguistische Ausdruck aufgrund des Doppelsinns oder seines vielfachen Sinns zu einer Interpretationsarbeit Anlaß gibt. Diese Arbeit wird angeregt durch eine intentionale Struktur, die nicht im Verhältnis von Sinn und Sache besteht, sondern in einer Architektur des Sinns, in einem Verhältnis von Sinn und Sinn, von zweitem und erstem Sinn, ob es sich um ein Analogieverhältnis handelt oder nicht, ob der erste Sinn den zweiten verschleiert oder enthüllt. Diese Textur ist es, die die Interpretation ermöglicht, wenngleich einzig die tatsächliche Bewegung der Interpretation sie offenbart.“ (1969, 30)

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