Falldarstellung
Die dazugehörige Falldarstellung 2 finden Sie hier.
„Frustriert und wütend“
Als nächsten Text greife ich eine szenische Schilderung auf, die in den erläuternden Passagen auch mich direkt anspricht und die mich so in besonders intensiver Weise in eine Vorstellung eines interaktiven Spiels einbezieht:
„Szene: Lehrer verspätet sich zur Vorbesprechung des Unterrichts, gibt keine Hilfestellung bei offenen Fragen zur Stunde.
Ungefähr Mitte des Praktikums, in der dritten Woche, war ich mit dem Lehrer zu einer Vorbesprechung zu meinem Unterrichtsversuch verabredet. Da die ersten beiden Stunden für mich wegen Vertretung ausfielen, saß ich diese zwei Stunden im Lehrerzimmer und versuchte mir die Zeit dadurch zu vertreiben, dass ich mehrmals meinen Stundenentwurf durchging. Ich schrieb mir Fragen auf, die ich später dem Lehrer stellen wollte und markierte Stellen, an denen ich unsicher war, ob das so in Ordnung ist.
Als der Lehrer zum vereinbarten Zeitpunkt nicht auftauchte, schaute ich nochmals auf den Vertretungsplan. Nein, er stand wirklich nicht drauf: ‚also müsste er ja gleich kommen!‘, dachte ich mir und wartete weiter. Langsam kommen in mir Zweifel hoch: ‚Hab ich mit dem Termin etwas falsch verstanden?‘. Aber es musste stimmen, wir waren jetzt verabredet. Nächste Woche soll doch mein Unterrichtsversuch sein. ‚Der Lehrer hat mich bestimmt vergessen. Wenn etwas dazwischen gekommen ist, dann hätte er doch kurz Bescheid sagen können. Aber anscheinend bin ich ihm egal.‘ Mit einer halben Stunde Verspätung trifft der Lehrer im Lehrerzimmer ein. Ich gehe zu ihm und er sagt nur: ‚Ach, da sind Sie ja, setzten Sie sich doch! Wir wollten Ihren Unterricht besprechen, richtig? Na, dann zeigen Sie mal, was Sie sich überlegt haben!‘ Ich bin überrascht und sauer zugleich. Keine Entschuldigung für seine Verspätung, als ob das selbstverständlich sei, dass ich fast zwei Stunden im Lehrerzimmer sitze und warte. Als ich ihm meinen Entwurf vorstelle, hört er gar nicht richtig hin. Ab und zu blättert er in Unterlagen, dann sieht er mich wieder an und nickt nur. Meine Fragen beantwortet er mit: ‚Machen Sie das so, wie Sie das denken‘ oder ‚das werden Sie dann sehen, wenn es soweit ist‘. Dann, mitten im Gespräch, schaut er auf die Uhr, sagt, er müsse jetzt in den Unterricht und ist auch schon verschwunden. Jetzt bin ich richtig wütend. Keine meiner Fragen hat er mir beantwortet. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Gedanken wie: ‚der lässt mich hier einfach doof sitzen, gibt mir keine Antwort und hilft mir nicht. Wie soll ich dabei das Unterrichten lernen?‘, gehen mir durch den Kopf. Ich gehe frustriert und wütend aus dem Lehrerzimmer. Frustriert und wütend auch, weil ich seit drei Wochen in die Schule gehe und noch nichts Neues gelernt habe. Es ist wie in meiner eigenen Schulzeit: ich lasse es über mich ergehen, sitze die Stunden ab und warte bis es endlich vorbei ist. Aber das kann nicht Sinn des Praktikums sein, oder? Von denen, die es besser wüssten und von denen ich lernen sollte, ist keiner da. Ich bin mir nicht mal sicher, ob Herr Würker mir meine Fragen konkret beantworten würde. Wenn das Seminar besser gewesen wäre, müsste ich jetzt nicht so planlos meine Zeit absitzen, wüsste, wie ich konkret Unterricht a bauen und gestalten muss. Wird das in meinem Studium so weitergehen? Werde i weiterhin Unterricht aus dem Bauch heraus planen und durchführen, weil ich nicht besser beigebracht bekomme? Wo lerne ich, wie man ein guter Lehrer wird? Wo lerne ich, wie ich Impulse formulieren muss, um in ein Gespräch mit den Schülern kommen. Wie muss ich mich verhalten, dass ich als Lehrer nicht im Mittelpunkt stehe, sondern, wie es immer so schön heißt, nur der Moderator bin und die Schüler miteinander sprechen lasse?
Ich verlasse das Schulgebäude mit dem Gefühl, dass die Stunde schief gehen wird. Anscheinend muss das ja so sein, dann lerne ich wenigstens nicht mehr so hohe Sprüche zu haben. Schade eigentlich.“
Interpretation
Als ich diesen Text las, reagierte ich zunächst einmal auf die Zeilen, die auf mich persönlich bezogen waren: Ich wurde wütend über die implizite Kritik an mir und am SPS-Vorbereitungsseminar: „Ich bin mir nicht mal sicher, ob Herr Würker mir meine Fragen konkret beantworten würde.“ Und: „Wenn das Seminar besser gewesen wäre, müsste ich jetzt nicht so planlos meine Zeit absitzen, wüsste, wie ich konkret Unterricht aufbauen und gestalten muss.“ Spontan baute sich in meinem Kopf eine Gegenargumentation auf, die sich auf die konkreten Inhalte sowohl der Pflichtlektüre wie der Referate und Diskussionen im Seminar bezog und mit der ich hätte klar machen können, dass sehr wohl wichtige Vorbereitungen auf Planung und Gestaltung von Unterricht erfolgt waren und dass im Seminar auch der Hinweis gegeben und erläutert wurde, dass in einem einsemestrigen Seminar natürlich nicht das vermittelt werden könnte, was Ziel der gesamten Ausbildung einschließlich der zweiten Phase ist: nämlich die gefestigte Kompetenz, guten Unterricht zu halten.
Bezogen auf den Vorhalt, ich würde die Fragen ebenfalls nicht konkret beantwortet haben, formulierte ich umgekehrt gedanklich den Vorwurf, weshalb, wenn denn diese Unsicherheit bestand, ob ich die Fragen zum konkreten Unterricht beantworten würde oder nicht, keines meiner mehrfach und ausdrücklich empfohlenen Beratungsangebote – Email-Kontakt oder Sprechstunde oder Gespräche im Anschluss an die Begleitseminare zum Praktikum – dazu genutzt worden seien, dies zu klären.
Erst später begann ich über die Formulierung nachzudenken: „…beantworten würde“, nicht etwa: „…beantworten könnte“, wie ich es zuerst aufgefasst habe. Mit der gewählten Formulierung „würde“ bleibt nämlich unentschieden, ob ich eventuell nicht antwortete, weil ich keine Antwort wüsste oder weil ich nicht antworten wollte. Ersteres bedeutete den Vorwurf der Inkompetenz, letzteres den der böswilligen Unterlassung einer Hilfeleistung, die prinzipiell möglich wäre. Sodann fiel mir bei genauerer Beschäftigung mit dem Text auf, dass – und auch das hätte Teil meiner imaginierten „Verteidigungsrede“ sein können – die Fragestellungen im Gegensatz zur Kritik am Vorbereitungsseminar immerhin andeuten, dass durchaus etwas – nämlich über Unterrichtsprinzipien und Lehrerrolle gelernt worden ist, und zwar, es sei wünschenswert, dass der Lehrer moderierend Schüler miteinander ins Gespräch bringt.
Aber zurück zu meiner spontanen Reaktion: Nahezu gleichzeitig mit dem Impuls, mich zu verteidigen bzw. die Kritik und die Vorwürfe zurück zu geben, registrierte ich, dass die Szene, die der Text bezogen auf meine Person entwirft, der Szene mit dem Lehrer an der Schule gleicht, und ich fing an, mir diese Szene, die ich bei der Lektüre distanzierter und gelassener aufgenommen hatte, genauer anzusehen. Zunächst schwankte ich zwischen der Identifikation mit dem Lehrer – ich hätte mich in der Hektik des Schulalltags vielleicht auch einmal ähnlich verhalten können – und dem Einverständnis mit dem geäußerten Protest des oder der Studierenden.
Eine Zwischenbemerkung: der Text gibt keine gesicherte Auskunft darüber, ob es sich um einen männlichen Autor oder um eine Autorin handelt. Obwohl ich dazu neige, eine bestimmte Studentin als Autorin zu identifizieren, werde ich, um den sprachlichen Komplikationen zu entgehen, grammatikalisch im Folgenden die männliche Form verwenden. Selbstverständlich wäre diese Entscheidung zu reflektieren: Inwiefern ent- oder widerspricht die Geschlechtszuordnung dem Rollenverhalten, das die Szenen zur Geltung bringen? Wie gesagt: ich verspüre durchaus auch eine Nähe zum Protagonisten der Szenen, denn die Kritik am Lehrerverhalten ist mir spontan plausibel:
• Der Lehrer kommt zu spät.
• Der Lehrer entschuldigt sich nicht für sein Zuspätkommen.
• Der Lehrer ist unkonzentriert
• Der Lehrer beantwortet die an ihn gestellten Fragen nicht bzw. weicht aus.
• Der Lehrer bricht das Gespräch frühzeitig und abrupt ab.
Entsprechend scheinen die Gefühlsreaktionen des Praktikanten gerechtfertigt: „Ich bin überrascht und sauer zugleich.“, „Jetzt bin ich richtig wütend.“, „Ich gehe frustriert und wütend … Frustriert und wütend auch, weil…“. Andererseits fällt mir an der Schilderung zweierlei auf:
Erstens provoziert die Unterstellung, der Lehrer sei für eine zweistündige Wartezeit verantwortlich – „Keine Entschuldigung für seine Verspätung, als ob das selbstverständlich sei, dass ich fast zwei Stunden im Lehrerzimmer sitze und warte.“– meinen Einspruch: Dass die ersten beiden Stunden ausfielen, kann ihm wohl kaum zur Last gelegt werden, an anderer Stelle heißt es ja auch: „Mit einer halben Stunde Verspätung trifft der Lehrer (…) ein.“. Und unwillkürlich ziehe ich in Betracht, auch dieser Vorwurf könnte vielleicht nicht stichhaltig sein, dann nämlich, wenn die Absprache mit dem Lehrer sich nicht auf den Beginn der dritten Stunde, sondern auf die dritte Stunde allgemein bezogen hätte – etwa: „Wir treffen uns in der dritten Stunde“. Dies entspricht meiner Gewohnheit, solche Treffen mit Referendaren zu vereinbaren, deren Mentor ich bin. Aber auch wenn man sich nur auf den Wortlaut des Textes bezieht, der die präzise Formulierung der Absprache offen lässt, zeigt sich die Tendenz, das Fehlverhalten des Lehrers zu übertreiben.
Zweitens – und das irritierte mich nachhaltiger als diese Übertreibung – fiel mir die folgende Formulierung auf: „’Der Lehrer hat mich bestimmt vergessen. Wenn etwas dazwischen gekommen ist, dann hätte er doch kurz Bescheid sagen können. Aber anscheinend bin ich ihm egal.'“. Diese Formulierung weckte in mir die Assoziation einer ganz anderen Szene als die eines Beratungsgespräch nämlich die einer Verabredung zweier Personen, zwischen denen ein hoher Grad an Nähe und Intimität, gleichzeitig eine gewisse Unsicherheit z. B. die einer noch neuen Beziehung besteht. Zu dieser Situation schien mir eher die Schlussfolgerung von Pünktlichkeit auf Gefühle bzw. Selbstwert zu passen, auch wenn selbst hier die Verknüpfung Pünktlichkeit – Wertschätzung fragwürdig ist. Noch plausibler wäre diese fragwürdige Logik mir in einer Szene, deren Mitspieler Mutter und kleines Kind sind, weil in diesem Interaktionsfeld tatsächlich eine fundamentale Abhängigkeit besteht und ein Austarieren von Nähe und Distanz auch in zeitlicher Hinsicht erst vom Kind erlernt werden muss.
Berücksichtige ich meine Assoziationen für mein Verständnis der geschilderten Szene, so wird auch die geschilderte Wut verständlicher, denn sie bezöge ihre Intensität nicht einfach nur aus der nachlässigen Beratung, die man negativ bewerten und kritisch kommentieren kann, sondern aus dem Gefühl einer fundamentalen Missachtung und Gefahr der (Selbst-) Entwertung. Das „Versagen“ des Lehrers als Berater gewinnt die Bedeutung eines viel umfassenderen „Versagens“, nämlich die des Vorenthaltens einer Zuwendung, die für die eigene Stabilität gebraucht wird. Potenziert wird dieses Problem der Versagung, indem es den Seminarleiter und auf das Einführungsseminar, letztlich auf die gesamte Ausbildung ausgeweitet wird: Nirgends ist ein Schutz vor Überforderung in Sicht. Und dieser Tendenz zur Verallgemeinerung der Versagungssituation entspricht eine Verallgemeinerung der Hilflosigkeit, wie sie in dem Satz: „Ich weiß nicht, was ich tun soll“ zum Ausdruck kommt, in dem sich nicht mehr nur eine auf den Unterricht bezogene, sondern eine ganz umfassende Verhaltensunsicherheit mitteilt. Deshalb auch – so der Eindruck – ist die Wut so überschießend, dreimal taucht das Wort „wütend“ im Abstand weniger Sätze auf, wodurch der Affekt bei der Lektüre eindrücklich spürbar wird.
Als Adressat dieser Wut bin zwar ich in meiner Rolle als Seminarleiter nicht explizit genannt, aber die Skepsis gegenüber mir und die Kritik an dem von mir verantworteten Einführungsseminar folgt unmittelbar, so dass ich immerhin als derjenige bezeichnet bin, der als Hilfsinstanz die Wut machende Situation hätte verhindern können. Insofern trifft mich gleichermaßen der Vorwurf, ein „ Versager“ im umfassenden Sinne zu sein. Diese untergründige Anklage scheint es zu sein, die eine spontane Wut meinerseits provoziert hat und die Tendenz, Kritik und Vorwürfe, Aggression und Wut mit einer imaginierten Verteidigung bzw. durch Vorhaltungen abzuwehren.
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