Falldarstellung
„Mir fiel eine Gemeinheit ein“
„Traumschilderung“
Ich betrat sehr nervös die Klasse. Meine erste eigene Unterrichtsstunde. Wie würde das wohl werden? Ich sollte eine Einführung in Römische Geschichte machen. Die Kiddies waren eigentlich sehr nett. Ich stand vor der Klasse und begann mit der Gründungssage von Rom. Ein etwas vorwitziger Schüler fragte mich: „Sagen Sie mal. Worüber reden Sie eigentlich?“ Ich erklärte ihm, dass dies eine Geschichte der Gründung Roms durch Romulus und Remus sei. Der Schüler lachte und schaute mich an: „Das stimmt doch gar nicht, Rom wurde von den Etruskern gegründet. Das weiß doch jedes Kind. Also erzählen Sie uns nicht so einen Müll.“ Ich wurde sauer. „Junger Mann, wenn du alles besser weißt, dann mach du doch den Unterricht.“ Der Junge sah mich erstaunt an und murmelte ein „Tschuldigung“. Ich setzte meinen Unterricht fort. Die Schüler waren sehr interessiert und lauschten meinen Ausführungen andächtig, aber selbst etwas sagen oder eine Frage stellen, war nicht drin.
Fragen schossen mir durch den Kopf. Überforderte ich die Schüler? Hatten sie sich etwa nicht auf meinen Unterricht vorbereitet? Ich versuchte die Schüler mit Fragen aus der Reserve zu locken. Bei den sonst etwas stilleren Schülern zeigte das Wirkung, aber bei den sonst Guten aus der ersten Reihe machte sich langsam Unruhe breit. Eine Schülerin schaute auf die Uhr: „Sind Sie bald fertig, wir wollen Tischtennis spielen?“ Ihr Banknachbar packte schon seine Sachen. Verstohlen schaute ich auf die Uhr: noch 3 Minuten. Mir fiel eine Gemeinheit ein. „Okay, wir machen jetzt Schluss.“ Dafür erntete ich einen bösen Blick des Lehrers. Ich war noch nicht fertig. Um zu überprüfen, ob ihr heute auch was gelernt habt, möchte ich, dass ihr eine zweiseitige Zusammenfassung der Gründung Roms schreibt. Bitte sehr detailliert und mit kurzer Interpretation der Statue von Romulus, Remus und der Wölfin. Wir sehen uns dann morgen wieder.“ Ich war erstaunt über meinen strengen Ton und der Lehrer schmunzelte mir zu. Die Schüler murmelten etwas von „blöder Lehrerin“ und „ich vergess morgen mein Heft“. Gott sei Dank klingelte es und die Schüler stürmten aus dem Saal.
Ich hörte ein entferntes Klopfen, das immer lauter wurde. Ich machte die Augen auf und befand mich in meinem Bett und mein Vater hatte mich gerade geweckt. Na, hoffentlich wird mein Unterricht nicht so wie in meinem Traum, sonst sollte ich mir meinen Berufswunsch noch mal gründlich überlegen.
Interpretation
Wie erlebe ich hier eine Situation, die – so sagt es der letzte Satz – immerhin zu solch einem existenziellen Gedanken wie den an eine Revision der Berufswahl führt?
Da ist am Anfang Nervosität bei der Autorin, dann die Wahrnehmung: „Die Kiddies waren eigentlich sehr nett.“ Beim Lesen der Schilderung kehrt bei diesem Satz erst einmal eine Beruhigung in mir ein und ich nehme zur Kenntnis, was der Inhalt der Stunde ist. Dann aber folgt eine erste Konfliktszene: Ein Schüler sagt lachend: „Erzählen Sie uns nicht so einen Müll…“. Dass es mit der Geste des Lachens – ich frage mich: ist es ein Auslachen? – und diesem Imperativ um nicht weniger geht als um die Frage, wer hier welche Rolle spielt, zeigt mir die Reaktion der Protagonistin: „… dann mach du doch den Unterricht!“. Diese Art der Rollenbehauptung hat nur kurzzeitig Erfolg, denn sie wird durch das Schweigen der Schülerinnen und Schüler erneut in Frage gestellt: „…selbst etwas zu sagen oder eine Frage zu stellen, war nicht drin.“. Und dann verschärft sich die prekäre Situation noch: „… machte sich langsam Unruhe breit. Eine Schülerin schaute auf die Uhr“. Dass dies keinesfalls als harmlose Normalität am Ende der Stunde zu werten ist, teilt sich mir auch an dieser Stelle durch die geschilderte Reaktion der Protagonistin mit: „Mir fiel eine Gemeinheit ein.“ Unwillkürlich neige ich dazu, hier beim Lesen ein „auch“ einzusetzen – „Auch mir fiel eine Gemeinheit ein“ – womit sich andeutet, wie hoch das virulente Aggressionspotential ist: Unruhe und die Geste des Auf-die-Uhr-Schauens gewinnt offenkundig den Charakter einer „Gemeinheit“, auf die gleichwertig reagiert werden muss, und zwar durch die hohe Belastung der Schülerinnen und Schüler durch Hausaufgaben. Diese umfangreiche Aufgabe scheint die Rache zu sein für die Signale des Wunsches, bald in die Pause gehen zu dürfen. Dass damit die Eskalation des Machtspiels noch nicht beendet ist, zeigt sich wiederum in den Äußerungen der Schülerinnen und Schüler, die Möglichkeiten der Verweigerung durchspielen.
Was mir zunächst als Unterrichtsnormalität eher harmlos erschien, wird nun als irritierende Dramatik wahrnehmbar: Es geht um den Austausch von Gemeinheiten, mithin eine Interaktion mit hohem Angst- und Aggressionspotential.
Nun ist in die Szene zwischen Praktikantin und Schülern die Szene zwischen Praktikantin und dem Fachlehrer der Klasse eingeflochten: Als die Praktikantin zunächst zum Schein auf die Wünsche der Schülerinnen und Schüler eingeht, erntet sie seinen „bösen Blick“, als sie dann aber ihre Gemeinheit durch die besonders umfangreiche Aufgabenstellung offenbart, „schmunzelt“ er ihr zu. In eindeutigen Gesten – so mein Eindruck – vertritt er bestimmte Normen, sanktioniert das Geschenk von drei Unterrichtsminuten an die Schülerinnen und Schüler negativ und honoriert die als Strafe gedachte übermäßig umfangreiche Hausaufgabe. In diesem Zusammenhang fällt mir ein weiteres szenisches Detail auf, nämlich die Irritation der Praktikantin über ihr eigenes Verhalten: „Ich war erstaunt über meinen strengen Ton“. Durch die Nähe im Text wird es nahe gelegt, diese Äußerung der Selbstentfremdung zu verknüpfen mit der Reaktion des Lehrers: Die Praktikantin ist nicht streng, so wie es ihr selbst entspricht, sondern sie spricht sozusagen mit fremder Stimme oder – anders formuliert – sie ist streng im unausgesprochenen Auftrag des Lehrers, wozu mir die religiöse Floskel einfällt: Sie handelt „im Namen des Vaters“.
Nun habe ich vollkommen beiseite gelassen, dass der Text als Traumerzählung präsentiert wird und noch eine weitere Szene folgt, die den Traumcharakter deutlich werden lässt: Es klopft und der Vater weckt die Ich-Erzählerin. Dadurch regt der Text mich dazu an, unwillkürlich die zwei „Vater-Szenen“ zu verknüpfen: die eine in der Schule mit dem Fachlehrer der Klasse, die andere im heimischen Schlafzimmer, von dem ich mir vorstelle, es könnte das eigene, frühere „Kinderzimmer“ sein, eine Assoziation, die darauf aufmerksam macht, wie hier – obwohl die Protagonistin ja eine erwachsene Person ist – Kindliches in den Szenen mitschwingt. Konkret kontrollieren beide Vaterfiguren die zeitlichen Grenzen, der Schulstunde bzw. der Schlafenszeit.
Ich möchte meinen Versuch, den Text bzw. mein Erleben und meine Vorstellungen bei der Lektüre des Textes zu verstehen, in zwei kurzen Thesenformulierungen zusammenfassen:
1. Es geht um eine bedrohliche Vorstellung von gewaltförmigen Beziehungen zwischen Lehrerin und Schülern.
2. Der Text präsentiert Szenen, in denen es um die Auseinandersetzung mit väterlich konnotierten Normen von Strenge geht, wie sie von der Figur des Mentors repräsentiert werden.
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