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Falldarstellung

Begriffsbildung als ein kognitiver Vorgang: Zum Beispiel Zukunft und Vergangenheit

Die folgende Szene verdeutlicht, dass Begriffsbildung nicht ein schlichtes Übernehmen von Wörtern ist. Roman unterscheidet nicht zwischen Zukunft und Vergangenheit, was ihm am Ende der Szene zum Schweigen bringt. Die Kinder sollen zu dem Bild Villa R von Paul Klee schreiben.

Die Kinder an Romans Tisch unterhalten sich über das Alter von Burgen und reden immer wieder von einer und hundert Millionen Jahre. Roman hat bis jetzt an dem Bild gemalt. Romans Nachbar sagt etwas zu Romans Bild.

Roman: Das soll die ganze Zukunft sein. Das soll die Zukunft sein mit ganz vielen bunten Sachen. Die Lehrerin kommt dazu.

Lehrerin: Roman, kommst du jetzt auch zu deiner Geschichte? Was ist das hier?

Roman: Das ist die Zukunft.

Lehrerin: Was?

Roman: Zukunft. (Er betont das Wort besonders.)

Lehrerin: Schreibst du das mal hin, das ist doch interessant. Die Lehrerin geht zu einem anderen Kind.

Roman: Ich schreibe erst, wie alt das ist.

Kind: Wie alt denn?

Manuel: Wie alt denn?

Roman: So alt. Er zeigt dabei auf sein Blatt, auf das er schon 100 geschrieben hat.

Kind: Hundert Jahre nur?

Roman: Nee. Tausend. Roman macht noch eine Null dahinter.

Kind: Ich hab auch tausend. Ich hab auch tausend. Die Kinder nennen immer größere Zahlen.

Roman: Das sind mehrere Millionen schon. Das sind schon mehrere Millionen. Und jetzt … Er wird von seinem Nachbarn unterbrochen.

Kind: So einer sind aber in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft.

Roman: Das soll die – Vergangenheit, das soll die Vergangenheit auch sein.

Kind: Da gab’s noch gar nicht sowas. Da gab’s noch nicht mal Dinos. Vor so vielen Jahren.

Roman: Stimmt. Ich mach – ich mach aber trotzdem noch die Zukunft. So alt. Er hat die Zahlen zu Ende geschrieben und zeigt sie der Studentin- ihrer Ansicht nach sehr stolz. Auf seinem Blatt stehen jetzt die Zahlen 100010000002000 und darunter steht „Die“. Es ist nicht klar, ob sich das folgende Gespräch der Kinder ausschließlich auf Romans geschriebene Zahlen bezieht.

Norea: Wenn’s in der Zukunft ist, kann’s ja nicht so alt sein.

Manuel: In der Zukunft nicht.

Norea: Ja, ich weiß.

Roman: Oder …

Norea: Das geht ja gar nicht.

Manuel: Doch in der Zukunft.

Roman: … oder Vergangenheit lieber. Doch lieber die Vergangenheit.

(…)

Bei der Präsentation melden sich viele Kinder, die ihr Geschriebenes vorlesen wollen. Roman meldet sich auch.

Roman: Die. Fertig.

Lehrerin: Du hast das Wort vorgelesen, aber jetzt sag uns doch mal, was du damit meinst!

Roman: Das ist so eins. So alt ist das Haus. Roman zeigt sein Geschriebenes mit dem gemalten Bild.

Lehrerin: Nein, Roman. Du hattest was anderes damit gemeint. Nicht, dass das Haus so alt ist, sondern? Roman sagt nichts.

Lehrerin: Wenn das, wenn du sagst, das Haus ist so alt, dann ist das doch zurück. Du hast doch was anderes gemeint. Nicht zurück in der Zeit, sondern? Ein Kind flüstert Roman „Zukunft“ vor.

Kind: Vor so viel Jahren.

Kind: Nein, in der Zukunft.

Lehrerin: Nicht vor soviel Jahren, sondern in, in, in so viel Jahren. Oder meinst du das als Zukunft. XXX und das, was da ist?

Roman: Das sind die Monster. So alt sind die.

Interpretation

Für Roman stellen sich zwei Schwierigkeiten: Die begriffliche Unterscheidung von Zukunft und Vergangenheit und die Zahlenbegriffe (100, 1.000, 10.000.000). „Altersmäßig“ befindet sich Roman in dem Stadium vom konkret operatorischen Denken hin zum formal operatorischen (vgl. Piaget 1974, vgl. auch Montada 1987). Gerade Zahlenbegriffe, Altersangaben, Relationen (z.B. auch Verwandtschaftskonstellationen) setzen höchst komplexe Begriffsstrukturen voraus, die an „späte“ kognitive Fähigkeiten gebunden sind. In der konkret operatorischen Phase kann das Kind Zahlenworte verwenden, ohne einen vollständigen Begriff davon zu haben. Eine Vorstellung von Romans 1000100000012000 Jahren fällt selbst vielen Erwachsenen schwer. Auch die Unterscheidung von Zukunft und Vergangenheit ist ein aktiver kognitiver Konstruktionsprozess. Die Szene zeigt deutlich, dass Begriffsbildung nicht ein schlichtes Übernehmen von Wörtern ist. Das für Roman vermutlich noch unlösbare Dilemma ist, dass das Haus ein Haus der Zukunft darstellen soll – so wurde es zumindest in der Einführung erwähnt. Die Zahlen drücken aber das Alter des Hauses aus. Aus Perspektive der Zukunft ist die Altersangabe Vergangenheit. Das sagt Roman auch. Roman wird erst durch die zunehmende Beweglichkeit der Teilstrukturen, durch Perspektivenwechsel, durch den Erwerb weiterer kognitiver Fähigkeiten immer schneller und sicherer mit den Begriffen umgehen können. Noch kann sein Wissen in Bezug auf Zukunft und Vergangenheit als singuläres (s.u.) bezeichnet werden.

Bei der Präsentation melden sich viele Kinder, die ihr Geschriebenes vorlesen wollen Roman meldet sich auch.

Roman: Die. Fertig.

Lehrerin: Du hast das Wort vorgelesen, aber jetzt sag uns doch mal, was du damit meinst!

Roman: Das ist so eins. So alt ist das Haus. Roman zeigt sein Geschriebenes mit dem gemalten Bild.

Lehrerin: Nein, Roman. Du hattest was anderes damit gemeint. Nicht, dass das Haus so alt ist, sondern? Roman sagt nichts.

Roman meldet sich. Vielleicht, weil die Lehrerin zu Beginn der Arbeitsphase „interessant“ gesagt hat? Die Lehrerin wählt eine „unkonstruktivistische“ Sprache. „Du hattest was anderes damit gemeint. “ Sie sieht ihre Perspektive als die richtige. Statt zu sagen: „Ich habe dich aber anders verstanden.“ und Roman damit Gelegenheit zum Erwidern zu geben: „Ich habe das aber gemeint.“ unterstellt sie Roman etwas, auf das er nun nicht antwortet, denn er hatte nichts anderes gemeint. Roman sagt nichts mehr.

Lehren

Nimmt man die These der mangelnden sprachlichen Verständigung als eine Erklärung für erschwertes Lernen an, so hat dies Konsequenzen für die Lehre. Prinzipiell sollte immer von einem generellen Missverstehen ausgegangen werden, d.h. es sollte überprüft werden, inwieweit mangelndes Verstehen Resultat für Schwierigkeiten sein kann. Eine weitere Konsequenz ist das Akzeptieren der individuellen begrifflichen Welt der Kinder. Auch wenn Fibeln und Lehrwerke laut Untersuchungen „Durchschnittswörter“ in Bezug auf den Bekanntheitsgrad benutzen und Lehrende um eine „verständliche“ Sprache bemüht sind, heißt dies nicht, dass alle Kinder diese Wörter kennen und schon gar nicht, dass sie damit ein für den Lernerfolg taugliches Wissen verbinden.

In Bezug auf das Beispiel Deborah wäre wünschenswert, wenn der Student Deborahs Wort akzeptiert hätte, indem er ihr sagt, wie man es schreibt, zugleich ihr aber auch eine Alternative angeboten hätte, die sie annehmen oder auch ablehnen kann. Dies auszuhalten muss auch gelernt werden.

Auch im Beispiel Sebastian unterlässt die Lehrerin eine Erweiterung seines begrifflichen Wissens. Statt angemessen auf seine Äußerung einzugehen und ihm anzubieten (und einzuhalten!), nach der Stunde dieses – für ihn wichtige – Thema aufzunehmen, akzeptiert sie seine Welt nicht.

Im Beispiel Janka gibt Janka dem Studenten immer wieder Vorgaben, durch die eine Kommunikation über den Gegenstand aufrechterhalten werden kann, ohne dass Janka von der Sache etwas verstehen muss, und der Student geht darauf nicht ein. Er gibt ihr keine Hilfen, sondern behindert sie durch seinen „Unterricht“ (vgl. Peschel in diesem Band). Würde der Student Janka und ihre Worte ernst nehmen, könnte er ihr das Wort aufschreiben, ihr anbieten, das „richtige“ Wort mit dem ihrigen zu vergleichen etc.

Die Lehrperson im Beispiel Samuel ignoriert Samuels sprachliche Kompetenzen. Für sie steht das Sozialverhalten im Vordergrund. Es liegt nahe, dass die Lehrerin deshalb „vergisst“, Samuel den Inhalt des Homonyms „Schlange“ deutlich werden zu lassen. Hätte es sich um das Wort „Rotationsmaschine“ gehandelt, ein Wort, das für die Lehrerin schwierig erscheint, wäre die Lehrerin viel eher bereit, das Wort zu erklären. Das hat jedenfalls die Untersuchung der Unterrichtsprotokolle gezeigt (vgl. Osburg 2002).

(…)

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