Diese Falldarstellung ist Teil des Lehrtextes:

Peter Weber/Michael Becker-Mrotzek: Funktional-pragmatische Diskursanalyse als Forschungs- und Interpretationsmethode.

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Falldarstellung

Interpretation

Im Folgenden wird das methodische Vorgehen der funktional-pragmatischen Diskursanalyse an einem Beispiel dargestellt: Die Untersuchung des für den Schulunterricht zentralen Handlungsmusters ‚Aufgabe stellen/Aufgabe lösen‘ wird so nachgezeichnet, wie sie von Ehlich und Rehbein in ihrem Buch ‚Muster und Institution‘ dokumentiert wurde. Dazu gehören die Rekonstruktion des Musters an einem Beispiel (a) und die Thematisierung der Institutionenanalyse (b). Abschließend folgt ein Vergleich des funktional-pragmatischen Untersuchungsverfahrens mit den Methoden quantitativer Forschung(c).

(a) Grundlage für die Rekonstruktion des Handlungsmusters‚Aufgabe stellen/‌Aufgabe lösen‘ ist der Transkriptausschnitt ‚Traumhöhle‘ (vollständiges HIAT-Transkript siehe Anhang). Er gibt einen Ausschnitt aus einer Deutschstunde wieder (9. Klasse, Gymnasium), in der das gleichnamige Jugendbuch von Malcolm Bosse bearbeitet wird. In dem Buch geht es um einen Jungen (Ben), der nach Todesfällen in seiner Familie im Traum weitere Todeserfahrungen, angesiedelt in unterschiedlichen Epochen der Menschheitsgeschichte, macht und so seine real-fiktive Trauer verarbeitet. In einer vorangegangenen Unterrichtsphase istder Zusammenhang der Todeserfahrung des Protagonisten mit seinen seelischen Veränderungen erarbeitet worden.

In einem ersten Schritt wurde der vorliegende Ausschnitt als eigenständige Phase des Lehrer-Schüler-Gesprächs bestimmt und isoliert. Um die Handlungsstruktur besser sichtbar zu machen, wurde er danach bereinigt und segmentiert (siehe Abb. 1), das heißt die Propositionen wurden fokussiert, getilgt wurden typische Diskursprozessmerkmale, die bei der Bearbeitung anderer Untersuchungsfragen sehr wichtig sein können: Pausen, Verzögerungspartikeln, Abbrüche, Formulierungsprobleme, Startsignale, unterstützende Äußerungen, Wiederholungen, Schüleradressierungen (Gerald, (Ja.), Britta), Hörerrückmeldungen (hm, ja; allerdings nur dann, wenn es sich dabei nicht nach Lehrimpuls und Schülerantwort im 3. Zug um eine Lehrerrückmeldung handelt) und eine Nebensequenz (scherzhafte Kommentierung einer Schülerselbstkorrektur: S: „(Ich würd sagen/) ähm ich denke, . L: („Ich) denke“ ist auch nicht besser. S: ((Lacht)) Ja gut.). Erhalten blieben die sinntragenden Betonungen. Schließlich wurden der besseren Lokalisierbarkeit wegen die Sprecherbeiträge mit Buchstaben versehen und zusätzlich mit Ziffern, wenn sich Äußerungseinheiten in mehrere Segmente gliedern lassen. Die Schülerbeiträge sind eingerückt, die Angaben in Klammern verweisen auf die Flächen des HIAT-Transkripts.

Abbildung 1: Bereinigtes Transkript ‚Traumhöhle‘

Im Rahmen der Analyse fallen als Erstes die vielen Lehrerfragen auf. A3, A4 undA5 werden hintereinander weg als Fragebatterie geäußert und bilden den Auslöser für die folgende Passage (‚Auftragsbearbeitungsphase‘), C und E hängen ebenfalls zusammen als Reaktion auf den Schülerbeitrag B/D/F, es sind beides Präzisierungsaufforderungen. Die Bestimmung der Fragearten und der damit vollzogenen sprachlichen Handlungen macht deutlich, dass keine dieser Lehreräußerungen eine Frage in der ‚Urform‘ darstellt, das heißt dazu benutzt wird, um ein Wissensdefizit beim Fragenden zu bearbeiten:

A3      „Wie gehen wir also am besten vor?“ – Der Lehrer stellt eine Ergänzungsfrage an alle (er fordert scheinbar zum gemeinsamen Planen auf, gibt den Schülern aber aufgrund einer sofort anschließenden weiteren Frage keine Antwortmöglichkeit).

A4      „Ist es sinnvoll, dass Ihr jetzt das ganze Buch noch mal neu lest und jeweils das Ganze hinterfragt?“ – Der Lehrer stellt eine Entscheidungsfrage an alle (er markiert durch seine suggestive Regiefrage eine Option als irrelevant).

A5      „Oder was sollen wir machen?“ – Der Lehrer stellt eine Ergänzungsfrage an alle (und suggeriert damit eine Wahlmöglichkeit).

C       „Und wenn man sie gelesen hat, dann legt man das Buch weg?“ – Der Lehrer stellt eine Entscheidungsfrage an S1 Gerald (er markiert eine Schüleräußerung als unzureichend durch seine suggestive Regiefrage in Form einer Assertion mit Frageintonation).

E       „Auf welche Frage?“ – Der Lehrer stellt eine Nachfrage/Ergänzungsfrage an S1Gerald (und fordert zur Rhema-Ergänzung zwecks Präzisierung auf).

K2      „Jetzt sind das ja mehrere Ebenen, was bietet sich also an?“ – Der Lehrer äußert eine Assertion mit angehängter Ergänzungsfrage an alle (und fordert zur Vorschlagsformulierung mit einer Regiefrage auf, die die erwartete Antwort als zwingende Schlussfolgerung suggeriert).

Den Fragen kommt hier eine typisch schulische Bedeutung zu. Nicht die Form der Fragestellungen ist in dieser Situation entscheidend, sondern das, was mit diesen Äußerungen gemacht wird. Und das erschließt sich erst bei genauerem Hinsehen. Die Lehrerhandlungen in A bis M lassen sich wie folgt bestimmen: In A eröffnet der Lehrer die Gesprächsphase mit einem Zwischenfazit (Assertion) und der Ankündigung der anstehenden Untersuchung; in B bis L folgt die Klärung der Verfahrensweise als Hinführung zu M (Arbeitsplan),obwohl dieser ebenso gut in Form einer Instruktion hätte vorgegeben werden können. Die Äußerung A korrespondiert über viele Zwischenschritte hinweg mit M, sie bleibt für die folgenden 12 Äußerungen relevant, und das trotz eines Wechsels von Plenums- und Individualadressierung durch den Lehrer. Eingebettet zwischen A und M ist die Bearbeitung von vier Schülerbeiträgen nach dem I-R-F-Schema (Initiation – Response – Feedback, vgl. Sinclair und Coulthard 1977),das heißt es folgt jeweils eine Lehreräußerung als Auswertung der Schülerbeiträge in Bezug auf A im dritten Zug, die sich folgendermaßen darstellt:

G       Akzeptieren des Vorschlags vonS1 Gerald nach wiederholter Aufforderung zur Präzisierung
I         Akzeptieren des Vorschlags von S2 Sw
K1      Ablehnung des Vorschlags von S3 Sandra
M1     Akzeptieren des Vorschlags von S4 Sm

Es zeigt sich, dass die Fragen hier dazu benutzt werden, das Aufgabe-Lösungsmuster zu prozessieren, das Ehlich und Rehbein wie folgt beschrieben haben (Ehlich und Rehbein 1986, 16; siehe Abbildung 2): Formuliert der Lehrer eine Aufgabenstellung (Position 2), wird diese vom Schüler entweder bearbeitet oder nicht (Entscheidungsknoten, Positionen 3 und 4). Schweigt der Schüler (Position 5), führt dies zu einer negativen Bewertung (Position 10) und eventuell negativen Einschätzung (Position 11) durch den Lehrer. Der Lehrer kann nun das Muster abbrechen (Position 12), aber auch die Aufgabenstellung mit Wink reformulieren (Position 14) oder lediglich wiederholen (Position 15). Hat der Schüler eine Vermutung hinsichtlich der Aufgabenlösung (Position 6), kann er einen Lösungsversuch äußern (Position 7). Ist die Lösung falsch (Entscheidungsknoten Position 8), kann der Lehrer wieder die Positionen 10 bis 15 durchlaufen. Ist die Lösung richtig (Entscheidungsknoten Position 9), erfolgt eine positive Bewertung (Position 16) und eventuell eine positive Einschätzung (Position 17) von Seiten des Lehrers. Die Aufgabe ist erfolgreich bearbeitet, das Muster kann jetzt, eventuell nach Kenntnisnahme durch den Schüler (Position 18), verlassen werden (Position 19).

Abbildung 2: Handlungsmuster ‚Aufgabe stellen/Aufgabe lösen‘

Im Gesprächsverlauf des Beispiels (Abbildung 1) sind die Musterpositionen wie folgt zu bestimmen (siehe Abbildung 3):


Abbildung 3: Musterdurchlauf

(b) Es stellt sich nun die Frage, welchen Zweck der Lehrer mit dem Einsatz des Aufgabe-Lösungsmusters verfolgt. Mit seiner Äußerung „Ob es jetzt die Anzahl der Toten ist oder andere Gründe gibt, . das müssen wir hinterfragen. . Wie gehen wir also am besten vor?“ (A2/3) intendiert er eine Klärung der anstehenden arbeitsorganisatorischen Frage, so wie sie in M erscheint. Um die Schüler zu dem von ihm im Vorhinein festgelegten Ziel zu führen, benutzt der Lehrer die Schülerbeiträge, er akzeptiert ihm Passendes, Unpassendes weist er zurück. Dabei tut er so, als würden die Schüler selbstständig eine Lösung für das Problem erarbeiten. Die vom Lehrer längst geplante Gruppenarbeit erscheint nun als Idee und Wille der Schüler. Bei den Schülerbeiträgen fällt auf, dass S1, S2 und S3 desorientiert sind und das Problem missverstehen als Auftrag, Überlegungen zur textanalytischen Methode anzustellen. Erst S4 gelingt es, die richtige Lösung aus dem Wink der Lehrerfrage zu erschließen: „Jetzt sind das ja mehrere Ebenen, was bietet sich also an?“(K2) Das Handlungsmuster dient also dazu, ein mögliches Motivationsproblem zu bearbeiten, das durch eine Direktive des Lehrers entstehen könnte. Gleichzeitig produziert es aber eine neue Schwierigkeit, die durch die Modifikation des Problemlöseprozesses im Rahmen des Unterrichtsdiskurses(im Unterschied zum originären Lehr-Lern-Diskurs) entsteht: Da die Schüler weder die Gesamtstruktur des Problems noch das Ziel seiner Bearbeitung kennen, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als Lösungshinweise in den Äußerungen des Lehrers zu verarbeiten.

Die Beispielanalyse zeigt, dass sich die funktional-pragmatische Diskursanalyse nicht damit begnügt, sprachliche Oberflächenphänomene zu beschreiben, sondern versucht, Tiefenstrukturen im Diskurs zu rekonstruieren. Und sie geht noch weiter, wenn sie danach fragt, welche Rolle die Handlungsmuster in Institutionen spielen. Die Aufgabe der Institution Schule ist es, gesellschaftliches Wissen an nachfolgende Generationen weiterzugeben. Die Vermittlung des Wissens wird dadurch erleichtert, dass es überwiegend in versprachlichter Form vorliegt; Erfahrungen, die nicht oder nur schwer versprachlicht werden können, spielen in der Schule nur am Rand eine Rolle. Mit der Versprachlichung geht allerdings auch eine Abstraktion und damit der Verlust an praktischer Erfahrung einher, was zu Widersprüchen mit den Erfahrungen des Alltags führen kann. Zudem bringt die Differenzierung des Schulsystems in verschiedene Schulformen mit sich, dass nicht allen Schülern dasselbe Wissen vermittelt wird; es wird fraktioniert, die Schülerschaft diesbezüglich selektiert. Die Kommunikationssituation im Unterricht ist geprägt durch die Massenhaftigkeit. Die Äußerungen des Lehrers sind häufig vielfach adressiert, eine Anpassung an die individuell unterschiedlichen Verstehensprozesse der Schüler ist im Frontalunterricht kaum gewährleistet; die Möglichkeiten der Schüler, sich zu beteiligen, sind stark eingeschränkt. Vor dem Hintergrund dieser Merkmale der Institution Schule muss die Verwendung der Handlungsmuster – auch die des Aufgabe-Lösungsmusters – gesehen werden. Sie dienen nicht nur der Wissensvermittlung, sondern bearbeiten zugleich auch die Widersprüche der Situation (nach Becker-Mrotzek und Vogt 2009, 36f.)

Literatur:

Becker-Mrotzek, Michael; Vogt, Rüdiger (2009): Unterrichtskommunikation. Linguistische Analysemethoden und Forschungsergebnisse. 2. Aufl. Tübingen: Niemeyer.

Ehlich, Konrad; Rehbein, Jochen (1986): Muster und Institution. Untersuchungen zur schulischen Kommunikation. Tübingen: Narr.

Sinclair, John McHardy; Coulthard, Malcolm (1977): Analyse der Unterrichtssprache. Ansätze zu einer Diskursanalyse dargestellt am Sprachverhalten englischer Lehrer und Schüler. Heidelberg: Quelle und Meyer.

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