Hinweis: Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:
- Akustische Räume – hören und gehört werden
- Visuelle Räume – sehen und gesehen werden
- Visuelle Räume – Beobachtung aller durch alle
- Haptische Räume – anfassen und angefasst werden
- Akustische Räume – Stimme der Lehrerin
- Akustische Räume – „Ich hab´s nicht.“
Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Die folgende Untersuchung widmet sich der Analyse der räumlichen Dimension des Geschehens im Klassenzimmer. Die skizzierten Orientierungsleistungen der Ethnographin aufgreifend will ich danach fragen, welchen spezifischen räumlichen Bedingungen das Handeln von Schülerinnen und Schülern innerhalb des Klassenzimmers unterliegt und zugleich, welche spezifischen Räume sie durch ihr Handeln konstituieren. Welcher Art sind die räumlichen Ordnungen in der Unterrichtssituation?
Wir kennen die Topologie des Ortes, an dem schulischer Unterricht (nach wie vor) zu einem übergroßen Teil stattfindet, nur zu genau: Es handelt sich um einen Raum von etwa 50-60 m2 Grundfläche, er enthält Tische und Stühle, die in der einen oder anderen Weise geometrisch angeordnet sind. Die Sitzplätze sind auf eine Wand hin ausgerichtet, an der sich eine Tafel befindet. Vielleicht weist der Raum noch ein Regal oder einen Schrank auf, vielleicht einige Poster an den Wänden. Der Raum ist durch eine Tür mit dem Flur verbunden und durch einige Fenster mit der „Außenwelt“.1
Die folgende Untersuchung wird die „vier Wände“ des Klassenzimmers nicht verlassen (vgl. Fälle 1-4 Breidenstein-Klassenräume), aber der Klassenraum, der uns zunächst die situative Einheit des Unterrichtsgeschehens zu verbürgen scheint, wird sich bei genauerer Analyse in eine Vielzahl einander überlagernder, sich durchdringender und überschneidender Räumlichkeiten auflösen.
Schließlich stehen wir vor dem Klassenraum, Michael (mein Kollege) geht zwei, drei Schritte rein, ich bleibe auf der Schwelle stehen, die Tische stehen ziemlich eng, dazwischen springen die Kinder rum, ich sehe keinen Platz für mich, weiß nicht wohin, ich grinse, glaub ich, nur doof durch die Gegend. Ich muss immer mal wieder Platz machen, weil einige Jungs rumrennen und sich ärgern. Ohne Rücksicht auf Verluste, man muss sie wohl immer kommen sehen, sonst ist man verloren. (Kerstin Jergus)
Die Schwierigkeiten des ethnographischen Feldzugangs werden in dieser Beschreibung greifbar. Die Ethnographin bleibt zögernd auf der Schwelle stehen, sie ist Außenstehende im wörtlichen Sinn. Die Türschwelle markiert die Grenze, die zu überschreiten den Mitgliedern der Schulklasse und dem Lehrpersonal vorbehalten ist und ansonsten besonderer Legitimation bedarf (vgl. auch Kelle 1997; Göhlich/Wagner-Willi 2001). Die legitimen „Bewohner“ des Klassenraums verfügen über je einen eigenen Platz, die Orientierungslosigkeit der Ethnographin resultiert daraus, dass sie in der territorialen Ordnung des Klassenzimmers nicht vorgesehen ist und auch in dem bewegten Gedränge „herumspringender“ Kinder noch nicht erkennen kann, wo sich ein freier Platz, ein Freiraum für sie befinden könnte. Das wird sich ändern, wenn die Lehrerin eintritt, die Kinder sich auf ihre Plätze setzen und die Lehrerin der Forscherin einen freien Platz anbietet. Damit ist der Fremden der Gaststatus innerhalb der Welt des Klassenzimmers eingeräumt. Sich auf den ihr zugewiesenen Stuhl an einen freien Schülerarbeitsplatz setzend, kann sich die Ethnographin erstmals etwas entspannen. Nun weiß sie (wenigstens für die nächsten 45 Minuten), wo sie hingehört. Sie wird vorsichtig mit ihren direkten Nachbarn Kontakt aufnehmen. Sie wird nach und nach erkunden, welche visuellen und akustischen Möglichkeiten ihr der Platz bietet, den sie glücklich eingenommen hat: Was kann sie von hier aus beobachten, was kann sie von hier aus hörend verstehen?
Die Ethnographin, die glücklich einen Platz für sich gefunden hat, fängt an, zu beobachten. Sie stellt schnell fest, dass der Sitzplatz, den sie eingenommen hat, ihr spezifische Möglichkeiten der Beobachtung eröffnet und andere verschließt. Wie bereits erwähnt, gibt es immer ein „vorne“ und ein „hinten“ im Klassenzimmer: „Vorne“ ist dort, wo die Lehrerin meistens agiert und die Tafel sich befindet. Auf den vorderen Plätzen ergibt sich für die Beobachterin das Problem, dass sich ein größerer Teil des Geschehens in ihrem Rücken abspielt. Um dieses zu verfolgen, müsste sie sich umwenden. Denn das eigene Gesichtsfeld ist durch die Ausrichtung des Stuhls und die dazugehörige Sitzhaltung vorgegeben. Das Umwenden des Oberkörpers und das Verlassen der vorgesehenen Aufmerksamkeitsrichtung ist durchaus prekär, wie auch die Ethnographin in Form von kritischen Blicken zu spüren bekommen kann.
Von den „hinteren“ Plätzen aus lässt sich der Klassenraum am besten überblicken. Von hier kann die Beobachterin den Blick schweifen lassen oder ihn auf einer Szene, die die Aufmerksamkeit auf sich zieht, ruhen lassen. Vor allem ist sie hier selbst weniger sichtbar – sie kann besser unbeobachtet beobachten. Der Abstand zum gewöhnlichen Aufenthaltsort der Lehrperson ist relativ groß und vor allem hat sie hier keine Schülerinnen oder Schüler im Rücken, die ihr neugierige Blicke über die Schulter werfen würden. – Andererseits sieht sie von hier aus überwiegend die Rücken der Schülerinnen und Schüler und hat Schwierigkeiten, Hände und Gesichter zu beobachten.
Bereits die flüchtige Reflexion auf die unterschiedlichen Bedingungen für die Beobachtung, die mit unterschiedlichen Plätzen innerhalb des Klassenzimmers verbunden sind, zeitigt also das Ergebnis höchst unterschiedlicher visueller Qualitäten der einzelnen Sitzplätze. Dabei geht es weniger um den Abstand zur Tafel und die Möglichkeit, dort auch kleingeschriebenes entziffern zu können, als um grundlegende räumliche Bedingungen der Möglichkeit für Interaktionen.
Diese bestehen in der gesteigerten oder verringerten Sichtbarkeit der eigenen Person und in der Ausrichtung des eigenen Blickfeldes durch die vorgesehene Körperhaltung und die Anordnung des Mobiliars.2
Fußnoten
1) Zur Geschichte des Klassenzimmers und seiner Reformen vgl. Göhlich (1993).
(2) Bis hierhin hatten wir v.a. die Anordnung von Tischen in parallelen Reihen, die „frontale“ Sitzordnung im Blick. Zu beachten gilt, dass sich die Verhältnisse etwa bei der Anordnung der Tische in „Gruppen“ zum Teil anders darstellen. Hier sind die visuellen Räume komplexer und dezentrierter, da allerdings dennoch vieles „vorne“ stattfindet, kommt es bisweilen zu skurrilen Verrenkungen der Körper.
Literatur
Göhlich, M./Wagner-Willi, M.: Rituelle Übergänge im Schulalltag. In: Wulf, C. u.a. (Hrsg.): Das Soziale als Ritual. Zur performativen Bildung von Gemeinschaften. Opladen 2001. S. 119-204.
Kelle, H.: „Wir und die anderen“. Die interaktive Herstellung von Schulklassen durch Kinder. In: Hirschauer, S./Amann, K. (Hrsg.): Die Befremdung der eigenen Kultur. Frankfurt a. M. 1997, S. 138-167.
Mit freundlicher Genehmigung des Budrich Verlages.
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