Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:
- Fach und Geschlecht – Sitzordnung Klasse B – Aushandlungen
- Fach und Geschlecht – Sitzordnung Klasse C – konkurrierende Prinzipien
Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Sitzordnungen als Geschlechterarrangements
Sitzordnungen bestimmen für die einzelnen Schülerinnen und Schüler den Ort im Raum und die Verortung im sozialen Arrangement der Klasse. Beide regulieren die Interaktionsmöglichkeiten zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern sowie zwischen Schülerinnen und Schülern untereinander. Doing gender greift für die Anordnungen als vorrangiges Anordnungskriterium, dies gilt für Lernende ebenso wie für Lehrende. Die Beispiele verdeutlichen jedoch auch, dass die Klassenkameradinnen und Klassenkameraden durchaus situativ und kontextuell differenzieren, wenn es um die Kriterien der Sitzanordnungen geht. In wenigen Fällen, welche vor allem für die Klasse C protokolliert sind, weichen beide Seiten von Geschlecht als zentralem Zuordnungsprinzip ab, z. T. entstehen Abweichungen mit zunehmendem Alter durch geschlechterheterogene Freundschaften. Deutlich ist dies jedoch auch in den anderen Klassen zu beobachten, wenn die Lernenden das Anordnungskriterium des doing gender durch ein vorrangiges doing student ersetzen. Die Darstellungen zu den Zuordnungsprozessen in den Fächern greifen diesen Aspekt auf.
Klasse A: Geschlechtertrennung
Klasse A ist eine zahlenmäßig jungendominante Klasse (vgl. zum Sample Kapitel 4 dieser Arbeit). Die sechs Mädchen der Klasse A sitzen im 8. Jahrgang im Klassenraum alle zusammen am rechten Rand des Klassenraums und stellen damit eine deutliche Geschlechtertrennung her. Diese wird auch aufrechterhalten, wenn mehr Sitzplätze als Personen vorhanden sind. Dann bleiben in einer Bank eher Plätze frei, als dass sie mit Personen des anderen Geschlechts ,aufgefüllt‘ würden, wie beispielsweise im Physikraum Gudrun und Nicole hätten sich hier auf die freien Plätze in der ersten bzw. zweiten Reihe neben Alexander bzw. zwischen Mathias und Siegfried setzen können. Stattdessen besetzen sie eine eigene Reihe, in der wiederum ein Platz frei bleibt.
Wird dieses Muster einmal durchbrochen, so arrangieren sich die Beteiligten dennoch ,grenzziehend‘. Im Physikunterricht saßen Klaus und Nicole in einer Dreierreihe, mit einem leeren Platz zwischen sich. Dieser freie Platz zwischen sich und Nicole genügte jedoch offenbar noch nicht, Klaus wendet sich zusätzlich durch seine Körperhaltung deutlich von Nicole ab:
Klaus sitzt etwas nach hinten gelehnt und relativ weit von der am selben Tisch sitzenden Nicole. Er sitzt auch in die andere Richtung gewandt, so dass seine Beine
über den Tisch hinaus nach links gerichtet sind. (Ap80702d)
Abbildung 1: Sitzplan im Physikraum im Schuljahr 1998/99. Grau unterlegt: Plätze der Mädchen, -: freier Sitzplatz (Sara, Ali, Sergio und Sören fehlen)
Sitzordnungen werden in der Regel ausgehandelt. Das heißt zunächst einmal, die Jugendlichen selber stellen die geschlechtshomogene Gruppierung her. In folgendem Beispiel wird das deutlich:
Als die Klasse in den Raum kommt, rennen sie rein und sind ganz wild auf einen Platz am Computer. […] Die Lernenden verteilen sich erst einmal auf die […] vorhandenen Computer. Kurt stellt sich zuerst an den PC, an dem auch Silvia und Nathalie sind, aber Nathalie stumpt ihn weg. Er setzt sich dann an den hinteren PC. (Ai80916d)
Im Physikraum war ein ,rotierendes‘ System eingeführt worden, das heißt, der Lehrer erwartet, dass die Schülerinnen und Schüler, die in einer Reihe sitzen, jeweils in der folgenden Stunde eine Reihe nach vorn rutschen – wobei die jeweils erste Reihe dann zur letzten nach hinten wechselt. Auf diese Weise will er sichern, dass alle wenigstens ab und zu mal sehen können, was bei Experimenten vorgeführt wird. Weder die Schülerinnen und Schüler noch der Lehrer selbst praktizieren dieses System allerdings konsequent. Zwar zeigen die Sitzpläne der Physikstunden, dass eine gewisse Form des Rotierens vorgenommen wird, da aber keine strikte Sitzordnung herrscht, sondern innerhalb der Sitzreihen öfter mal andere zusammensitzen, funktioniert das Verfahren nur bedingt. Der Lehrer selbst besteht auch nicht immer darauf, wie folgende Szene zeigt:
Als wir in den Physikraum gehen, ruft Susanne schon: „Heut sitzen wir vorne.“ Es gibt wohl Streit, wer vorne sitzt. Herr Blümer sagt: „Mir ist es egal.“ Silvia schlägt einem mit dem Ordner in die Seite, der aber schon dabei war, Platz zu machen. Nun sind die Plätze ausgehandelt. (Ap91103d)
In dieser Szene bestehen die Schülerinnen darauf, dass sie laut rotierendem System dran seien, vorne zu sitzen, wogegen offensichtlich einige Schüler verstoßen haben. Hier erhalten sie keine Unterstützung von Seiten des Lehrers, können sich aber dennoch durchsetzen. Deutlich wird an dieser Stelle, dass den Lernenden offensichtlich sehr bewusst ist, dass es im Physikunterricht im Sinnen eines doing student wichtig ist, vorne zu sitzen. Üblicherweise ist dies nicht gerade die Position im Raum, welche sich die Jugendlichen freiwillig wünschen.
Zu Beginn des Schuljahres 2000/2001, als die Klasse A in den 10. Jahrgang wechselt, gibt die Sitzordnung nun keine strikte Geschlechtertrennung mehr wieder. Nach wie vor gibt es zwar „auf der linken Seite eine Jungenriege und auch einige Mädchentische, aber es gibt auch vier gemischtgeschlechtliche Tische“ (Ay00831v). Als die Klasse kurze Zeit später dann einen neuen Klassenraum bekommt, führt dies zu einer erneuten deutlicheren Geschlechtertrennung in der Sitzordnung.
Die Sitzordnung ist im Gegensatz zu der im alten Klassenraum sehr geschlechtshomogen. Von der Tafel aus gesehen sitzen links die Mädchen und rechts die Jungen. Nur Kurt durchbricht das Schema, er sitzt auf der Mädchenseite zwischen Elisa und Sigrun. (Am01004v)
Allerdings fehlen in der Stunde auch vier Schülerinnen und ein Schüler. Es wird im 10. Schuljahr für die Klasse sehr typisch, dass immer viele Schülerinnen und Schüler abwesend sind, so dass eine stabile Sitzordnung kaum zustande kommt.
Auch für die Lehrkräfte scheint die geschlechtergetrennte Sitzordnung der Normalfall zu sein, Abweichungen werden explizit betont. So wird Klaus Platz „unter den Mädchen“ von der Lehrerin in einer Stunde besonders hervorgehoben. Die Lehrerin prüfte die Liste der Wahlfächer für die kommende Zeit, wozu sie die einzelnen Schülerinnen und Schüler noch einmal aufrief und kontrollierte, ob die Angaben auf ihrem Zettel stimmten:
Bei Klaus fragt sie nach, ob jetzt Darstellendes Spiel bleibt. Als sie ihn nicht sofort sieht, sagt sie: „Ah, Klaus hat sich bei den Mädchen versteckt!“ Er sitzt neben Susanne, auf der anderen Seite sitzen Antje und Silvia. (Ad00214k)
Wenngleich man vor allem in der Entwicklung von der 8. bis zur 10. Klasse erkennen kann, dass ein Nebeneinandersitzen von Mädchen und Jungen möglich wird, haben wir es dennoch mit einer in der Regel geschlechtsgetrennten Ordnung zu tun, deren Durchbrechen mit dem Risiko verbunden ist, hohe Aufmerksamkeit zu erwecken und in den Rahmen der ,richtigen‘ Geschlechtszugehörigkeit zurückgedrängt zu werden.
Mit freundlicher Genehmigung des transcript Verlages
http://www.transcript-verlag.de/978-3-89942-688-5/schulische-fachkulturen-und-geschlecht
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