Hinweis des Fallarchivs – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:
- Interpretationen von Unterrichtssequenzen durch Studierende Fall 2
- Interpretationen von Unterrichtssequenzen durch Studierende Fall 3
- Interpretationen von Unterrichtssequenzen durch Studierende Fall 4
- Kontrastierung der Interpretationen von Unterrichtssequenzen durch Studierende
Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Es stellt sich damit nun die Frage, welche Schlüsse studentische Praxen fallrekonstruktiver Arbeit im Hinblick auf die Ausbildung der Kompetenz zulassen, die Anforderungen an eine professionelle Bewältigung der Probleme in Schule und Unterricht adäquat zu verstehen? Entsteht bei Lehramtsstudenten eine reflexive Distanz gegenüber Normalitätsmodellen von Unterricht, die man im Rahmen einer mindestens 12-13jährigen Schulkarriere als Schüler und als Praktikant erwarb, gemäß dem Muster „Lehrer lernt man, indem man Schüler war“? Entwickelt sich also eine reflexive und kritische Haltung gegenüber dem, was Emile Durkheim vor über 100 Jahren als „Verewigung der Routine“ beschrieben hat (Durkheim 1977/1906, S. 11)?
Im Folgenden wird ein explorativer Versuch der Beantwortung dieser Fragen unternommen, indem aufgezeigt wird, wie Studenten im Rahmen eines Moduls kasuistischer Ausbildung in typischer Weise Unterrichtsprotokolle interpretiert haben.
(…)
Entsprechend dem beschriebenen explorativen, methodischen Vorgehen werden zunächst die Ergebnisse einer objektiv hermeneutischen Interpretation der von den Studierenden jeweils bearbeiteten Unterrichtssequenz präsentiert und hernach, darauf bezogen, erfolgt die Analyse der entsprechenden Interpretationen der Studierenden. Ausgewählt wurden aus Umfangsgründen sehr kurze, aber aufschlussreiche Ausschnitte.
Sinnerschließung und normative Applikation eines Normalmodells von Unterricht
Eine Studentin wählte die Protokollsequenz einer Mathematik-Geometrie- Stunde in der 5. Klasse zum Thema „Umfang berechnen“. Der Unterricht fand in einer Integrierten Gesamtschule statt.
Nach der Klärung der Differenz zwischen Gerade, Strahl und Strecke stellt der Lehrer eine in eine Geschichte eingekleidete Aufgabe. Der Lehrer visualisiert mit Hilfe ausgeschnittenen Papiers den Fischteich und heftet ihn an die Tafel; es soll nun virtuell ein Zaun gebaut werden – „möglichst eng um den Teich“. Mit diesem Zaun sollen im Eigenverwertungsinteresse eines Bauern ungebetene Angler ferngehalten werden. Der Zaun soll dabei „nicht so riesig sein“, der Bauer „will wenig Geld ausgeben“.
In dieser Aufgabe steckt eine Zweckmäßigkeitsproblematik des sicheren, praktischen und kostengünstigen Zaunbaus, und es stecken darin die abstrakt mathematischen Probleme der Konstruktion und Benennung von Strecken sowie der Umfangsberechnung unter der Maßgabe der Aufwandsminimierung.
In der folgenden Interaktion zeigt sich, dass die Schüler die praktische Planungsaufgabe „virtueller Zaunbau“ optimal zu lösen versuchen und auch lösen, während der Lehrer einerseits auf die abstrakten Probleme der Streckenkonstruktion, Aufwandsminimierung und Umfangsberechnung fokussiert, aber andererseits die Zweckmäßigkeitsproblematik nicht aus der Welt schaffen kann, da sie von ihm ja als Aufgabe gestellt wurde. Dies zeigt sich bspw. in Lehrerantworten auf den Schüler-Einwand, der Zaun sei noch zu niedrig: „Der Zaun ist drei Meter hoch. Auf die Höhe kommt es nicht an“ oder in der zunehmenden Ungeduld gegenüber den praktischen Überlegungen der Schüler: „Leute – So – also irgendwo ist eine Tür im Zaun. – Hast recht, da muss eine Tür rein.“ Es zeigt sich die Logik einer Zwickmühle bzw. das Problem des Zauberlehrlings, der die Geister des praktischen Problems, die er rief, um abstrakte, mathematische Probleme schmackhaft zu verpacken, nicht mehr vertreiben kann.
Die Interpretation der Studentin, die später vorgestellt wird, bezieht sich nun auf den Ausschnitt, mit der dieses Strukturproblem in der Lehrer-Schüler-Interaktion beginnt.
Der Lehrer hat einen Schüler an die Tafel gerufen, der mögliche Standorte für die Zaunpfahle um den Teich herum markiert. Dies wird vom Lehrer mit „Okay“ akzeptiert. Daraufhin sagt eine Schülerin:
SSw: Ja aber, da kann ja immer noch jemand reinkommen.
Die Schülerin formuliert einen Einwand auf der Ebene des gestellten Zweckmäßigkeitsproblems, nicht hinsichtlich der abstrakten Probleme der Aufgabe.
Der Einwand kann eine Reihe von Ursachen haben:
- Nicht alle notwendigen Standorte von Pfosten wurden markiert.
- Es wurde noch kein Zaun gezeichnet.
- Es wurde ein Zaun gezeichnet, aber es besteht ein Darstellungs- oder Übersetzungsproblem (Zweidimensionalität – Dreidimensionalität).
Der Schüler an der Tafel könnte verbal oder zeigend antworten, indem er weitere Pfosten setzt, einen Strich zieht, einen Zaun zeichnet oder die Höhe des Zauns bestimmt. Andere Schüler oder der Lehrer könnten eine der möglichen Ursachen für den Einwand aufgreifen. Lehrer oder Schüler könnten auch sagen, dass es zunächst um die optimale Platzierung der Zaunpfähle geht, oder dass die Zweckmäßigkeitsfragen nur die Verpackung sind, um die mathematischen Aufgabenstellungen (Berechnung des Seitenumfangs des Vierecks) zu transportieren.
Tatsächlich folgt diese Schüleräußerung: QSw stimmt der Vorrednerin zu. SSw ist also mit ihrem praktischen Problem nicht allein. Darauf antwortet der Lehrer:
Lm: Wenn man nun zwischen den Pfählen einen Zaun spannt, dann ist er aber nicht mehr erreichbar.
Der Lehrer versucht den Einwand auszuräumen und verbleibt dabei auf der Ebene des zweckmäßigen Zaunbaus. Er wählt nicht die Option, auf eine zweckoptimalere Platzierung der Pfähle oder auf andere mögliche Ursachen der Äußerung der Schülerin zu fokussieren. Andererseits steuert er auch nicht direkt auf die Ebene der abstrakten Probleme zu, obwohl für eine Umfangsbestimmung per Streckenmessung die Zaunhöhe unerheblich wäre. Bei seinem Klärungsversuch übersieht er ferner, dass das Spannen eines Zauns noch nicht ausreicht, Fremde vom Teich fernzuhalten. Hier käme es auf die Höhe und Art des Zaunes an (z.B. Natodraht).
Das Protokoll lässt ferner die Lesart zu, dass offenbar eine Lehrerzentrierung vorliegt, denn kein Schüler geht auf die Einwände von SSw und QSw ein oder wird aufgefordert; darauf einzugehen. Es wird vom Lehrer nicht auf Selbsttätigkeit gesetzt, sondern auf Vorgabe. Die einwendenden Schülerinnen werden in diesem Text zugleich als „Dummerchen“ und der Sprecher selbst als „Bescheidwisser“ typisiert, als sei gemäß der Aufgabenstellung selbstverständlich, dass auf das Setzen der Pfähle das Ziehen eines Zauns folgen müsse.
Schließlich ist angesichts der Lehrerzentrierung sowie der Kürze der Entgegnung die Lesart möglich, es werde der Wunsch nach rascher Erledigung der Probleme der Schülerinnen ausgedrückt, um schnell auf die abstrakten Problemstellungen zu lenken. Angesichts der Tatsache, dass Letzteres auch direkt thematisierbar gewesen wäre, führt diese Lesart zum Kernproblem des Lehrerhandelns in der gesamten Unterrichtssequenz: der Zwickmühle zwischen praktischer Aufgabenstellung und der Intention, abstrakte Probleme lösen zu wollen.
Wie wird dieser kurze Ausschnitt nun von der Studentin interpretiert?
ST 1 (studentischer Text): Das Problem der Schülerin besteht nicht darin, die Pfosten an die richtige Stelle zu setzen,
Im Text nimmt die Studentin die Haltung einer Diagnostikerin ein. Sie stellt zu recht fest, dass die Schülerin nicht mehr beim Problem des Setzens der Pfosten „an die richtige Stelle“ sei. Es wird also eine von den mehreren denkbaren Lesarten formuliert. Im Text wird weiter unterstellt, dass es jeweils einen „richtigen“ Standort gäbe und nicht mehrere, wie faktisch auch bei der Aufwandsminimierung der Streckenkonstruktion. Ein Problem des deutschen Unterrichts nach den Befunden von PISA.
Die weitere Interpretation,
ST 1: sondern sie übernimmt die Geschichte ,eins zu eins’ und überträgt sie auf die Realität,
ist nun besonders aufschlussreich. Die Diagnose entspricht der Haltung von älteren Geschwistern (Experten) gegenüber jüngeren (Novizen), die die Geschichte vom Weihnachtsmann genauso nehmen, wie sie erzählt wird („eins zu eins“) und nun am Weihnachtsabend auf den Weihnachtsmann warten („überträgt sie auf die Realität“). Die Diagnose impliziert, dass die Textaufgabe „Abschotten eines Fischteich durch einen Zaun“ eine Legende/Verpackung ist, die die mathematischen Probleme der Streckenkonstruktion und Benennung, der Umfangsberechnung und das Problem der Aufwandsminimierung kindgerecht transportiert, sozusagen als trojanisches Pferd oder eben als Weihnachtsmann.
Faktisch ist der Fall, dass die Schülerin sich aktiv an der Lösung des praktischen Problems „zweckmäßiger Zaunbau“ beteiligt und nicht auf die abstrakte Problematik „Streckenkonstruktion und Aufwandsminimierung“ abhebt. Strukturierend für die Interpretation der Studentin ist aber offenbar folgendes Modell vom Umgang mit Textaufgaben in der Mathematik: Erstens steht eine Lösung bereits vorher fest (qua Aufgabe oder qua Lehrermeinung) und zweitens sind Textaufgaben als Verpackung oder Transporteur für darin versteckte abstrakte Aufgabenstellungen zu nehmen.
Die Studentin führt weiter aus:
ST 1: Damit lenkt sie unabsichtlich vom eigentlichen Thema ab und wirft eine neue Fragestellung in den Raum, die sogleich von einer Mitschülerin aufgegriffen wird.
Der Text bestätigt die obige Lesart und zeigt, dass das Modell normativ verwendet wird. Das Ernstnehmen der gestellten Aufgabe erscheint der Studentin als Ablenkung vom Thema. Die Schüler haben demnach von der konkreten Aufgabenstellung zu abstrahieren. Der Zweck der Übung ist – so impliziert der Text der Studentin – nicht das Abschotten des Teichs, sondern die Konstruktion, Benennung und Messung von Strecken unter der Maßgabe der Aufwandsminimierung.
Der Einwand, mit dem „eigentliche[n] Thema“ sei das bloße Platzieren der Zaunpfähle für einen Zaunbau bezeichnet, wird durch den vorausgegangen Text ausgeschlossen („übernimmt die Geschichte eins zu eins und überträgt sie auf die Realität“). Zum eigentlichen Thema gehört das „richtige“ Platzieren der Pfosten, um nach dem Prinzip der Aufwandsminimierung den Strecken Anfangs- und Endpunkte zu geben – also ein abstraktes Problem.
ST 1: Der Lehrer hilft der Schülerin, indem er eine Antwort gibt, um schnell wieder auf das eigene Thema zurück zu greifen. Er vermutet, das Problem der Schülerin damit lösen zu können. Andererseits riskiert er hiermit auch, die Zügel des Unterrichts aus der Hand zu geben, da er sich nun auf die Thematik der Schüler einlässt.
Der studentische Text macht realitätsadäquat auf die Diskrepanz zwischen dem Thema der Schüler und den Intentionen des Lehrers aufmerksam und formuliert die durch den Text gedeckte Lesart, der Lehrer wolle mit dieser Entgegnung schnell auf die abstrakten Problemstellungen zurückkommen. Hier zeigen sich Akte des Sinnerschließens im Text der Studentin.
Es bestätigt sich aber auch die Lesart, dass die Studentin auf die abstrakten Problemstellungen fokussiert. Das praktische Problem der Zweckmäßigkeit sei dagegen die „Thematik der Schüler“. Übersehen wird wiederum, dass es sich um die vom Lehrer gestellte eigentliche Aufgabe handelt. Mangels dieser Erkenntnis kann der Studentin nicht in den Blick geraten, dass das zurecht diagnostizierte „kurze Erledigen des Schülereinwandes“ an dieser Stelle ein Strukturproblem im Lehrerhandeln zeigt, einerseits auf abstrakte Probleme fokussieren zu wollen, und andererseits dies nicht zu können, da das Problem unter Zweckmäßigkeitserwägungen – Abschotten des Teichs durch einen Zaun – gestellt wurde. Hier zeigt sich eine Diskrepanz von Intention und Aufgabenstellung.
Zweitens nimmt die Studentin weiterhin an, dass für den Lehrer die eigentliche Aufgabe auch nur eine Verpackung sei. Denn er will „schnell wieder auf das eigene Thema zurück“ greifen.
Drittens wird der Lehrer als zweckrational handelnder „Helfer“ begriffen. Faktisch allerdings typisiert die Lehreräußerung die Schülerinnen als „Dummerchen“.
Viertens stuft die Studentin das Eingehen auf die Schüler als Risiko, „die Zügel aus der Hand zu geben „ ein und fokussiert mit der Annahme, es gäbe für die Pfahle „eine richtige Stelle“, auf das Normalmodell des eng auf eine einzige Aufgabenlösung hin geführten Unterrichts. Von diesem Modell aus gesehen, erscheint abweichendes Verhalten als riskant. Dieses Modell ergänzt dasjenige, das Textaufgaben als motivierende, aber zu ignorierende Verpackung für abstrakte, fachliche Problemstellungen zu betrachten seien.
Obwohl die Interpretation der Studentin auch Akte der Sinnerschließung aufweist, bestimmen diese beiden Modelle die Interpretation der Studentin wesentlich. Die vorliegende Interaktionssequenz wird danach verstanden, gemessen und beurteilt. Dass die adäquate Sinnerschließung durch eine normative Applikation eines Normalmodells von Mathematikunterricht verhindert wird, ist mit großer Wahrscheinlichkeit auf 13 Jahre Schulerfahrung zurückzuführen. So gehört es z.B. zu den Weisheiten des erfahrenen Schülers, dass man bei Textaufgaben unmittelbar auf die gestellten mathematischen Probleme fokussiert und den Aufgabentext vernachlässigt. Die Applikation des Modells folgt aus der Haltung der nachsichtigen („SSw lenkt unabsichtlich ab“) „Expertin“ bzw. „frühen Schulrätin“ heraus. Es ist begründet also weiter zu vermuten, dass die Studentin die Statuspassage von der Schülerin zur Lehrerin radikal mit der Orientierung an einem Normalmodell dieses Handelns versucht zu lösen: durch Verewigung der Routine.
Beratung kann immanent im Allgemeinen über das Aufzeigen der Diskrepanzen zwischen dem Unterrichtsprotokoll und der studentischen Interpretation ansetzen und im Besonderen daran, dass die Studentin zwar das Brenzlige der Lehrer-Schüler-Interaktion bemerkt, sogar sinnerschließend die Diskrepanz zwischen Geschehen und Intentionen des Lehrers ausmacht, aber die eigentliche Ursache nicht findet. Es wäre vor der Interaktionsanalyse eine Analyse der Aufgabenstellung durchzuführen, dann fiele auf, dass die Schülerin im Rahmen des gestellten Problems agiert „und nicht vom eigentlichen Thema abweicht“. Dabei kann auch die Bedeutung methodisch kontrollierten Vorgehens verdeutlicht werden. Denn zu vermuten ist, dass die Studentin nicht sequentiell interpretiert hat, sondern im hermeneutischen Zirkel, da im Verlauf der Gesamtsequenz die eigentliche Intention des Lehrers offensichtlich wird (am Ende der Sequenz verbietet der Lehrer genervt den Schülern das Ausmessen des konstruierten Zauns – also die eigentliche Lösung des gestellten Zweckmäßigkeitsproblems), sich aber das Agieren in der Strukturlogik des Zauberlehrlings nur über eine sequentielle Interpretation erschließt.
Mit freundlicher Genehmigung von Budrich UniPress
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