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Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Die Untersuchung wurde durchgeführt in Grundschulen im Bezirk Piracicaba (im Bundesstaat São Paulo) durch eine Arbeitsgruppe an der UNIMEP (der Universidade Metodista Piracicaba) und verlief in vier Phasen.

In einer ersten Phase beschäftigten wir uns mit den offiziellen Planungs­dokumenten zum „Nationalen Curriculum“. Es ging darum zu prüfen, inwie­fern die theoretisch zugrunde liegende These erhärtet werden konnte, dass nämlich dieses Curriculum nur verstanden werden kann als aktuelle Aus­drucksgestalt der in die Bildung und Erziehung eingewanderten Kulturindust­rie. Signifikant wurde dieses insbesondere durch die Substitution der alten auf Erkenntnis und Urteilskraft ausgerichteten Bildung durch eine Halbbil­dung, die oberflächliches Bescheidwissens und Konsumerorientierung her­vorruft. Studiert wurden sodann die Selbstverständigungstexte, mit denen die Schule auf die Umsetzung ihres Auftrages reagierte. Hier zeigte sich eine starke Zustimmungsbereitschaft gegenüber den didaktischen Reformen.

In der zweiten Phase wurde mit Grundschulen Kontakt aufgenommen und die Feldphase dadurch vorbereitet, dass die Forscher regelmäßig an den pädago­gischen Konferenzen teilnahmen, um so auch die Erlaubnis zu erhalten, Unterricht zu besuchen, Beobachtungsprotokolle zu verfassen und Aufnahmen durchzuführen. Da die Schule vor allem gravierende Probleme in der zweiten Phase der Grundschule ausgemacht hatte, wurde beschlossen, Stunden aus dieser Phase sowie solche aus einer vorhergehenden Klasse aufzunehmen und als Auswertungskorpus zu bestimmen. In allen Unterrichtsstunden ging es um das erweiterte Lesen- und Schreibenlernen der 7- bis 8-Jährigen. Die Be­obachtung wurde insbesondere ausgerichtet auf die Beziehungsverhältnisse in der Klasse, die Art der den Schülern gestellten Aufgaben, die Modi der erklä­renden und motivierenden Ansprachen der Lehrenden, die Mediennutzung im Unterricht, die Entwicklungsdynamik während der Stunden und die Relation zwischen den curricularen Vorgaben für die Stunde und deren Realisierung. Das Ziel der Analyse bestand darin, die Logik des Unterrichtens unter diesen Gesichtspunkten als pädagogische zu rekonstruieren und dabei insbesondere darauf zu achten, wie sich in dem Geschehen Widersprüche zwischen den Absichten, Motiven und Erwartungen von Schülern und Lehrern auf der ei­nen Seite und den Prozessen der Kommunikation und Interaktion auf der an­deren Seite entwickeln.

Die Datenaufnahme wurde begleitet durch die fortgeführte Anwesenheit bei den Konferenzen. Die Stunden wurden als Audioaufnahmen mehrfach abgehört. Die fokussierten Beobachtungen wurden protokolliert und in die Ordnung jener Fragestellungen gebracht und somit für eine explizite Analyse in der Forschergruppe aufbereitet.

In einer dritten Phase wurden die Beobachtungsdaten konfrontiert mit den theoretischen Fragestellungen und Erwartungen: Wie werden die politi­schen Zielsetzungen in der Praxis der Lehrenden konkret und wie werden sie in die Arbeitsroutinen integriert? Hinzutraten erweiterte Datenaufnahmen, da sich herausstellte, dass manche der bisherigen nicht so aussagekräftig waren, wie es erwartet worden war.

In der letzten Phase des Projekts wurden halbstandardisierte Interviews mit den Lehrenden durchgeführt. Die Interviews zielten darauf ab, zu ver­stehen, nach welchen eigenen Regeln die Unterrichtenden vorgingen, wie sie die pädagogischen Notwendigkeiten mittels ihrer praktischen Routinen bewältigten und wie sie sich selbst zur Überformung der Didaktik durch die Mechanismen der Kulturindustrie verhielten. Wir interessierten uns dabei auch für den Hintergrund der pädagogischen Orientierungen und wie sich die Lehrenden zur Notwendigkeit von Weiterbildung verhielten, welche Rolle sie für sich selbst in der Entwicklung der Schule und als Akteure der Bildungspolitik sahen, welche Auffassungen sie zu den pädagogischen Mo­den wie dem Konstruktivismus hegten, welche Quellen sie für ihre Arbeit nutzten, welche Musterbeispiele für guten Unterricht sie kannten und wie sie diese adaptierten, wie sie zu Lehrstrategien und Lernschwierigkeiten der Schüler standen und wie sie die grundlegenden Lese- und Schreiberfahrun­gen der Kinder aufgriffen. Das Interview lieferte ihnen sodann die Mög­lichkeit, die von den Forschern formulierten Beobachtungen zu kommentieren, sie zu kritisieren, sich zu erklären und die eigenen Perspektiven aufzu­weisen. In dieser Phase wurde der Kontakt zum Feld der Konferenzen auf­recht erhalten, so dass die Forscher auch weiterhin in die Probleme der Schule verwickelt blieben.

Mit Rückgriff auf diesen breiten Erfahrungshintergrund seien einige der Episoden vorgestellt und analysiert, mit denen die Reichweite des bereits aufgewiesenen Problems empirisch illustriert und seine Relevanz erhärtet werden kann.

(…) In den Klassen dominieren Arbeitsweisen, die eine massive Ver­einfachung und Trivialisierung mit sich bringen. Das zeigt, wie stark Wissen seine erzieherische Funktion als Ausgangspunkt für Verstehen verloren hat. Der Lehrer beschäftigt die Kinder scheinbar kindgemäß, objektiv aber bereits mit regressiver Tendenz. Sie werden durch Aktivitäten stillgestellt, geistig sediert, denn mit der Aktivierung sorgt der Lehrer vor allem dafür, dass sie keinen Blödsinn anstellen können. Nach Ende der „Arbeit“ werden sie gänz­lich zur Ruhe gebracht, so mit der Aufforderung: „Wer fertig ist, der legt sei­nen Kopf und die Arme auf die Bank.“ Während der Aufgaben wird manchen Schülern die Sinnlosigkeit ihres Tuns auffällig, und sie zeigen dies mit ihrer Arbeitsverweigerung. Schüler werden über Stunden angehalten etwas zu tun, was sie in keiner Weise oder nur äußerst gering intellektuell herausfordert. So geschieht es in dem folgenden Beispiel.

Episode III – Ausmalen

In einer zweiten Klasse teilt der Lehrer nach dem Absolvieren der Regularien ein Blatt aus, auf dem verschiedene Zeichnungen von Tieren und Gegenstän­den abgedruckt worden sind. Ihr Auftrag besteht darin, die Zeichnungen zu kolorieren.

Die Kinder reagieren darauf wenig begeistert. So wird die Arbeit vielfach unterbrochen, während der Lehrer Aufmerksamkeit einfordert. Schüler spit­zen unausgesetzt ihre Farbbleistifte über dem Abfalleimer, andere wandern durch die Klasse. Nach einer Stunde und fünfzehn Minuten sind die Schüler immer noch bei der Kolorierung ihrer Blätter und ordnen sie zu entsprechen­den Blättern in die Mappe ein. In dieser Zeit bewegt sich der Lehrer von Ar­beitstisch zu Arbeitstisch und überprüft die gemachten Hausarbeiten. Noch deutlich nach dem Ende der Unterrichtszeit wartet der Lehrer auf die Beendi­gung der Arbeit einzelner Schüler, bis diese die Blätter in ihr Arbeitsheft ein­geklebt haben.

Soweit wir sehen, bestätigen die Beobachtungen die zunehmende Einwande­rung von Mechanismen der Kulturindustrie in das schulische Arbeiten. Die dominante Reaktionsform der Lehrenden auf die anfälligen Probleme des Un­terrichts besteht in der Flucht zu den Verfahren der Vermittlung, die augen­scheinlich Kinder und Jugendliche von den Medien her gewohnt sind.

Durchweg zeigen die Beobachtungen sowohl die Notwendigkeit einer pädagogischen Fundierung der Praxis wie auch das Defizit für eine zielführende, didaktisch methodische Organisation des Unterrichts, welcher über­haupt Urteilskraft und Verstehen bei den Schülern anstiften könnte. Wir fan­den viele Beispiele für die Oberflächlichkeit und das Verwirrende von Erklä­rungen, die die Lehrenden zu den verhandelten Sachverhalten und auf Rück­fragen der Schüler lieferten. Die Schüler zeigten immer wieder Orientie­rungslosigkeit angesichts der gegebenen Instruktionen und Kommentare, die auf konzeptuellem Missverstehen der Lehrenden folgten. Vor allem das ver­wies auf ein völlig unzureichendes professionelles Training. Es dokumentiert sich in den genutzten Ansätzen für Erziehung und Bildung der Schüler, die weitgehend die formalbildende Bedeutung der Inhalte vernachlässigen und damit die Möglichkeiten der Kinder zu autonomem Denken faktisch unterlau­fen. Auf diese Weise befreit sich die Schule von ihrer Verpflichtung zu unter­richten, sie erwartet faktisch, dass die Schüler sich selbst unterrichten und die Fähigkeit zu Selbstkorrektur besitzen.

Der Unterricht erreicht auf diese Weise nicht die ontogenetisch fällige Förderung von Kompetenzen. Er unterbietet das Minimalniveau von Wis­sensbeständen, mit dem Kinder konfrontiert werden müssen, damit sie ihre Potentiale entfalten und Anschluss an den Stand der Kultur finden.

Die Erwartungen der Schüler an das Verstehen, ihre natürliche Neugier­de und das Bedürfnis zu lernen, scheinen blockiert zu werden durch das unterrichtliche Angebot und die dort gestellten Aufgaben. Sie bestehen viel­fach aus trivialen Inhalten und uneindeutigen Informationen. Das häufig un­disziplinierte Verhalten der Schüler erscheint im Unterricht als ein Protest gegen das Unverstandene, die mit den Aufgaben erlebte Unterstellung ihrer mangelnder Intelligenz. Die sich dagegen zeigende Kooperationsbereitschaft der Schüler resultiert aus ihrem gleichsam eingekauften Vergnügen an Spie­len und Unterhaltung.

Das Fehlen einer darauf antwortenden Sensibilität und Wahrnehmung bewahrt die Lehrenden davor zu bemerken, wie und dass Bildungsimpulse sich während der Stunde bemerkbar machen. Wo diese sich durch Schüler­fragen artikulieren, wird das von den Lehrenden weitgehend als Unterbre­chung, Störung, Verwirrung verstanden. Das Schülerverhalten zeige, wie da­durch die natürliche Lernbewegung zerstört werden kann.

Die wie improvisiert wirkenden Konzepte, mit denen die Lehrer ihre Schüler unterrichten, veranschaulichen in ihrer episodischen Verdichtung, dass Unterricht sehr viel tun hat mit den Sendeformate der Medien, wie etwa Talk-Shows und Rätselsendungen, die angefüllt sind mit scheinbarer Sponta­neität und Unmittelbarkeit, Geläufigkeit und Unernsthaftigkeit.

(Übersetzung durch Andreas Gruschka und Rita Amelia Teixeira Vilela)

 

Mit freundlicher Genehmigung von Budrich-Unipress
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