Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Sitzordnungen als Geschlechterarrangements

Sitzordnungen bestimmen für die einzelnen Schülerinnen und Schüler den Ort im Raum und die Verortung im sozialen Arrangement der Klasse. Beide regulieren die Interaktionsmöglichkeiten zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern sowie zwischen Schülerinnen und Schülern untereinander. Doing gender greift für die Anordnungen als vorrangiges Anordnungskriterium, dies gilt für Lernende ebenso wie für Lehrende. Die Beispiele verdeutlichen jedoch auch, dass die Klassenkameradinnen und Klassenkameraden durchaus situativ und kontextuell differenzieren, wenn es um die Kriterien der Sitzanordnungen geht. In wenigen Fällen, welche vor allem für die Klasse C protokolliert sind, weichen beide Seiten von Geschlecht als zentralem Zuordnungsprinzip ab, z. T. entstehen Abweichungen mit zunehmendem Alter durch geschlechterheterogene Freundschaften. Deutlich ist dies jedoch auch in den anderen Klassen zu beobachten, wenn die Lernenden das Anordnungskriterium des doing gender durch ein vorrangiges doing student ersetzen. Die Darstellungen zu den Zuordnungsprozessen in den Fächern greifen diesen Aspekt auf.

Klasse C: konkurrierende Prinzipien

Im 7. Jahrgang zeigt sich im Sitzplan der Klasse C eine Geschlechtertrennung, die allerdings durch die beiden hinteren Tische jeweils durchbrochen wird (vgl. Abbildung 9). Auf der ,Jungenseite’ sitzen hinten Monja und Anne zusammen und auf der ,Mädchenseite’ Oliver, Joshua und Peter.

Abbildung 1: Sitzordnung der Klasse C im 7. Jahrgang. Grau unterlegt:
Plätze der Mädchen, -: freier Sitzplatz

Die Klassenlehrerin berichtet in einem Gespräch, dass die Schülerinnen und Schüler einen Modus der Sitzverteilung befürworteten, die Plätze auszulosen und den sich daraus ergebenden Sitzplan wiederholt nach jeweils drei Wochen erneut per Losentscheid zu ändern:

Jetzt sei aber gerade in der letzten Stunde […] abgestimmt worden, dass der Sitzplatz gelost wird. Die Schülerinnen und Schüler hätten gesagt, dass sie ,Mischen’ besser finden würden. Sie würden das jetzt mal ausprobieren und die Sitzordnung würde dann drei Wochen so bleiben. Das wollten sie dann 2-3-mal ausprobieren, dann also immer nach drei Wochen wieder neu auslosen. Frau Helfrich erklärt kurz, wie der Prozess dahin zustande gekommen sei: Zunächst sei vorgeschlagen worden, die Sitzordnung ganz zu wählen. Der nächste Vorschlag zielte dahin, jeweils einen Partner oder eine Partnerin zu wählen, und dann die Tische für die Zweiergruppe zu losen. Schließlich wurde vorgeschlagen, ganz zu losen, also jeden einzelnen Sitzplatz zu verlosen. Daraufhin sei über alle drei Vorschläge abgestimmt worden, wobei der letzte die Mehrzahl der Stimmen hatte. Auf Nachfrage von Nicola (einer Protokollantin, K.W.) erzählt Frau Helfrich, dass Wanja und Christine das vorgeschlagen hätten, sie wollten, dass die Sitzordnung geändert und „mehr gemischt“ würde. Luisa und Peter und die Jungs waren eigentlich zufrieden mit der Sitzordnung. (Cz90126d)

Im 8. Jahrgang wird der Sitzplan im Klassenraum mehrfach geändert. In dem von den Jugendlichen selbst gewählten Sitzplan zeigen sich zwei interessante Details (vgl. Abbildung 10). Zum einen gibt es erneut eine Tendenz zu einer geschlechtshomogenen Sitznachbarschaft. Zum anderen zeigt sich in der Sitzverteilung deutlich die Sortierung der zwei zusammengelegten Parallelklassen -zur Verdeutlichung werden die Namen der ,neuen’ Klassenkameradinnen und -kameraden kursiv geschrieben.

Abbildung 2: Sitzordnung der Klasse C nach den Herbstferien im 8. Jahrgang. Grau unterlegt: Plätze der Mädchen, kursiv: ,neue‘ Klassenkameraden und- kameradinnen

Die jeweiligen Klammern um drei Namen in der letzten Sitzreihe bezeichnen eine weitere Veränderung, die kurz darauf erfolgt: Mariam kommt neu in die Klasse, Sascha und Koray setzen sich um und rücken von den Mädchen weg weiter nach vorn neben Joshua, ihre ehemaligen Plätze blieben frei. Insbesondere nach diesem Platzwechsel zeigt sich deutlicher eine Sortierung der Schülerinnen und Schüler unter dem Gesichtspunkt der neuen Klassenzusammensetzung: Bis auf Normen und Oliver sitzt eine der beiden ehemaligen Klassen auf der rechten Seite des Raumes, die andere Klasse und alle neu dazu Gekommenen sitzen links.
Ende November wird erneut der Sitzplan geändert. Die beiden Gruppen ,alter und neuer’ Schüler und Schülerinnen mischen sich, und nun bilden sich die Sitzgruppen geschlechterhomogen (vgl. Cy91122d). Dieser geschlechtsgetrennte Sitzplan wurde nicht von der Lehrerin dirigiert, sondern bildet Präferenzen der Lernenden ab.
Auch im 9. Jahrgang ändert sich während der ersten Monate des Schuljahres mehrfach die Sitzordnung der Klasse. Die Geschlechterverteilung ist zunächst gemischter als in der vorhergehenden Sitzordnung. Mit dem Sitzplan allerdings, der kurz darauf entstanden ist, ändert sich die etwas gemischtere Geschlechterverteilung deutlich (vgl. Abbildung 11): Es bildet sich eine strikte Geschlechtertrennung diagonal durch den Raum aus.

Abbildung 3: Neue Sitzordnung Klasse C im 9. Jahrgang. Grau unterlegt:
Plätze der Mädchen, -: freier Sitzplatz

Sascha, Detlef und Oliver scheinen mitunter auch Plätze zu tauschen, nämlich Oliver neben Dennis, Detlef innen und Sascha außen. Die strikte Geschlechtergrenze wird dadurch nicht durchbrochen.
Diese Geschlechterverteilung wird im Sitzplan, der knapp zwei Monate später aufgezeichnet wird, wieder aufgehoben, die Mädchen und Jungen sitzen wieder ,gemischter’.
Im Physikraum sind die Plätze der Schüler und Schülerinnen nicht festgelegt, sondern scheinen von Stunde zu Stunde zu wechseln. Aus der Zeit zwischen Mitte Dezember und Ende Januar sind fünf Sitzpläne aufgezeichnet worden, die zeigen, dass nicht alle Mädchen und Jungen feste Plätze haben, aber deutliche Präferenzen für bestimmte Sitznachbarn oder Sitznachbarinnen. Dennis, Normen, Oliver und Sascha sitzen in hinteren Reihen nah beieinander und stets auf derselben Seite des Physikraums, bis auf eine Stunde sitzt Detlef auch dort. Wanja, Lilli und Judith sitzen als Nachbarinnen zusammen, wechseln allerdings in anderen Stunden die Reihen und Klassenraumseiten, ebenso handhaben es Christine und Petra. Die anderen Jungen und Mädchen wechseln mitunter die Nachbarschaft, aber immer werden geschlechtshomogene Reihen gebildet.

Betrachtet man die Sitzordnung in der Klasse C über die drei Jahrgänge hinweg, so neigen die Schülerinnen und Schüler mit Ausnahme einer kleinen gemischtgeschlechtlichen Gruppe von Freunden und Freundinnen trotz Versuchen ,gelöster’ Durchmischung im Wesentlichen zu geschlechtshomogenen Gruppenbildungen. Im 9. Jahrgang wählen sie zeitweilig sogar eine strikte Geschlechtertrennung in der Sitzverteilung diagonal durch den Raum.
Ein anderes Kriterium für die Wahl von Sitznachbarinnen und Sitznachbarn ist eine Gruppenbildung im Zusammenhang mit der Zusammenlegung von zwei Klassen. Als die Klasse im 8. Jahrgang neu gebildet wird, wechseln die Jugendlichen häufig ihre Sitzordnung. Es hat den Anschein, als suchten sie eine Synthese zwischen der Bildung von Mädchen- und Jungengruppen und dem Zusammenhalt als ,alte’ und ,neue’ Gruppe. Dabei scheint abwechselnd mal der Faktor der Geschlechtszugehörigkeit im Vordergrund zu stehen und ein anderes Mal der Faktor der Neuzusammensetzung der Klasse.

Mit freundlicher Genehmigung des transcript Verlages
http://www.transcript-verlag.de/978-3-89942-688-5/schulische-fachkulturen-und-geschlecht

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