Hinweis des Fallarchivs:
- Dieser Fall verweist auf einen Erfahrungsbericht einer Lehrerin aus Ihrer Vorbereitungszeit: Bohris, S. (2002): Wie ich mich für den Unterricht vorbereite. In: Grundschule, 11/2002, S. 49.
- Ebenso kann der Fall gemeinsam gelesen werden mit Unterrichtsplanungen aus der Sicht von Lehramtsanwärterinnen – Frau Siebert.
Einen Vergleich der beiden Falldarstellungen finden Sie hier.
Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Im Rahmen der Ergebnisdarstellung stelle ich zwei Lehramtsanwärterinnen vor, Nina Ender und Karola Siebert, die beide im ersten Interview – ca. zwei Monate nach dem Start in die 2. Phase der Lehrerausbildung – von der Planung einer in der Folgewoche durchzuführenden Unterrichtseinheit zur Thematik „Die Sinne“ berichten. Es ist bei beiden die erste Unterrichtseinheit im Sachunterricht, die sie im Rahmen des Vorbereitungsdienstes selbstständig planen.
„Ich hab mir jetzt kein Planungsraster genommen und hab das abgearbeitet“ – Der Fall Nina Ender
Nina Ender studierte zunächst vier Semester Kommunikations- und Medienwissenschaften sowie Anglistik, wechselte dann zum Lehramtsstudium, das sie im Dezember 2006 nach 12 Semestern mit Unterbrechungen durch die Geburt ihres Sohnes erfolgreich abschloss. Im August 2007 begann sie den Vorbereitungsdienst. Das Besondere an ihrem Fall: Sie arbeitet mit einer zweiten Lehramtsanwärterin in einer Klasse; deshalb spricht sie oft von „wir“ oder „uns“, denn beide planen und gestalten den Unterricht im Team.
Sie berichtet im Interview über die Planung der Unterrichtseinheit „Die Sinne“ fragmentarisch und weniger geschlossen als Karola Siebert; zudem häufiger im Modus der Argumentation als in erzählender und beschreibender Form Anhand ihrer Erzählungen und Beschreibungen wird gleichsam deutlich, dass auch ihr Planungshandeln mit der Materialsuche begonnen hat, die zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht abgeschlossen ist. Die Gestaltung des Unterrichtsprozesses betreffend, wurde bislang eine Stationsarbeit festgelegt.
„Also Carmen und ich wir haben angefangen. Wir hatten das Thema und haben uns dann gleich erst mal auf Materialien gestürzt, die wir benutzen könnten. Und Herr Arndt hat uns dann aber zur Seite genommen und meinte, wir sollten doch erst mal Ziele formulieren, bevor wir mit allem anderen anfangen. Und wir sind beide erst mal auf die Materialien losgegangen. Und dann haben wir uns/ Der hat sich dann ganz viel Zeit genommen, hat sich mit uns zusammengesetzt und hat mit uns zusammen Ziele formuliert, im Lehrplan nachgeschlagen und Ziele formuliert, und meinte dann, darauf aufbauend sollen wir jetzt gucken, mit welcher Methode, mit welchen Materialien wir das dann erarbeiten sollen.“ (Z. 623-631)
Das Vorgehen Nina Enders bei der Planung einer Unterrichteinheit, deren Thema sie vorgegeben bekommen hat, ist gekennzeichnet durch sofortige Aktivität: „Wir haben angefangen“. Ihre Aktivität richtet sich dabei auf die Suche nach Materialien; sie spricht vom „Stürzen“ auf Material – eine schnelle, eine eilige Handlung, eher instinktiv als kriteriengeleitet und reflektiert. Das Bild einer Durstigen drängt sich auf, die auf der Suche nach Trinkbarem nicht wählerisch ist oder gar abwägt, was sie trinken könnte, sondern ihren Durst stillen und trinken – also gebrauchen bzw. verwerten – will. Es geht auch um Materialien, die sie „benutzen könnten“. Der Mentor unterbricht ihre spontane Ersthandlung und weist sie auf vertrauliche Art und Weise auf notwendige Lernzielformulierungen hin. Seine Einflussnahme wird von Nina Ender nicht weiter kommentiert; die Verwendung des Wortes „meinen“ (statt „hinweisen“ oder „sagen“ oder „anordnen“) weist dieser Einflussnahme den Status einer subjektiven, persönlichen Stellungnahme zu. Die Mentorenempfehlung steht in Diskrepanz zu ihrer Intention, praktisch tätig sein, aktiv sein und Material suchen zu wollen. An der Art, wie sie diese Situation erzählt, fällt auf, dass die eigentliche Planungshandlung gegenüber der Art und Weise, wie der Mentor mit ihnen zusammenarbeitet, in den Hintergrund der Erzählung rückt. In der Verwendung des konjugierten Verbes in der dritten Person Einzahl – Herr Arndt hat mit ihnen „im Lehrplan nachgeschlagen und Ziele formuliert“ – dokumentiert sich zudem die aktive Rolle des Mentors, der zum eigentlich Handelnden wird: er nimmt sich die Zeit, setzt sich mit ihnen zusammen, formuliert mit ihnen zusammen Ziele, schlägt dafür im Lehrplan nach. Der Mentor ist der Aktive und Ausführende, Nina Ender in dieser Situation anwesend, doch passiv. Für diese Interpretation spricht zudem, dass sie an vorangegangener Stelle des Interviews auch betonte, bislang bei der Unterrichtsplanung den Lehrplan „eigentlich nicht jetzt großartig benutzt“ zu haben:
„Wir lassen uns von unserem Bauchgefühl leiten und von den Stunden, die wir vielleicht bisher schon gesehen haben. Also ich hab bis jetzt noch keinen, noch keine Mitschrift von der Uni oder so oder irgendein Buch aufgeschlagen, um eine Unterrichtsstunde zu planen. Ich hab ‘s immer/ Also auch die Lehrbücher und den Lehrplan haben wir eigentlich nicht jetzt großartig benutzt.“ (Z. 421-425)
Bauchgefühl, Intuition ist die für sie primäre Strategie bei der Auswahl der Materialien und der daraus resultierenden Planung der Unterrichtsstunde (1).Eine zweite kann sie sich vorstellen: die Orientierung an beobachtetem Unterricht anderer Lehrerinnen und Lehrer. Scheinbar hat sie hier aber noch keine Stunden gesehen, die ihr bei der Planung behilflich sein könnten, denn das Adverb „vielleicht“ schränkt den Rückgriff auf Beobachtungen schulischer Unterrichtspraxis ein. Weder aus Uni-Mitschriften noch aus „irgendeinem“ Buch, nicht aus dem Lehrplan und zumeist auch nicht aus den zur Verfügung stehenden Lehrbüchern vermeint Nina Ender spürbaren Nutzen für die Planung ihres Unterrichts zu ziehen. Auf die Frage der von ihr genutzten Materialquellen hebt sie ohne Zögern das Internet, auf Nachfrage insbesondere ein österreichisches Internetportal mit praxisorientierten Lehr-Lern-Materialien, sowie die bekannten Lernwerkstätten des Verlages an der Ruhr hervor:
„Ich habe ‚Wegerer-VS‘, ,wegerer.at‘. Da gibt es ganz viele aufgearbeitete Unterrichtsbeispiele für alle möglichen Bereiche, alle Fächer. Und der Verlag an der Ruhr, die haben ganz tolle Werkstätten für alle möglichen Sachunterrichtsbereiche … Und es gibt auch Beispiele beim Verlag an der Ruhr. Da habe ich jetzt auch eine bestellt, habe ich jetzt auch in der Tasche dabei unten. ‚Von den Sinnen’ heißt die.“ (Z. 436-443)
Darüber hinaus zählt sie im Fortlauf der Beschreibung zwei weitere potentielle Materialquellen auf, die sich deutlich in ihrer Bewertung von den erstgenannten unterscheiden:
„Ja, und dann halt von den anderen Lehrern, die sonst noch Arbeitsmaterial/ Sollen wir sichten von Herrn Arndt. Zu gucken, was die schon produziert haben; ob wir das halt weiterverwenden können. Ja, eigentlich so. Und das Lehrbuch, Arbeitsheft, soweit das irgendwelche Sachen hergibt, die interessant sind. Sind oft einfach auch nur Abhandlungen im Lehrbuch drin, wo man denkt: Ne, die möchte ich jetzt nicht einsetzen, die sind nicht schön genug aufgemacht oder so.“ (Z. 443-448)
Der sprachliche Duktus ihrer Aussage – entgegen jener positiv-affektiven Bewertung der „tolle(n) Werkstätten für alle möglichen Sachunterrichtsbereiche“ eher sachlich-distanziert und nüchtern – lässt nicht darauf schließen, dass sie die Vorgabe des Mentors, Arbeitsmaterial ihrer Kolleginnen und Kollegen zu sichten, persönlich befürwortet; sie hebt die Fremdbestimmung dieser Materialanalyse hervor („sollen wir sichten“) und deutet kein Aktivierungspotential an, dies in der Tat zu tun. Am Ende ihrer Aufzählung begründet sie zudem ihre reservierte Haltung gegenüber dem Lehrbuch mit dem Verweis auf dessen „Abhandlungen“, die „nicht schön genug aufgemacht“ sind. Was ist eine Abhandlung? Horst Belke definiert sie als eine literarische Gebrauchsform mit informierender Funktion, deren spezifische Aufgabe es ist, „einen wissenschaftlichen Gegenstand so genau wie möglich darzustellen, methodisch vorgehend, systematisch gliedernd, logisch folgernd, lückenlos, mit Fakten objektiv argumentierend, am Gegenstand orientiert, sachlich, schmucklos“ (Belke 1973, S. 79). Die „Schönheit“ im Sinne der ästhetischen Qualität solcherart Texte resultiert, folgt man wiederum dem Literaturwissenschaftler Horst Belke, aus der „methodischen Stringenz des Gedankenganges, der Angemessenheit, Bündigkeit und Klarheit der Darstellung“ (ebd.). Das Lehrbuch wird damit in der Beschreibung Nina Enders zur Materialquelle, die sich durch faktenreiche Texte auszeichnet. Ihre distanzierte Haltung gegenüber diesem Planungsmittel, von dem sie sich für die Gestaltung des Unterrichts keinen Nutzen verspricht, könnte zum einen aus der Qualität des Lehrbuches selbst resultieren oder in der grundsätzlichen Vorstellung Nina Enders aufgehoben sein, dass Sachtexte keinen expliziten Zugang zu Lerninhalten darstellen. Für letztgenannte Interpretation spricht das bislang für diese Unterrichtseinheit ausgewählte Unterrichtsmaterial:
„Also zum Beispiel bei den Sinnen hatten wir diese Geräuschdöschen, so ein Memory, wo die immer das gleiche Geräusch herausfinden müssen. Dann Schmecken. Augen verbinden und Sachen schmecken und ein bisschen was verstehen, wie eben Geruchssinn und Geschmackssinn zusammenspielen. Also für jeden Sinn. Fühlsäckchen hatten wir dann irgendwie. Und darauf basierend weiß ich halt, dass ich zum Beispiel in Stationsarbeit das Ganze mit den Kindern halt durchführen kann.“ (Z. 385-390)
Diese Beschreibung ist sowohl stilistisch als auch semantisch durch die Vormachtstellung des Materials (als handgreiflich-gegenständliches, anfassbares Material) und der damit verbundenen praktischen, körperlich und sinnlich erfahrbaren Umgangsweisen gekennzeichnet, die sich aus dem Material ergeben. Ziel- und Methodenentscheidungen ordnen sich in dieser Beschreibung dem Material unter, werden marginal und austauschbar („zum Beispiel in Stationsarbeit“), im Fall der Zielsetzung gar vom Material konterkariert: Durch das Augen verbinden und Sachen schmecken sollen Schülerinnen und Schüler „ein bisschen was verstehen, wie eben Geruchssinn und Geschmacksinn zusammenspielen“. Auch die zeitliche Dimension des Unterrichts ist vom Material abhängig, denn auf meine Frage, welchen Zeitumfang die Unterrichtseinheit hat, antwortet Nina Ender:
„Also zwei bis drei Unterrichtsstunden. Nach dem, wie viel Material wir jetzt haben, können wir das halt auch ausweiten dann auf drei Stunden.“ (Z. 416-417)
Das hier unspezifisch als „das“ bezeichnete methodische Vorgehen steht dabei für eine Stationsarbeit, die mehrere farblich differenzierte Stationen zu je einem Sinn umfasst und in der die Schülerinnen und Schüler „von jeder Farbe mindestens eine Station schaffen“ (Z. 532f.). Die Auswahl der Unterrichtsmaterialien wurde und wird dabei von zwei Bedingungen beeinflusst: (1) Sie sollen zum einen ansprechend und vielfältig sein (vgl. Z.491), so „dass die Kinder Lust haben, sich mit Sachen zu beschäftigen, sich auseinander zu setzen“ (Z.492) – an anderer Stelle verleiht sie diesbezüglich ihrer Hoffnung Ausdruck, dass die Kinder „mit Spaß da ran(gehen)“ (Z.548). (2) Sie eignen sich für die Klasse (als nicht weiter spezifizierte Einheit) und können unter den räumlichen Bedingungen des Klassenraumes zum Einsatz kommen:
„Uns wurde halt gesagt, das Thema sind ,Sinne’. Dann habe ich mich, da bin ich das erste Mal los und habe nach Materialien geguckt. Und dann habe ich mir die Klasse Uberlegt, was ist mit denen möglich, was ist, was bietet der Klassenraum für Möglichkeiten, wie kann ich das dort machen. Ich hab mir jetzt kein Planungsraster genommen und hab das abgearbeitet.“ (Z. 612-616)
Ein „Planungsraster“, so ihre abschließende Stellungnahme, hat sie nicht „genommen“. Damit verdeutlicht sie: Es gäbe ein alternatives Vorgehen bei der Planung von Unterricht, das sich an potentiell vorhandenen Planungsrastern orientiert; ihre Planungspraxis folgt bewusst keinem rasterartigen, schematischen, technischen Vorgehen.
Fußnote:
(1) An späterer Stelle im Interview bekräftigt Nina Ender noch einmal, dass sie „halt viel aus dem Bauch heraus“ (Z. 609) macht. Auf Nachfrage, was sie aus dem Bauch heraus macht, antwortet sie mit der naheliegenden Gegenfrage „Wie soll ich das beschreiben?“ (Z. 612) und drückt damit das Dilemma aus, etwas in Worte zu kleiden, was sprachlich-generalisierend nicht fassbar – weil intuitiv – ist. Um dieses Dilemma zu überwinden, wählt sie den Ausweg der Erzählung eines konkreten Erlebnisses, das auf der folgenden Seite dieses Artikels durch das Zitat 612-616 wiedergegeben wird.
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