Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

An diesem Beispiel lässt sich zeigen, wie ein Lehrer durch sein Agieren ein Ungleichgewicht in der Wertigkeit zwischen Schülern und Schülerinnen herstellt. Es geht in einer 7. Klasse um das Thema Stromkreis, die Schülerinnen und Schüler sollen in Gruppen Versuche durchführen. Beim zweiten Versuch klappt es bei der Zweiergruppe, bestehend aus Marie und Lena nicht. Das Protokoll vermerkt dazu:

„Marie zu Lena: ,Hol mal ne andere Birne, die brennt hier nicht.’ Marie kommt mit einer anderen Birne wieder, dreht sie in die Fassung, aber auch diesmal brennt sie nicht. Der Lehrer kommt dazu: ,Klappt das bei euch nicht? Vielleicht ist das Gerät (Batterie) kaputt’ und holt eine neue. Aber auch dieser Versuch schlägt fehl.“

Zunächst versuchen die beiden Schülerinnen selbst das Problem zu lösen. Nachdem der Lehrer aufmerksam geworden ist und auch sein Versuch, durch Auswechseln der Batterie die Lampe zum Brennen zu bringen, fehlgeschlagen ist, bezieht er die Gesamtgruppe ein.

„Lehrer: ,Diese Gruppe hat Probleme. Wir haben jetzt die Batterie und die Lampen ausgetauscht. Woran kann es liegen, dass die Lampen immer noch nicht brennen?’ Nadir meint, dass die Kabel vielleicht einen Wackelkontakt haben. Lehrer: ,Stimmt, das haben wir noch nicht ausgetauscht. Macht das mal.’ Die Kabel werden ausgetauscht, führen aber nicht zum Erfolg. Lehrer: ,Wir verzweifeln aber nicht, an euch liegt es nicht (mit Blick auf Lena und Marie)’ und fragt die Gesamtgruppe, welches Teil noch nicht ausgetauscht wurde. Caspar: ,Die Glühlampe’, Nadir: ,Die Stromquelle’ und ,die Fassung.’ Die Fassung wird ausgetauscht und nun brennt auch die Glühlampe. Lehrer: ,Was haben wir gemacht, um den Fehler zu finden? Und wer macht das?’ Nadir: ,Der Elektroniker‘. Lehrer: ‚Ja, aber vor allem der Elektriker. Der probiert zwar nicht so lange herum, wie wir, dafür hat er auch anderes Prüfwerkzeug.’“

Der Einbezug der Gesamtgruppe hat zur Folge, dass ausschließlich Jungen Vorschläge machen, wie das Problem zu lösen sei und insbesondere Marie und Lena nur noch ausführend tätig sind.

Bei der nächsten Versuchserweiterung um eine weitere Glühlampe und ein Kabel klappt es in der Dreiergruppe, bestehend aus Aviva, Jennifer und Sonja, nicht. Folgender Verlauf wurde protokolliert:

„Aviva, Jennifer und Sonja probieren mit ihren Materialien, ihre Glühlampe brennt nicht. Der Lehrer kommt an ihren Tisch: ‚Jetzt haben wir wieder ein Problem’. Torsten: ,Immer bei den Mädchen’. Der Lehrer geht auf diesen Zwischenruf nicht ein und meint, dass die Stromquelle okay sei und fragt die Gesamtgruppe, worin das Problem bestehen könnte. Nadir beantwortet seine Frage mit dem Hinweis, dass die Fassung entweder zu alt sei oder die Kabel falsch zusammengesteckt wurden. Der Lehrer stellt ein großes Netzgerät auf den Tisch und verbindet es mit den Kabeln, aber auch dieser Versuch schlägt fehl. Caspar meint, dass man an dem Knopf drehen müsse. Der Lehrer klärt ihn auf, dass der Drehknopf nur für die Stromart von Bedeutung sei, ansonsten aber seinen Zweck auch erfülle, wenn er auf Null steht. Nadirs Vorschlag wird aufgegriffen und Jennifer besorgt eine neue Fassung, Sonja sitzt anscheinend gelangweilt daneben und streicht mit ihren Fingern durch ihre Haare. Die neue Fassung bringt nicht den gewünschten Erfolg und der Lehrer beschließt, das Probieren in die Pause zu verlegen, weil es sonst zu viel Zeit in Anspruch nimmt.“

Es wiederholt sich der gleiche Ablauf wie schon zuvor. Indem der Lehrer das Problem nicht mit den Schülerinnen in der Gruppe bespricht, sondern die Gesamtgruppe einbezieht, geht der Unterricht an die Jungen über, die Mädchen werden zu Handlangern bzw. ziehen sich wie Sonja gelangweilt zurück.

In der folgenden Besprechung werden Marie und Lena vom Lehrer diszipliniert:

„Lehrer: ,Okay machen wir weiter. Besteht ein Unterschied zwischen diesen beiden Versuchen? Was, nur zwei Schülerinnen und Schüler stellen einen Unterschied fest? Das kann nur daran liegen, dass die anderen entweder nicht aufgepasst haben oder sich nicht trauen, etwas zu sagen.’ Er ruft dann Kevin auf und fragt ihn: ,Kevin, was meinst du?’ Kevin: ,Nö.’ Caspar: ,Unsere Lampe leuchtet nicht so stark.’ Zwischenruf von Stefan: ,Die Glühlampen werden schwächer.’ Der Lehrer zu Marie und Lena: ,Wiederholt mal, was Stefan sagte. Der Unterricht läuft auch für euch weiter. Tobias, du störst, du redest unaufhörlich. Alle diejenigen, die einen Unterschied bemerkt haben, schreiben ihre Beobachtungen jetzt auf. Die anderen machen den Versuch noch einmal.’“

Erneut erfolgt der Einbezug der Mädchen auf einer Ebene, auf der sie ausschließlich zur Wiederholung dessen aufgefordert sind, was ein Schüler gerade gesagt hat. Nach einer Weile haben dann Jennifer, Sonja und Aviva ihre Glühlampen zum Leuchten gebracht. Der Lehrer kommentiert das an die Klasse gerichtet: „Hier klappt es jetzt auch. Wichtig ist, dass man nicht aufhört, es zu versuchen, wenn es beim ersten Mal nicht klappt.“ Er fragt offenbar weder danach, woran es gelegen hat, noch hebt er hervor, dass die drei Schülerinnen das Problem allein bewältigt haben. Insofern erhalten sie keine positive Ermutigung, sondern „öffentlich“ bleibt nur der Einbezug der Gesamtgruppe – und faktisch damit der Jungen – bei ihrem „Versagen“.

Mit freundlicher Genehmigung des Klinkhardt Verlages
http://www.klinkhardt.de/verlagsprogramm/1603.html

 

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