Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten 

[…]

Im Folgenden soll eines der „Instrumente der Qualitätssicherung“ – wie es bei einem der geistigen Väter der aktuellen „Evaluationskultur“, bei An­dreas Helmke heißt [1] – genauer betrachtet werden, das Instrument der „Ver­gleichsarbeiten“. Es soll um Vergleichsarbeiten eines bestimmten Typus ge­hen, nämlich um denjenigen Typus, der auch als „Parallelarbeit“ bezeichnet wird. Diesen kennzeichnet – wie sich etwa bei Helmke nachlesen lässt -, dass der Geltungsbereich der Arbeit auf eine Schule bzw. die Klassen einer Jahr­gangsstufe einer Schule beschränkt ist und dass die Parallelarbeit nicht von Experten entworfen wird, die nicht zu derjenigen Schule gehören, in der sie geschrieben werden soll, sondern von den Lehrern vor Ort. […]

Bei dem ausgewählten Beispiel handelt es sich um eine Unterrichtsstunde, die im Fach Deutsch in der Jahrgangsstufe 10 an einer kooperativen Gesamt­schule in Hessen stattgefunden hat.[2] Die Stunde dient der Vorbereitung einer Klassenarbeit, in der die Schüler eine politische Rede nach vorbereiteten Kri­terien analysieren sollen.[3]

Aus den ersten Zeilen des Transskripts geht hervor, dass eine Schülerin (Sw14) vor der Klasse steht, dort, wo sich normalerweise der Lehrer befindet. Der Lehrer selbst hat sich auf dem Platz eben dieser Schülerin niedergelas­sen. Aus diesem Arrangement lässt sich schließen, dass der Unterricht nicht als Frontalunterricht durchgeführt werden soll, dass vielmehr der Lehrer sich in die Position eines Zuhörers bzw. eines Schülers begibt und – komplemen­tär dazu – einer Schülerin seine Position überlässt, die nun im Zentrum der Aufmerksamkeit der Klasse stehen wird. Neben ihr befindet sich ein Overheadprojektor, was die Erwartung weckt, dass die Schülerin im Folgenden etwas „präsentieren“, also einen „mediengestützten Vortrag“ halten wird.

Obwohl der Lehrer sich auf den Platz eines Schülers begeben hat, hat er die Lehrerrolle nicht gänzlich aufgegeben. Vielmehr rahmt er das folgende Geschehen, indem er den Unterricht mit einem informierenden Unterrichts­einstieg beginnt.

L: (…) Das ist heute die letzte Stunde vor der Vergleichsarbeit am Dienstag.

Ohne die Klasse zu begrüßen, spricht der Lehrer unmittelbar über die gegen­wärtige Stunde. Mit seinem Einstieg geht er jedoch nicht dergestalt auf die Stunde ein, dass er das Thema nennt, das behandelt werden soll, er die Klasse mit einem Problem konfrontiert, das im Folgenden gelöst werden soll oder in irgendeiner anderen Weise ein Vorhaben beschreibt, das für die SuS zu etwas Neuem führen könnte. Vielmehr definiert er die gegenwärtige Stunde da­durch, dass er sie als „letzte Stunde vor der Vergleichsarbeit“ bestimmt. Da­mit weckt er die Erwartung, dass sie ausschließlich der Vorbereitung auf die­se Arbeit dienen wird.

Unabhängig davon, ob es nun um eine normale Klassenarbeit oder eine Vergleichsarbeit geht, lässt sich die Frage stellen, wie eine solche „letzte Stunde davor“ gestaltet werden kann. Verschiedene Möglichkeiten sind hier denkbar: Zum einen ist es möglich, eine solche Stunde ganz offen zu halten, so dass die SuS (noch einmal) die Möglichkeit erhalten, Fragen und Proble­me vorzubringen, die für sie noch bestehen und die sie vor der Arbeit noch geklärt wissen wollen. Möglich ist aber auch in dieser Stunde den „Stoff“, der in den Stunden erarbeitet wurde, noch einmal zu wiederholen bzw. das Gelernte einfach noch einmal zu üben – entweder damit die SuS eine wach­sende Sicherheit in der Beherrschung des „Stoffes“ gewinnen oder damit eventuell noch vorhandene, aber nicht artikulierte Probleme aufgedeckt und besprochen werden können. Wie will der Lehrer im vorliegenden Fall vorge­hen?

Und da werden wir heute zwei Dinge machen. Wir werden, wir werden ein­mal das besprechen, was die Sw14 (unverständlich) geschrieben hat

Das erklärt, warum Sw14 vor der Klasse neben dem Overheadprojektor steht: Sie wird von dort aus einen Text präsentieren, den sie geschrieben hat. Dieser wurde auf eine Folie gezogen, die die Klasse gleich zu sehen bekommen wird. In welcher Weise Sw14 ihren Text präsentieren wird – ob sie ihn nur zeigt und die SuS ihn still lesen, ob sie ihn vorliest oder ob sie ihn auch kommentiert -, das wird sich zeigen. Der Lehrer spricht ihr jedoch keine he­rausgehobene Rolle zu: Im Folgenden soll ein Gespräch geführt werden, an dem Sw14 sich in gleicher Weise wird beteiligen können wie alle anderen SuS auch. Zu erwarten ist, dass an dieser Arbeit exemplarisch dasjenige besprochen wird, was für die bevorstehende Arbeit relevant ist. Dass ausge­rechnet die Arbeit von Sw14 (und nicht von einer anderen Schülerin/einem anderen Schüler) zum Gegenstand wird, lässt vermuten, dass der Lehrer die Besprechung gerade dieser Arbeit für besonders lehrreich hält. Dies könnte sie entweder deswegen sein, weil an ihr deutlich wird, wie die Arbeit keines­wegs bewältigt werden sollte – sie würde also als negatives Beispiel dienen. Oder sie stellt ein besonders positives Beispiel dar, das der Klasse vor Augen führt, wie die bevorstehende Arbeit erfolgreich bewältigt werden könnte.

und zum anderen werden wir noch einmal die Gelegenheit haben am Ende der Stunde, speziell auch zur Stunde, Fragen zu stellen.

Plausibel wäre es, wenn der Lehrer gesagt hätte, dass am Ende der Stunde noch einmal Fragen zur Arbeit gestellt werden können. Stattdessen aber spricht der Lehrer von Fragen zur Stunde, genauer gesagt, „speziell auch zur Stunde“. D.h. Fragen zur Arbeit können zwar auch gestellt werden, aber diese Möglichkeit wird von dem Lehrer nicht „speziell“ angesprochen. Warum?

Geht er davon aus, dass, wenn alle Fragen zur Stunde geklärt sind, keine zur Arbeit mehr bestehen werden? Oder zeigt sich an dieser Stelle vielleicht eine gewisse Reserve bzw. der Wunsch: „Bitte sprecht mich nicht auf die Arbeit an“?

Auffällig ist allemal, dass der Lehrer die Stunde auf eigenartige Weise in zwei Teile trennt bzw. wie er dies tut. Wenn der Lehrer erklärt, dass „am En­de der Stunde“ – Wann ist das? Sind das die letzten fünf Minuten? – Fragen gestellt werden können, so geht er ja von der Annahme aus, vorher würden solche nicht auftauchen. D.h. der Lehrer stellt sich die Besprechung des Tex­tes von Swl4 als bloße Zurkenntnisnahme vor: Diese stellt offensichtlich ein positives Modell dar (denn würde Sw14 ein Negativbeispiel präsentieren, würde selbstverständlich die Frage aufkommen, wie denn die Aufgabe posi­tiv gelöst werden, wie denn ein positives Beispiel aussehen könnte), das kei­ne Fragen aufwirft bzw. alle Fragen überflüssig macht, da durch es evident wird, wie die im Hintergrund stehende Aufgabenstellung – mit der diejenige der Arbeit identisch sein wird – zu lösen ist.

So, Sw14, wir besprechen das Ganze, Abschnitt für Abschnitt.

Mit „so“ beendet der Lehrer seinen informierenden Unterrichtseinstieg und leitet zu dem nächsten Schritt über. Er wendet sich an die Schülerin, die vor­ne neben dem Overheadprojektor steht, und sagt ihr, was nun folgen soll: die sukzessive Besprechung des „Ganzen“. Ihr Text ist offensichtlich in Ab­schnitte gegliedert und dieser Gliederung soll nun systematisch gefolgt wer­den. Und diese Systematik bedingt: Es wird kein Abschnitt übergangen oder ausgelassen. Entsprechend sollte am Ende auch alles klar sein, sollten keine Fragen mehr bestehen.

Nehmt bitte die Struktur, diese allgemeine Struktur zur Hand,

Mit dieser Äußerung wendet sich der Lehrer nun wieder an die ganze Klasse. Was ist es für eine „Struktur“, die die SuS zur Hand nehmen sollen? „Allge­mein“ kann nur heißen: Unabhängig von jeder Besonderheit, unabhängig von der einzelnen Aufgabe als einem Spezialfall ist diese „allgemeine Struktur“ zu berücksichtigen. Die SuS sollen sie nun heranziehen, weil auch der Text von Sw14 dieser entsprechen sollte. Diese „Struktur“ wird damit zum Maß­stab, an den alle „Lösungen“ angelegt werden können, der sich allerdings für die SuS offensichtlich nicht von selbst erklärt. Es scheint auch nicht zu genü­gen, ihn abstrakt zu erklären. Nur vermittelt über die Besprechung von Bei­spielen wird klar – so wird unterstellt -, wie man ihm gerecht werden kann.

Es kann davon ausgegangen werden, dass diese „allgemeine Struktur“ nicht nur relevant für die Besprechung des Beispiels, das Sw14 nun präsentie­ren wird, sondern auch für die Arbeit ist. Und diese wird so aussehen, dass der „Gegenstand“, das Material inhaltlich gesehen anders, neu und also den SuS unbekannt, dass die Aufgabe, die die SuS lösen sollen, jedoch identisch sein wird. Die „allgemeine Struktur“ besteht also aus einer Reihe formaler Bedin­gungen, die unabhängig davon, worum es inhaltlich geht, zu beachten ist.

die wir letzte Woche erarbeitet hatten, am Dienstag,

Dem Lehrer scheint wichtig zu sein hervorzuheben: Die „allgemeine Struk­tur“ ist nicht etwas, das er den SuS autoritativ gesetzt hat. Vielmehr haben die SuS sich diese erarbeitet. Sie müsste ihnen also nicht nur bekannt, son­dern auch für sie verständlich und logisch nachvollziehbar sein.

und dann wollen wir mal überprüfen, ob das alles so hinkommt, oder ob es Stellen gibt, die man verbessern kann.

Damit beschreibt der Lehrer, wie im Folgenden mit der „allgemeinen Struk­tur“ umgegangen, wie mit ihr operiert werden soll: Sie wird, wie bereits ver­mutet wurde, zum Maßstab, an dem der Text von Sw14 „überprüft“ wird. Interessant ist, dass es dem Lehrer nicht um richtig oder falsch geht, sondern allein darum, dass eine an sich bereits gute Arbeit allenfalls noch „verbes­sert“ werden könnte.

So. Sw14, bitte. 

Der Lehrer erteilt Sw14 nun das Wort. Auf deren Text sowie auf den Um­gang mit diesem soll im Folgenden kurz eingegangen werden. Zwei Fragen werden dabei zu verfolgen sein: Zum einen stellt sich die Frage, wie die Vor­gabe der „allgemeinen Struktur“ – die aus dem Text erschlossen werden muss, da sie in reiner Form (z.B. als Kopie einer Schülerheft-Seite oder als Arbeitsblatt) nicht vorliegt – sich auf die Bearbeitung des Gegenstandes, eine politische Rede, auswirkt. Zum anderen ist zu fragen, wie über den Text von Swl4 im Folgenden gesprochen wird.

IV

Die Schülerin Sw14 beginnt folgendermaßen:

Sw14: Also, Richard Weizsäcker, 8. Mai 1945, vierzig Jahre danach.

Bevor die Schülerin Sw14 mit ihren Ausführungen beginnt, macht sie erst einmal eine Zäsur, die ihren Zuhörern signalisiert: Jetzt geht es los. Dann nennt sie einen Namen, den Namen eines Politikers, der von 1984 bis 1994 Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland war. Direkt auf diesen Namen folgt ein Datum, das Datum, an dem der Zweite Weltkrieg offiziell endete. Als Drittes folgt erneut eine Zeitangabe, jedoch keine absolute, sondern eine relationale. Diese, genauer gesagt, das „danach“ kann nur auf das Datum des Kriegsende bezogen sein. Es geht also um den 8. Mai 1985. Diese drei Punkte – ein Name und zwei Daten – werden nicht explizit in ei­ne Relation zueinander gebracht, sondern einfach „in einem Atemzug“ ge­nannt, also abstrakt und unverbunden nebeneinander gestellt. Wie ist dies zu deuten?

Sw14 bezieht sich offensichtlich auf die Rede, die der damalige Bundes­präsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag gehalten hat und in der er über das Ende des Zweiten Weltkrieges ge­sprochen hat.[4] Warum macht sie dies in der eben beschriebenen Weise? Man könnte meinen, dass Sw14 einen komplexen und hoch brisanten Zusammen­hang, der stilistisch gesehen auch ganz anders hätte benannt werden können, etwa in der Form des im Deutschunterricht üblichen „Einleitesatzes“: „Es handelt sich um eine Stellungnahme des damaligen Bundespräsidenten Ri­chard von Weizsäcker aus dem Jahre 1985 zu der Frage, wie das Ende des Zweiten Weltkrieges zu sehen ist“, in äußerst reduzierter und verdichteter Form formulieren will, weil die Standardform recht „hölzern“ wirkt. Tatsäch­lich ist dieser Zusammenhang ja hoch brisant: Richard von Weizsäcker war damals nicht „irgendwer“, sondern der höchste Repräsentant des deutschen Staates, seine Stimme war gewissermaßen diejenige Deutschlands (genauer gesagt Westdeutschlands) – zumindest nach außen. Und von Weizsäcker hat sich 1985 zu der für das Geschichtsbewusstsein der Deutschen zentralen Fra­ge geäußert, wie der Nationalsozialismus und die zu seiner Zeit begangenen Verbrechen, wie vor allem auch die Vernichtung der europäischen Juden 40 Jahre nach Kriegsende zu sehen sind. In der Deutung dieses Datums kristalli­siert sich das historische Bewusstsein der Deutschen und darüber hinaus auch ihr Verhältnis zur Bundesrepublik, ihrer institutionellen Verfasstheit, die als Antwort auf die deutsche Geschichte verstanden werden kann.

Anzunehmen ist jedoch, dass Sw14 diese stilistische Variante gewählt hat, weil die „allgemeine Struktur“ dies so verlangt. Das würde bedeuten, dass diese als erstes vorsieht, dass Autor, Thema und Zeitpunkt der zu analysierenden Re­de kurz genannt werden. Dies hat Sw14 mit dem ersten Satz getan.

Immer schon gab es Diskussionen darüber, ob der 8. Mai 1945, der Tag der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands am Ende des Nazi-Regimes, ein Tag der Niederlage oder ein Tag der Befreiung war.

Sw14 geht nicht unmittelbar auf die Rede von Weizsäckers ein, sondern holt weiter aus. „Immer schon“ habe es eine Diskussion über die Deutung des Kriegsendes gegeben. Das kann freilich nicht sein, sondern es kann nur hei­ßen: seit diesem Datum gab es eine solche Diskussion. Seitdem sei über zwei alternative Deutungen diskutiert worden, die auf folgende Opposition ge­bracht werden: Entweder sei das Kriegsende, sei der 8. Mai 1945 als ein „Tag der Niederlage“ oder er sei als ein „Tag der Befreiung“ zu sehen. Diese Al­ternative überrascht: Gab es nur diese beiden Möglichkeiten der Deutung? Das Ende des Zweiten Weltkrieges wurde doch gewiss sehr unterschiedlich erlebt und gedeutet – in Abhängigkeit von der Vielzahl unterschiedlicher Si­tuationen, in denen Menschen sich damals befanden. Und gab es auch 1985 nur diese beiden Deutungen des 8. Mai 1945? Und wie ist es – 1985! – mög­lich, den 8. Mai 1945 als einen „Tag der Niederlage“ zu verstehen? Welches Verhältnis zum Nationalsozialismus, zur Katastrophe des Zweiten Weltkrie­ges und zu den grausamen Verbrechen der Nationalsozialisten impliziert es, wenn man 1985 den 8. Mai 1945 als einen „Tag der Niederlage“ bezeichnet? Das ist doch kaum vorstellbar! Vom heutigen Standpunkt aus plausibler er­scheint es dahingegen, den 8. Mai 1945 als den „Tag der Befreiung“ zu se­hen. Doch hat das nicht auch Implikationen, die problematisch sind? Werden dadurch nicht einfach alle zu Opfern, so dass die Verantwortung, die jemand persönlich für dasjenige trägt, was vor dem 8. Mai 1945 geschehen ist, aus­geblendet wird – und auch die Verantwortung all jener, die zwar persönlich kein Unrecht begangen haben, aber als Deutsche Teil derjenigen politischen Gemeinschaft sind, zu deren Geschichte der Nationalsozialismus und die zu seiner Zeit begangenen Verbrechen gehören?

Auch wenn Sw14 das Spektrum von Deutungen, vor dessen Hintergrund Richard von Weizsäcker mit seiner Rede Stellung bezogen hat, richtig umreißt, so sind doch damit etliche Fragen verbunden, die zu klären sich lohnen würde.

Damit setzte sich auch der damalige Bundespräsident Richard von Weizsä­cker in seiner Gedenkrede am 8.5.1985 anlässlich der vierzigjährigen Wie­derkehr des Kriegsendes vor dem Deutschen Bundestag in Bonn auseinander.

Die Rede Richard von Weizsäckers wird als Beitrag zu der Debatte über jene kontroverse Sicht auf das Kriegsende bestimmt, wie sie mit der oben genann­ten Dichotomie umrissen wurde. Sachlich gesehen kann Sw14 auf der einen Seite zugestimmt werden: Von Weizsäcker versucht vor dem Hintergrund dieser Debatte eine klare Position zu beziehen. Auf der anderen Seite lässt sich die Behauptung von Sw14 allerdings auch in Frage stellen: Wer die Re­de kennt, der weiß, dass sie mehr ist als ein Beitrag zu dieser Debatte. In ihr entwickelt von Weizsäcker eine Sicht, die über die genannte Dichotomie hi­nausgeht. Für von Weizsäcker ist der 8. Mai 1945 sowohl ein „Tag der Be­freiung“ als auch ein „Tag der Erinnerung“, „ein Tag der Erinnerung an das, was Menschen erleiden mussten.“[5] Seine Rede ist auch nicht allein in der Absicht gehalten worden, zur Klärung der Argumente beizutragen, die in die­ser Debatte vorgebracht wurden. Und das heißt: Mit ihrer Kontextualisierung der Rede von Weizsäckers interpretiert die Schülerin Sw14 diese bereits bzw. formuliert sie eine These zu dieser.

V

Wie wird nun auf die Ausführungen von Sw14 reagiert? Wird auf die mit ih­nen verbundenen inhaltlichen Fragen eingegangen? Fühlen sich die SuS wo­möglich zu einer Stellungnahme herausgefordert? Können sie sich mit einer der beiden Deutungsmöglichkeiten identifizieren? Sehen sie das Kriegsende als „Tag der Niederlage“ oder als „Tag der Befreiung“? Halten sie diese Op­position überhaupt für richtig bzw. angebracht? Oder halten sie es für not­wendig, sich von dieser Alternative zu distanzieren und eine differenziertere Position einzunehmen? Oder „überprüfen“ sie allein, wie es der Lehrer von ihnen erwartet, ob die Ausführungen von Sw14 den Anforderungen der „all­gemeinen Struktur“ entsprechen?

Zunächst erfolgt ein euphorisches Lob einer Mitschülerin (Zeile 25: „Sehr gut.“), dann kommen einige Nachfragen:

Sm7: Äh, stand drauf, wo die Rede erschienen ist,

Auf die inhaltliche Dimension des Textes von Sw14 wird nicht eingegangen, obwohl er Fragen aufwirft und letztlich auch zur Diskussion herausfordert, wird auf ihn nicht Bezug genommen. Weder erklärt Sm7, wie er selbst das Kriegsende sieht, noch äußert er sich zu den beiden Deutungsangeboten zum 8. Mai 1945. Stattdessen geht er auf einen formalen Aspekt ein: auf den Erscheinungsort der Rede. Zu vermuten ist, dass auch dies eine der Bedingungen ist, denen jede Analyse einer politischen Rede genügen soll: Am Anfang soll gesagt werden, wo sie erschienen ist. Jedoch ist die Frage von Sm7 so formuliert, dass deutlich wird: Nur dann, wenn der Erscheinungsort auch angegeben ist, sollte er auch zu Beginn der Analyse erwähnt werden.

Auf die Antwort, die gegeben wird, soll nicht eingegangen werden, jedoch auf die nächste Frage:

Sm19: Eher ne Frage eigentlich: Muss da in die Einleitung noch rein, vor wem die Rede gehalten worden ist, oder genügt das?

Was zu der ersten Reaktion gesagt wurde, lässt sich hier wiederholen: Die inhaltliche Dimension spielt auch in der Bemerkung von Sm19 keine Rolle. Es geht wieder nur um formale Bedingungen. Hinzu kommt, dass mit dieser Frage indirekt auf die bevorstehende Arbeit Bezug genommen wird: Genügt es in der Arbeit die „Einleitung“ so zu schreiben, wie Sw14 es getan hat? Auf diese ist die Besprechung des Textes ausgerichtet.

VI

Die Analyse des ersten Abschnitts aus dem Text von Sw14 hat deutlich ge­macht, wie die Ausführungen auf die Anforderungen reagieren, die in der „allgemeinen Struktur“ formuliert sind. Es kann davon ausgegangen werden, dass diese verlangt, die Analyse mit einer „Einleitung“ zu beginnen, in der die Antworten auf die W-Fragen enthalten sind: Wer hat wann, wo zu wem über welches Thema gesprochen? In ähnlicher Weise ließen sich die anderen Anforderungen, denen die SuS entsprechen sollen, den weiteren Ausführungen von Sw14 entnehmen. Sie im Einzelnen herauszupräparieren würde den Rahmen des vorliegenden Aufsatzes sprengen, deswegen seien sie hier kurz genannt. Die „allgemeine Struktur“ könnte folgendermaßen aussehen:

  1. Einleitung: Beantwortung der W-Fragen
  2. Hauptteil: inhaltliche Zusammenfassung der Rede und Analyse ihrer sti­listischen Mittel
  3. Schluss: Fazit (eventuell mit einer persönlichen Stellungnahme)

Für die „Einleitung“ schien es letztlich nur notwendig zu sein, die erforderli­chen Informationen dem Text bzw. dem Arbeitsblatt zu entnehmen und aus ihnen einen Satz (oder auch mehrere) zu formen. Welche Anforderungen sind mit den anderen Teilen verbunden?

Zu 2.: Die „Zusammenfassung“ führt zu einigen Schwierigkeiten, welche auch in dem Gespräch, das auf den Vortrag des entsprechenden Teils der Ar­beit von Sw14 folgt, deutlich zur Sprache kommen: Für die „Zusammenfas­sung“ sei es notwendig, „Wichtiges“ von „Unwichtigem“ zu unterscheiden (da nur ersteres in die Zusammenfassung aufgenommen werden soll.) Doch wie macht man das? Wie lässt sich erkennen, was wichtig und was unwichtig ist? Diese Frage liegt nahe, wird im Unterricht allerdings nicht gestellt. Des Weiteren wird die Norm erwähnt, die Zusammenfassung dürfe nicht „text­nah“ sein. Doch wann ist eine Formulierung „textnah“ und wann nicht? Diese Frage steht im Raum, wird allerdings nicht wirklich beantwortet: Als eine Schülerin moniert, die Ausführungen von Sw14 würden doch dieser Norm widersprechen, verteidigt der Lehrer den Text von Sw14 und zwar indem er zurückfragt, wie Sw14 sich denn sonst hätte ausdrücken sollen. Eine andere Ausdrucksweise sei doch gar nicht möglich gewesen.

Schließlich wird auch das Problem der Länge angesprochen. Auf dieses gibt der Lehrer die Antwort, die Zusammenfassung müsse eben kürzer sein als das Original. Die Möglichkeit der Kürzung ergebe sich daraus, dass nicht auf alle Beispiele, die in einer Rede angeführt werden, eingegangen werden muss. Es würde genügen „stellvertretend zwei, drei wichtige“ zu nennen. Das Problem, wie zwischen „wichtig“ und „unwichtig“ unterschieden werden kann, taucht hier erneut auf.

Was die Analyse der stilistischen Mittel betrifft, so scheint die „allge­meine Struktur“ hier Hilfestellungen zu bieten und zwar in dem Sinne, dass zum einen eine Reihe stilistischer Mittel aufgelistet werden – z.B. rhetorische Fragen, Metaphern, Anaphern etc. Zum anderen wird abstrakt dargelegt, wo­rin die Wirkung dieser Mittel bestehen könnte. Die SuS müssen also, wenn sie diesen Teil der Analyse durchführen wollen, die einzelnen Elemente im Text identifizieren und einer dieser Kategorien zuordnen, müssen also z.B. eine Metapher im Text identifizieren können. Zum anderen müssen sie inso­fern einen „Transfer“ leisten, als sie dasjenige, was die „allgemeine Struktur“ über die mögliche Wirkung (und Wirkungsabsicht) eines stilistischen Mittels sagt, plausibel auf den konkreten Fall anwenden, so dass sie zu einer stimmi­gen Deutung des Elementes in seinem Kontext gelangen. In diesem Zusam­menhang könnte eine Vielzahl von Fragen aufkommen – was allerdings nicht geschieht. Und der Lehrer scheint darauf zu setzen, dass durch die Präsenta­tion von Beispielen (wie demjenigen von Sw14) den SuS die Dinge schon allmählich klar werden.

Zu 3.: Die Analyse soll abgeschlossen werden mit einem Fazit, das insofern die Ergebnisse der „Analyse“ zusammenfasst, als es festhält, an wen die Rede gerichtet war, welche Intentionen mit ihr verfolgt wurden und welche Folgen sie wohl gehabt hat. Darüber hinaus kann auch eine persönliche Stellung­nahme zu der Rede formuliert werden.

Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass dasjenige, was sich in besonders eindringlicher Form am ersten Teil der Arbeit und den auf diesen folgenden Reaktionen zeigte, auch für den Rest der Stunde gilt: Inhaltliche Fragen, die mit der „Sache“ zu tun haben, kommen nicht zur Sprache. Der Akzent liegt auf den formalen Bedingungen, die in der „allgemeinen Struktur“ zusammengefasst sind. Und im Hinblick auf diese scheint vor allem bedeutsam zu sein, wie mit ihnen praktisch umzugehen ist. Zu vermuten ist, dass etliche Fragen in dem vorangegangenen Unterricht angesprochen wurden – z.B. wie „Wichtiges“ von „Unwichtigem“ unterschieden werden kann, was Metaphern sind und welche Funktion sie im Kontext politischer Reden haben können. Dennoch lässt sich sagen, dass dem Unterricht der analysierten Stunde eine Tendenz zur Hypostasierung formaler Kriterien sowie zum pragmatischen Umgang mit diesen innewohnt, die sich auch in anderen Fällen von Unterricht schon mehrfach gezeigt hat.[6] Diese Tendenz wird dadurch verstärkt, dass es sich bei dieser Stunde um die letzte vor einer Arbeit handelt und nicht zuletzt auch dadurch – so meine These dass es bei dieser Arbeit um eine „Vergleichsarbeit“ geht.

VII

Im Zusammenhang mit der Besprechung des ersten Abschnitts des Textes von Sw14 wird von einem Schüler die Frage gestellt, ob ein bestimmtes Element in der Arbeit enthalten sein soll (eine „Hinleitung“). Auf diese Frage gibt der Lehrer folgende Antwort: 

L: Tja,

Eigentlich verlangt die Frage nach einer „Hinleitung“ als Antwort entweder ein ,ja“ oder ein „nein“. Doch scheint der Lehrer verlegen zu sein, scheint keine eindeutige Antwort geben zu können oder zu wollen.

aIs wir die, die Klassenarbeit für den Dienstag konzipiert haben,

statt eine eindeutige und klare Antwort zu geben, nimmt der Lehrer Bezug auf den Prozess der Planung der Arbeit. „Wir“, das sind die Kollegen, ist das Kollektiv der an der Konzeption der Vergleichsarbeit beteiligten Lehrer, zu dem auch der Sprecher selbst gehört. Was könnte der Grund dafür sein, dass dieser jetzt auf den kollektiven Planungsprozess zu sprechen kommt? Zwei Gründe sind denkbar: Zum einen könnte es sein, dass bezüglich der Frage, ob eine „Hinleitung“ zur Analyse politischer Reden gehört, in der Planungsgruppe keine Entscheidung getroffen wurde. Ursache dafür könnte entweder sein, dass diese Frage gar nicht angesprochen wurde – sie zu klären, wurde vergessen oder es war keine Zeit mehr dafür vorhanden -, oder die Frage wurde zwar diskutiert, jedoch konnten die Kollegen sich nicht auf eine Lö­sung dieser Frage einigen. Zum anderen wäre es möglich, dass im Rahmen des Planungsprozesses eine Entscheidung zwar getroffen wurde, diese aber den Erwartungen der SuS widerspricht, da sie nicht im Einklang mit dem steht, was der Lehrer bisher gesagt hat und worauf die SuS durch den Unter­richt, wie er in den letzten Tagen, ja, womöglich sogar Wochen stattgefunden hat, vorbereitet sind. „Für diese Entscheidung“ – so würde der Lehrer den SuS dann signalisieren – „bin ich nicht verantwortlich. Hätte ich die Arbeit allein konzipiert, dann hätte ich die Frage anders entschieden. Doch da ich in ein Kollektiv eingebunden bin und dessen Entscheidungen für alle bindend sind, müssen diese auch von euch, den SuS akzeptiert werden.“

Nun wüsste man gerne, wie denn in dem Kollektiv der Lehrer entschieden wurde. Schwer vorstellbar ist, dass in dieser Gruppe einzelne Lehrer einfach überstimmt wurden (weil das Mehrheitsprinzip galt). Da es sich um eine Grup­pe von Gleichgestellten handelt, ist eher davon auszugehen, dass Entscheidun­gen nur dann getroffen werden, wenn alle zustimmen (also das Konsensprinzip gilt.) Gibt das Transkript im Folgenden über diese Frage eine Auskunft?

haben wir uns auch darüber unterhalten.

„Auch darüber“ heißt: Auch über die Frage, die ein Schüler (Sm15) soeben aufgeworfen hat, die Frage nach einer „Hinleitung“ wurde – neben anderen – in der Planungsgruppe gesprochen. Sie war Gegenstand, als es darum ging, die Vergleichsarbeit zu „konzipieren“.

Ich bin der Meinung,

Die Ausführungen des Lehrers nehmen eine überraschende Wendung. Wenn davon ausgegangen wird, dass in der Planungsgruppe eine Entscheidung im Hinblick auf die Frage der „Hinleitung“ getroffen wurde, so kann die Tatsache, dass der Lehrer diese Entscheidung nicht unmittelbar der Klasse kund tut, son­dern ihr seine eigene Meinung mitteilt, so gedeutet werden, dass er sich dezidiert von dem Ergebnis, das in der Gruppe ausgehandelt wurde, distanziert, sich ein­fach souverän über dieses hinwegsetzt. In der Situation, einerseits durch die ge­meinsamen Absprachen mit den Kollegen gebunden zu sein, andererseits aber zu wissen, dass diese im Widerspruch zu dem stehen, was bisher mit den Schü­lern besprochen wurde, was diese gelernt haben und im Hinblick auf die bevor­stehende Arbeit erwarten, schlägt der Lehrer sich auf die Seite der SuS. Dann würde sich aber die Frage stellen, warum er es soweit hat kommen lassen und warum er nicht zu verhindern versucht hat, dass die Planungsgruppe eine solche Entscheidung trifft. Der gemeinsame Planungsprozess würde so zur Farce.

Deswegen ist eher davon auszugehen, dass die Frage nach der „Hinlei­tung“ zwar in der Gruppe diskutiert wurde, doch man dort nicht zu einem eindeutigen Ergebnis gekommen ist. Und das bedeutet, dass der Lehrer nun eine offen gebliebene Frage, die eigentlich von der Planungsgruppe hätte entschieden werden müssen, eigenmächtig klärt. Und da momentan die letzte Möglichkeit gegeben ist, den Schülern eine Antwort auf die noch offene Frage zu geben, da nicht länger gewartet werden kann, bis sich die Planungsgruppe noch einmal trifft und die Frage ausdiskutiert, muss der Lehrer dies jetzt tun – und er macht es in einer sehr deutlichen und entschiedenen Art. Ja, der Lehrer inszeniert seine Meinungsäußerung so deutlich, dass den Schülern der Eindruck vermittelt wird, dass sie sich auf seine Worte verlassen können. Wie auch immer in der Planungsgruppe diskutiert oder entschieden wurde (oder eben auch nicht entschieden wurde): Was der Lehrer jetzt sagt, das zählt. Angesichts dessen, dass die Schüler wissen wollen, woran sie sind, übernimmt der Lehrer demonstrativ die Verantwortung.

dass es das Ganze abrundet, wenn man eine solche Hinleitung schreibt,

Damit gibt der Lehrer nun nicht nur seine subjektive Meinung kund, vielmehr scheint das nun die Norm zu sein, die für die Arbeit gilt: Eine „Hinleitung“ gehört dazu. Die Begründung dafür ist seine eigene, die von den Kollegen nicht geteilt worden zu sein scheint.

ähh, andere Kolleginnen und Kollegen waren der Meinung, das brauche man nicht.

Nun wird auch die gegenteilige Position, die offensichtlich von mehreren in der Planungsgruppe vertreten wurde, wiedergegeben. Eine „Hinleitung“ sei überflüssig.[7] Deutlich wird auf jeden Fall: Man kann die Sache so oder so sehen. Offensichtlich gab es im Gespräch der Gruppe einige Punkte, die unstrittig waren und auf die man sich einigen konnte. Andere Punkte aber wurden unterschiedlich gesehen – und deswegen wurden sie auch nicht geklärt.

Macht, äh, das so, wie wir das bis jetzt immer gemacht haben.

Es kann davon ausgegangen werden, dass die Art, wie die SuS „das bis jetzt immer gemacht haben“, darin besteht, dass eine „Hinleitung“ geschrieben wird. Der Grund dafür ist jedoch nicht – allein – die subjektive Meinung des Lehrers, sein ästhetisches Empfinden, das ihm sagt, so sei „das Ganze“ „ab­gerundet“. Vielmehr wird nun noch ein anderer Grand genannt: Weil die Klasse es so gelernt und es „schon immer“ so gemacht hat, soll auch in der Arbeit eine „Hinleitung“ geschrieben werden. Die Arbeit soll im Einklang damit stehen, was im Unterricht zuvor passiert ist.

Aller Wahrscheinlichkeit nach spielte das Problem der Kontinuität auch bei der Planung in der Gruppe der Lehrer eine Rolle: Die Kollegen hatten die Unterrichtseinheit zur Analyse politischer Reden unterschiedlich geplant – und entsprechend auch unterschiedlich unterrichtet. Das machte es schwierig, sich auf bestimmte Punkte für die Parallelarbeit zu einigen. Also nicht nur die individuellen Vorstellungen von dem, wie die Analyse einer politischen Rede aussehen soll, sondern auch die unterschiedlichen Planungen der Unterrichts­einheit und nicht zuletzt der faktische Verlauf des Unterrichts haben bei der gemeinsamen Konzeption der Arbeit eine Rolle gespielt und haben es schwierig gemacht, sich auf bestimmte Punkte zu einigen.

Wenn ihr das so macht, ist das völlig in Ordnung.

Der Lehrer legt sich definitiv fest, bekräftigt noch einmal sein Wort, so dass die SuS die Sicherheit bekommen, dass sie sich, sollte es wider Erwarten notwendig sein, auf dieses berufen können.

VIII

Ist dasjenige, was bisher zum Thema „Vergleichsarbeit“ herausgearbeitet wurde, richtig? Um dies zu prüfen, sollen noch einige andere Stellen aus dem Transkript kurz herangezogen und interpretiert werden. Da heißt es einige Zeilen weiter:

L: Es wird sowieso so sein,

„Sowieso“ heißt: egal, ob das eine oder das andere zutrifft. Unabhängig da­von, was die anderen Kollegen denken und was womöglich in den nächsten Tagen noch in der Planungsgruppe entschieden wird, unabhängig davon gilt etwas Bestimmtes. Worum geht es?

dass die Einleitung eine separate Note bekommt, bzw. man bekommt Wer­tungseinheiten bzw. Punkte. Auf die Einleitung, sagen wir mal, maximal fünf und, ähm, wie diese Punkte dann verteilt werden, bestimme ich.

Es bestätigt sich, dass der Planungsprozess, obwohl gegenwärtig die letzte Stunde vor der Arbeit stattfindet, noch nicht abgeschlossen ist. Nicht nur die Frage, ob es eine „Hinleitung“ geben soll, sondern auch die Bewertungskrite­rien scheinen noch nicht abschließend geklärt zu sein. Doch der Lehrer wagt eine Prognose: Man wird sich auf eine bestimmte Anzahl von Punkten für die einzelnen Teile, aus denen die Analyse bestehen soll, einigen. Für die Einlei­tung, zu der dem Lehrer zufolge zumindest in der eigenen Klasse eine „Hin­leitung“ gehören sollte, könnten z.B. maximal fünf Punkte vergeben werden. Je nachdem, wie gut die Schülerin/der Schüler die Einleitung geschrieben hat, bekommt sie/er entweder die Höchstzahl von Punkten, oder es werden Punkte abgezogen. Auf welche Weise dies geschieht – und das ist nun der entscheidende Punkt, auf den der Lehrer abhebt das ist nicht durch die Pla­nungsgruppe geregelt, sondern das entscheidet er ganz allein.

Dasjenige, was durch die Planungsgruppe geregelt wurde (oder noch ge­regelt wird), sind also zum einen minimale formale Bedingungen, denen die Analyse einer politischen Rede genügen muss – sie muss aus bestimmten Teilen bestehen, muss z.B. eine Einleitung, einen Hauptteil und einen Schluss enthalten. Zum anderen wurde bzw. wird entschieden, wie viele Punkte für die einzelnen Teile maximal vergeben werden können. Alles andere liegt im Ermessen des Lehrers, der allerdings – das wurde oben deutlich – nicht ein­fach willkürlich bestimmte Bedingungen festlegt, sondern so entscheidet, dass es für die SuS vor dem Hintergrund dessen, was in der Vergangenheit geschehen bzw. wie der Unterricht faktisch verlaufen ist, nachvollziehbar ist.

Also von daher, macht das so, wie ihr das immer macht

Noch einmal wird das entscheidende Prinzip bekräftigt, das der Kontinuität zwischen dem vorangegangenen Unterricht und der diesen abschließenden Arbeit

und basta!

Mit diesem Ausruf ist die Diskussion beendet – und zwar in einem doppelten Sinn: Der Lehrer will nicht nur die Diskussion in der Klasse beenden – er will nicht weiter mit den SuS über die „Einleitung“ sprechen und mit der Überprüfung des Textes von Sw14 fortfahren. Sondern implizit gilt das „bas­ta“ auch der Diskussion der Planungsgruppe: Egal, was dort noch alles ge­sagt und diskutiert wird, die Entscheidung ist getroffen, was der Lehrer gesagt hat, das gilt. Dieses Machtwort als Ausdruck von Überheblichkeit zu deuten oder als Ausdruck einer Unwilligkeit zur Kooperation mit den Kolle­gen wäre jedoch falsch. Vielmehr übernimmt der Lehrer mit ihm notwendig die Verantwortung angesichts dessen, dass die Klasse wissen muss, woran sie ist.

IX

Was hat die Analyse des Fallbeispiels im Hinblick auf die Ausgangsfrage nach den Parallelarbeiten, ihrem Zustandekommen und ihren Folgen für den Unterricht ergeben? Zum einen hat die Analyse ein Schlaglicht auf den Prozess der Entstehung von Vergleichsarbeiten geworfen, insofern deutlich wurde,

  • dass in der Gruppe der Lehrer, die die Vergleichsarbeit entwirft, das Konsensprinzip gilt, also nur Entscheidungen getroffen werden, denen alle – gleichberechtigten – Kollegen zustimmen können;
  • dass die gemeinsam planenden Lehrer sich nur auf wenige Punkte eini­gen können, da nicht nur eine Vielzahl unterschiedlicher Vorstellungen über dasjenige, was die SuS zu dem Thema wissen und können sollten, besteht, sondern auch der zuvor durchgeführte Unterricht unterschiedlich geplant worden ist und unterschiedlich verlief;
  • dass dasjenige, auf das sich die Kollegen einigen können, formale Be­dingungen sind – und Eckpunkte eines Systems der Vergabe von Notenpunkten.

Zum anderen hat die Analyse exemplarisch gezeigt, wie Unterricht tendenziell „entsubstanzialisiert“ wurde: Es kann jemand über den 8. Mai 1945 spre­chen, dieser kann als „Tag der Niederlage“ bezeichnet werden oder auch als „Tag der Befreiung“ – und niemand geht inhaltlich darauf ein. Entscheidend ist allein, dass dies in der richtigen Form geschieht. Diese Tendenz wird durch die Pflicht, eine Vergleichsarbeit zu schreiben, eher noch verschärft als abgemildert.

Sind diese Ergebnisse generalisierbar? Zu vermuten ist, dass das jeweili­ge Fach (und in gewisser Weise auch die Jahrgangsstufe) eine Rolle spielt und zwar in dem Sinne, dass die Ergebnisse, welche an dem vorliegenden Beispiel herausgearbeitet wurden, zwar verallgemeinerbar sind, jedoch in Abhängigkeit von dem jeweiligen Fach unterschiedlich problematisch und dramatisch sind. Die Tendenz ist eine allgemeine, doch die konkreten Quali­täten sind möglicherweise nur in seltenen Fällen so deutlich wie bei dem ana­lysierten Beispiel.

Und wie ist es mit der „pädagogischen Nutzung“ der Parallelarbeiten? Das Transkript gibt auf diese Frage keine Auskunft, die Ergebnisse seiner Analyse geben jedoch zur Skepsis Anlass: Dass die Parallelarbeiten den ein­zelnen Lehrer in eine Krise stürzen, die dazu führt, dass er mit seinen Kolle­gen ein Gespräch darüber aufnimmt, wie er seinen Unterricht verbessern könne, setzt – neben dem Wunsch nach Verbesserung – zweierlei voraus: Zum einen müssten die Möglichkeiten, die „Ressourcen“ dazu vorhanden sein, d.h. es müssten Räume bzw. Zeiten für das professionelle Gespräch in­stitutionell eingerichtet sein, das ist aber nur in ganz wenigen Fällen faktisch gegeben. Zum anderen müssten die Ergebnisse auch so sein, dass sie Hinwei­se dafür geben, an welchen Stellen Verbesserungen sinnvoll wären. Wenn aber – wie in dem vorliegenden Beispiel – nur ein Minimalkonsens, der aus wenigen formalen Bedingungen besteht (und aufgrund dessen, dass der Leh­rer in dem gemeinsam gesteckten Rahmen nach eigenem Ermessen, nach sei­nen partikularen Kriterien Punkte vergeben, so dass die Ergebnisse nicht einmal wirklich vergleichbar sind), zustande kommt, wie sollte dann die Ver­gleichsarbeit diese Funktion erfüllen?

Die Erwartung, dass vermittelt über die im Lehrplan verankerte Ver­pflichtung zu Parallelarbeiten ein Impuls für die Entwicklung der Qualität des Unterrichts – und auf diesem Wege auch der Schule – gegeben werden kann, ist unter den gegebenen Bedingungen wenig realistisch. Allenfalls kann auf diese Weise das Niveau des Unterrichts auf einer minimalen Ebene „abgesi­chert“ werden – jedoch mit der Gefahr, dass ein anspruchsvoller Unterricht auf dieses Niveau herabgedrückt wird. Weil sich im Prozess der kollektiven Planung tendenziell die Logik des kleinsten gemeinsamen Nenners durch­setzt, ist eher ein „down grading“ der Qualität des Unterrichts zu erwarten, als dass diese verbessert wird. Noch unrealistischer aber ist wohl die Hoff­nung, durch andere Formen von Vergleichsarbeiten (die praxisferner sind) Unterricht und Schule zum Besseren entwickeln zu können.

Fußnoten:

[1] Siehe: Helmke, Andreas, Unterrichtsqualität erfassen, bewerten, verbessern, Seelze 2007.

[2] Transkript siehe http://www.apaek.uni-frankfurt.de/show.php?docid=51

[3] Das Thema „Politische Rede“ ist in Hessen Gegenstand des Lehrplans. Siehe: Lehrplan Deutsch Gymnasialer Bildungsgang. Jahrgangsstufe 5 bis 13, S. 45. Zu finden unter fol­gender Internetadresse: http://www.kultusministerium.hessen.de.

[4] Siehe: Richard von Weizsäckers Rede zum 8. Mai 1985, abrufbar im Internet unter: http://www.bundestag.de/geschichte/parlhist/dokumente/dok08.html

[5] Ebd.

[6] Siehe Gruschka, Andreas, Schule, Didaktik und Kulturindustrie, in: Vierteljahresschriften für wissenschaftliche Pädagogik, Heft 2, 2007, S. 253-278. Und ders., Präsentieren als Unterrichtsform. Die pädagogische Eigenlogik einer Methode, Opladen und Farmington Hills 2008.

[7] Es hat den Anschein, als sei der Lehrer der einzige gewesen, der sich für eine „Hinleitung“ ausgesprochen hat.

Mit freundlicher Genehmigung von Budrich UniPress
http://www.budrich-journals.de/index.php/pk

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