Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

In einem 7. Jahrgang geht es um eine Demonstration zu Licht und Schatten. Das Protokoll verzeichnet folgenden Ablauf:

„Zwei Schülerinnen melden sich. Eine davon wird dran genommen. Schülerin: ,Ich war letztes Mal auch schon.’ Der Lehrer, Herr Sander: ,Das erinnere ich gar nicht mehr. Dann jemand anders.’ Es melden sich noch weitere Schülerinnen und Schüler. Herr Sander nimmt einen Schüler dran. Schüler: ,Ich hatte letztes Mal aber auch schon.’ Herr Sander: ,Was?’ Schüler: ,Aber beim Zettel davor.’ Herr Sander: ,So weit können wir in der Geschichte nicht zurück denken. Mach!’ Er kommt nach vorne und zeichnet auf der Folie. Herr Sander: ,Gut.’ Der Schüler setzt sich wieder.“

Der Lehrer bemüht sich offenbar darum, alle Schülerinnen und Schüler zu Wort kommen zu lassen. Die Regel dafür lautet, dass man nicht kurz hintereinander zweimal dran kommen solle. Allerdings wird diese Regel nicht konsequent eingehalten, denn dies würde eine Art „Buchführung“ erfordern, die nicht erfolgt und sicher auch nicht wirklich machbar wäre. In den folgenden Interaktionen reagiert der Lehrer sehr unterschiedlich auf Mädchen und auf Jungen:

„Herr Sander: ,Wie waren die Namen?’ Ein Schüler meldet sich und wird aufgerufen. Schüler: ,Genau dahinter ist der Kernschatten und die daneben heißen Halbschatten.’ Herr Sander schreibt es auf die Folie. Herr Sander: ,Wie entstehen diese Schatten?’ Drei Schüler und zwei Schülerinnen melden sich. Herr Sander nimmt eine Schülerin dran: ,Die Lichtquelle -’ Herr Sander: ,Lauter!’ Schülerin: ,Die Lichtquelle leuchtet an dem Holzklotz vorbei und auch drauf. Es ist ne Mischung von Licht und Schatten.’ Herr Sander schreibt ,Mischung Licht Schatten’ an die Tafel. Herr Sander: ,Das klingt nicht ganz dumm. Noch was, was vielleicht vielen selbstverständlich ist?’
Nicola meldet sich und wird dran genommen: ,Beim Kernschatten kommt überhaupt kein Licht hin.’ Herr Sander: ,Kann das jemand zeigen?’ Eine Schülerin meldet sich und wird nach vorne gerufen. Sie zeigt etwas auf der Folie. Herr Sander: ,Wie kann man das zeigen?’ Sie zeigt es noch einmal mit Hilfe des Geodreiecks. Herr Sander: ‚Jetzt hab ich dich ein bisschen aus dem Konzept gebracht.’ Schülerin: ,Ja.’ Herr Sander: ,Das ist deine Sichtweise, akzeptieren wir das. Es ist auch richtig.’ Sie setzt sich.
Herr Sander: ,Wie kann man den Halbschatten 1 beschreiben?’ Janko meldet sich und wird aufgerufen: ,Dort fällt Licht von der Lichtquelle 1 hin und nicht von der Lichtquelle 2.’ Herr Sander: ,Kann das jemand zeigen?’ Jabir meldet sich und kommt nach vorne. Herr Sander: ,Wir haben kein Lineal. Ingolf, kannst du das untere Ende von dem Staubsauger demontieren?’ Ingolf tut es und bringt es nach vorne. Herr Sander gibt die Stange an Jabir und deutet ihm an, dass er damit über der Tafel etwas zeigen solle. (Dort ist die Folie an die Wand geworfen.) Die Schülerinnen und Schüler schmunzeln. Jabir verrenkt sich, da er zu klein ist, um es deutlich zeigen zu können. Herr Sander: ,Es ist wohl doch günstiger, wenn du es hier zeigst.’ Er deutet auf den Overhead-Projektor. Jabir zeigt das Gewünschte auf der Folie. Herr Sander: ,Dann können wir das als Ergebnis aufschreiben.’ Er schreibt an die Tafel: ,Kernschatten: Er erhält weder Licht von Lichtquelle 1, noch von Lichtquelle 2.’ Die Schülerinnen und Schüler unterhalten sich, während sie abschreiben. Herr Sander schreibt weiter ,Halbschatten 1: Er erhält nur Licht von Lichtquelle 1, nicht von Lichtquelle 2. Halbschatten 2.’
Herr Sander: ,Alfred, was schreiben wir beim zweiten Halbschatten hin?’ Alfred hatte sich nicht gemeldet, dennoch antwortet er rasch: ,Das Gleiche wiebei 1 nur mit 2 ‘Herr Sander: ,Nur vertauscht, genau.’ Und schreibt zu Halbschatten 2: ,Er enthält nur Licht von Lichtquelle 2, nicht von Lichtquelle 1’.”

Den Tafelanschrieb eines Schülers kommentiert der Lehrer mit „gut“, die nächste Antwort einer Schülerin mit „das klingt nicht ganz dumm“. Auch die nächste Aktion einer Schülerin wird zuerst erneut abverlangt, dann zweideutig mit „das ist deine Sichtweise“ und gleichzeitig „es ist auch richtig“ kommentiert. Jankos folgende Antwort bleibt unkommentiert, Jabirs Versuch, auf der Projektion etwas zu zeigen, was ihm nicht gelingt, wird unterstützend zum Zeigen auf der Folie dirigiert. Alfreds ungenaue Antwort korrigiert der Lehrer in einer Weise, die sie als korrekt erscheinen lässt.
Nach einer Weile, in der es etwas unruhig ist, teilt der Lehrer Zettel fiir die Arbeitsgruppen aus und kündigt einen neuen Versuch zum Schatten an. Dieser soll in Arbeitsgruppen durchgeführt werden, wozu zunächst die Tische anders angeordnet werden müssen. Nachdem alle Tische stehen und die Gruppen ihre Arbeitsmaterialien haben, wird das Licht ausgemacht:

„Herr Sander stellt sich vors Pult und sagt: ,Es geht jetzt los mit Experimentieren.’ Er macht das Licht aus. Die Schülerinnen und Schüler beobachten. Schüler: ,Oh, genau wie letztes Mal.’ Ein anderer: ,Zauberei!’ Herr Sander: ,Überleg mal. Einerseits wie mit einer, andererseits auch anders. Guck mal genau!’ Zu einem Schülerinnentisch: ,Ihr auch!’ Er geht weiter von Tisch zu Tisch. Die Schülerinnen und Schüler unterhalten sich. Patsy zu den Schülerinnen an ihrem Tisch: ,Vielleicht ist bei weniger Licht ein anderer Schatten.’ Franz: ,Ne, kann nicht sein!’ Herr Sander geht an jeden Tisch. Am Tisch von Janko wurde die Lampe bereits ausgemacht. Herr Sander scheint etwas verwundert und sagt: ,Habt ihr da vorne schon was gesehen?’ Dann bemerkt er, dass sie bereits zeichnen und meint anerkennend: ,Oh, ihr zeichnet schon! Dann mach ich mal wieder Licht an.’ Er macht das Licht an und wühlt darauf in seiner Tasche.“

Die Schülerinnen und Schüler scheinen fasziniert und voll bei der Sache zu sein. Der Lehrer orientiert sich an der Gruppe um Janko und beendet den Versuch – für den das Licht ausgemacht werden muss -, als er sieht, dass diese Gruppe fertig ist. Es folgt zunächst eine Pause, bevor die zweite Doppelstunde beginnt.

„Herr Sander legt eine Folie auf den Overhead-Projektor. Herr Sander: ,Wie kann man den Schatten konstruieren? Ich habe schon mehrere richtige Zeichnungen gesehen. Jemand, den Ich länger nicht gesehen habe.’ Er nimmt Elvira dran, sie schüchtern: ,Was, wenn’s falsch ist?’ Sander: ,Das werden wir dann sehen.’ Elvira zeichnet etwas. Die Schülerinnen und Schüler murmeln. Franz unterhält sich mit Tira. Elvira ist inzwischen fertig. Sander: Ja richtig.’ Sander: ,Ich nenne die Schatten vorerst 1,2 und 3.’ Franz meldet sich und wird drangenommen, er erklärt etwas, was ich nicht genau gehört habe. Herr Sander: ,Du redest, glaub ich, davon, dass bei einer punktförmigen Lichtquelle mehr ist. Das ist eine mathematisch-geometrische Sichtweise. Ich will eine physikalische!’ Herr Sander nimmt Kilian dran, obgleich sich dieser nicht gemeldet hat. Kilian: ,Wie beim ersten. Das Licht kann nicht durch, wegen dem Holzklotz.’ Herr Sander: ,Das kann man genauer sagen.’ Helge meldet sich, wird dran genommen und sagt etwas. Sander: ,Genau, das war das einzige, was man ergänzen konnte.’“

Nach der Pause soll jemand die Schatten zeichnen. Der Lehrer nimmt Elvira dran, die sofort misserfolgsmotiviert fragt, was passieren würde, wenn es falsch sei. Der Lehrer lässt das offen. Ihre richtige Antwort kommentiert er schlicht mit „ja, richtig“. Als Franz dann eine andere als die erwünschte Erklärung gibt, hebt der Lehrer dies als mathematisch-geometrisch richtige Antwort hervor, beharrt aber auf einer physikalischen. Kilians Antwort erhält keine positive Bestätigung, der Lehrer fordert eine genauere Erklärung, die von Helge gegeben wird.

„Herr Sander: ,Ist das wieder ein Halbschatten? Franz, war das ne Meldung?’ Franz: ,Nein, ich war nicht sicher, ob das richtig ist.’ Er spricht kindlich, ganz anders, als er zuvor mit den Schülerinnen gesprochen hat. Es scheint, als wolle er für den Lehrer niedlich erscheinen. Sander: ,Sag doch mal.’ Franz: ,Es ist wie der Halbschatten nur heller. Weil es sich mit dem Licht vermischt, aber ich weiß nicht wie.’ Janko meldet sich, wird aufgerufen und sagt etwas. Herr Sander ermahnt Irene und eine andere Schülerin und fügt hinzu: ,Ich weiß nicht, ob ihr die Erklärung kennt, ihr habt euch nicht gemeldet.’ Janko wiederholt seine Aussage. Herr Sander: ,Aha! Kann jemand diese Beobachtung bestätigen?’ Schülerin: ,Ich hab gemerkt, dass es verschwommen ist.’ Herr Sander: ,Das geht auch dahin, dass es kein Halbschatten ist. Das ist nicht ganz gut zu sehen, aber ein paar sehen es doch. Er wird immer heller, wie Janko gesagt hat, darum heißt er Übergangsschatten’.“

Eine weitere Erklärung soll von Franz kommen, der sich jedoch ebenfalls als unsicher bezeichnet, vom Lehrer aber ermuntert wird, dennoch zu antworten. Janko erhält anschließend die Möglichkeit, sein Wissen zu präsentieren. Zwei Schülerinnen werden ermahnt mit dem Hinweis, sie wüssten wohl nicht die Erklärung, weil sie sich nicht meldeten. Janko darf seine Erklärung wiederholen und der Lehrer nimmt anschließend explizit auf ihn Bezug.

„Herr Sander schreibt an die Tafel: ,Übergangsschatten 1 und 2.’ Herr Sander schreibt: ,Kernschatten: Er erhält überhaupt kein Licht’. Er spricht zur Tafel, was er schreibt. Jetzt kommen die zum Zuge, die was erkannt haben und auch noch sprachlich formulieren können.’ Er schreibt zu Übergangsschatten 1: ,Er wird nach außen heller.’ Lehrer: ,Das ist die Beobachtung. Jetzt die Erklärung. Die ist schwer zu erkennen, aber noch schwerer zu formulieren.’ Er setzt sich auf einen Tisch, der ungenutzt im Raum steht, da die Schülerinnen und Schüler noch an den Tischen der Gruppenarbeit sitzen, und wartet. Manche Schülerinnen und Schüler tuscheln. Patsy und Tira sprechen über etwas anderes. Sander: ,Wie sieht’s aus? ‘Wir können Janko noch mal heranziehen. Vielleicht auch jemand anderes?’
Elvira meldet sich und wird aufgerufen. Elvira: ,Kann ich das zeigen?’ Der Lehrer erlaubt es und so geht sie nach vorne und zeigt etwas auf der Folie. Lehrer: ,Kannst du das noch mal mit dem Geodreieck zeigen?’ Sie zeigt es erneut und erklärt dabei etwas. Lehrer: ,Ich kann das noch nicht so ganz verstehen. Ich glaube, du hast den falschen Schatten ausgesucht.’ Elvira erklärt noch mal, was sie meint. Lehrer kritisch: ,Streift: er ihn nicht doch? Ich glaube nicht, dass das die Erklärung dazu ist. Da ist noch was anderes.’ Elvira setzt sich wieder. Daniel meldet sich, wird aufgerufen und zeigt vorne ebenfalls etwas. Dann sagt er: ,Nein, nein.’ Und setzt sich wieder hin. Herr Sander: ,Dir fehlen die Worte, aber es war was Richtiges dabei.’ Herr Sander ruft noch einmal Janko zur Hilfe. Franz: ,Janko! Janko!’ Janko erklärt etwas. Herr Sander: Ja, das ist richtig. Aber ich weiß nicht, ob das schon alle verstanden haben.’“

Es geht Um den Unterschied zwischen einer Beobachtung und einer Erklärung. Erneut hebt der Lehrer Janko hervor, den er aufrufen könne, um die richtige Antwort zu erhalten, der sich aber nicht äußern solle, damit jemand anders auch eine Chance hätte. Elvira kommt schließlich dran und versucht, deutlich zu machen, was sie meint. Der Lehrer unterstützt sie nicht bei der Sprachfindung. Gegensätzlich geht er danach auf Daniel ein, als dieser unsicher wird. Schließlich nimmt er doch erneut Janko dran und stellt ihn damit sowohl als den Experten dar, wie bezweifelt, ob auch alle anderen bereits auf seinem Wissensstand seien. Dies wiederholt sich in dieser Stunde noch einmal. Als Janko etwas Falsches sagt, reagiert der Lehrer sehr unterstützend:

„Herr Sander schreibt zu Übergangsschatten 1: ,Je weiter wir im Übergangsschatten nach außen gehen …’ ,Wie formulieren wir das?’ Jabir: ,Desto heller wird es.’ Herr Sander: ,Das steht schon da, nun die Erklärung.’ Jabir: ,Desto weniger steht der Hohlblock im Weg.’ Herr Sander scheint noch nicht zufrieden, nimmt Janko dran: ,Desto weniger Glühpunkte-, Herr Sander herzlich: ,Das stimmt gerade nicht.’ Janko: ,Oh ja, in dem Falle, je mehr.’“

Der Expertenstatus von Janko wird folglich auch gegen dessen Versagen aufrechterhalten. Der Lehrer beendet dann den Unterricht und verweist darauf, dass sie nächstes Mal mit dem Buch arbeiten würden. Als er noch am Pult steht, kommt Elvira zu ihm:

„Elvira geht zu ihm nach vorne und sagt: ,Das habe ich doch gemeint.’ Herr Sander: ,Das hab ich aber so nicht verstanden und die Schülerinnen und Schüler auch nicht -’ Elvira dazwischen: ,Doch, die Schülerinnen schon.’ Sie zeigt es ihm auf ihrem Blatt noch einmal und erklärt etwas dazu. Herr Sander: ,Ne, ich weiß nicht.’ Elvira entschieden: ,Doch’.“

Zum einen zeigt der Verlauf, dass der Lehrer unterschiedlich auf Jungen und Mädchen reagiert und zwar bei Jungen eher unterstützend, bei Mädchen eher kritisierend – man darf sicher sein, dass er dies nicht absichtlich tut, sondern ihm dieses nicht bewusst ist. Dennoch kann es bei den Schülerinnen entmutigende Wirkungen zeitigen. Zum anderen wird an Elviras Reaktion deutlich, wie wichtig ihr eine Anerkennung ihrer Leistung ist, die sie vom Lehrer als nicht gewürdigt wahrnimmt.

Mit freundlicher Genehmigung des Klinkhardt Verlages
http://www.klinkhardt.de/verlagsprogramm/1603.html

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