Falldarstellung
Nachdem das Apfelmus ein wenig abgekühlt ist, essen wir es gemeinsam. Fr. T. fragt: „Wem hat denn das Apfelmusmachen Spaß gemacht?“ Allen eigentlich. Nur Adrian schüttelt den Kopf.
Basti, Adrian, Tim und Silas möchten nichts. Sie sagen, es schmeckt ihnen nicht. Die Lehrerin sagt, dass sie wenigstens einen Löffel probieren sollen, damit sie überhaupt beurteilen können, ob es ihnen schmeckt oder nicht. Basti, Adrian und Silas probieren daraufhin einen Löffel und bestätigen der Lehrerin ihre Abneigung. Tim weigert sich trotz wiederholter Aufforderung als Einziger vehement, zu probieren. Fr. T. steht hinten im Klassenraum, dort wo der Apfelmus-Topf steht. Sie hat einen Teller Apfelmus und einen sauberen Löffel in der Hand und ruft Tim zu sich. „Komm mal her, du probierst jetzt mal einen Löffel.“ Tim, der sonst meistens herumblödelt und frech ist, kommt mit Leidensmiene an und macht den Mund auf. Fr. T. stopft ihm einen ziemlich vollen Löffel Apfelmus in den Mund. Tim muss würgen und spuckt Fr. T. das Apfelmus gerade wieder auf den Teller zurück. Er guckt schuldbewusst und zerknirscht. Fr. T. (laut): „Das kann ja wohl nicht wahr sein, dass du mir das hier jetzt auf den Teller spuckst…!“ Die anderen Kinder gucken. „Du probierst jetzt mal, was du gekocht hast!“ Tim schüttelt den Kopf. Daraufhin dreht Fr. T. sich um und sagt: „Dann rutsch mir doch den Buckel runter, weißte. Jetzt muss ich das hier natürlich alles wegwerfen.“
Interpretation
Ich habe diese Szene auch deshalb als erste angeführt, weil sie besonders die oben beschriebene Schwierigkeit des eindeutigen Einordnens in eine Kategorie deutlich macht: Es spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Neben (bzw. in direktem Zusammenhang mit) dem Zwang können hier noch mindestens festgestellt werden: Negative Zuschreibung, Bloßstellen und ferner auch Übersehen.
Die Kinder haben hier die Möglichkeit, beim gemeinsamen Essen zu probieren, was sie in der Stunde zuvor selbst hergestellt haben. Die Mühe des Apfelschälens hat sich gelohnt, das Ergebnis lässt sich sehen (bzw. essen). Der Prozess des Entstehens von Apfelmus ist für die Kinder nachvollziehbar – aus der Sicht der Lehrerin vielleicht aber nur dann vollständig, wenn sie das Resultat auch probieren. Weiter könnte man vermuten, dass die Lehrerin es für durchaus zumutbar hält, dass die Kinder einen kleinen Löffel probieren, auch wenn sie Apfelmus nicht mögen. Über die ursprüngliche Intention der Lehrerin ließen sich noch weitere Vermutungen anstellen, deutlich wird im Verlauf dieser Szene jedenfalls das oben beschriebene Dilemma, in dem sie sich zunehmend befindet.
Was diese Situation für Tim bedeutet, zeigt ebenfalls deutlich sein Verhalten. Seine Ausgangsposition bildet eine im Prinzip ganz gewöhnliche Situation: Er lehnt eine Speise ab, weil sie ihm nicht schmeckt. Mehrere freundliche Überredungsversuche von Seiten der Lehrerin veranlassen ihn nicht dazu, seine ablehnende Haltung dem Apfelmus gegenüber zu ändern. Auch die Aussage der Lehrerin, dass er ja gar nicht wissen könne, ob es ihm schmeckt, wenn er gar nicht probiert habe, überzeugt ihn nicht. Vielleicht hat er eine ziemlich genaue Vorstellung von dem Geschmack selbstgemachten Apfelmus’, weil er es bereits kennt, möglicherweise stößt ihn allein der Geruch schon ab. Er sieht also von sich aus keinen Grund, seine Abneigung zu überwinden. Erst als ihm bewusst wird, dass seine Weigerung von der Lehrerin nicht akzeptiert wird und sie ihn auffordert, zu ihm zu kommen, beginnt für ihn die Schwierigkeit. Dass er zur Lehrerin geht und den Mund aufmacht, liegt einerseits in der von ihm als Ausweglosigkeit empfundenen Situation begründet, andererseits ist es aber auch ein Stück weit Entgegenkommen seiner Lehrerin gegenüber. Das wird im weiteren Verlauf der Szene deutlich: Seine aus den eben beschriebenen Gründen entstandene Bereitschaft, das Apfelmus zu probieren, kann er nicht durchhalten, weil seine Abneigung (und auch die von der Lehrerin festgelegte Menge) zu groß ist. Anstatt die Bereitschaft Tims zu honorieren, interpretiert die Lehrerin offenbar sein Ausspucken als Frechheit. Sie zeigt eine Reaktion, die keinerlei Verständnis für Tim zeigt, ihm sogar eher eine böse Absicht unterstellt (negative Zuschreibung).
Als Tim die erneute Aufforderung zum Probieren verweigert, befürchtet die Lehrerin möglicherweise wieder einen Autoritätsverlust, was durch das Zuschauen der anderen Kinder noch gestärkt wird. Zusätzlich dazu, dass das Verhalten von Tim sie ärgert, versucht sie nun, vor den anderen Kindern ihre Position zu wahren. Sie schiebt die Schuld an dieser Misere komplett Tim in die Schuhe. Er ist nun auch noch verantwortlich für eine weitere schlimme Sache: Wegen ihm muss auch noch Essen weggeworfen werden, denn von einem angespuckten Teller möchte niemand mehr essen. Hierbei geht es also auch um das Vermitteln von Werten und um Anstand: Man spuckt das Essen nicht auf den Teller zurück, und es ist schlecht, wenn man Lebensmittel wegwerfen muss.
Vor der ganzen Klasse steht Tim nun als Sündenbock da, es bleibt ihm nichts anderes übrig, als das alles schuldbewusst zur Kenntnis zu nehmen.
Er ist über diese Situation offensichtlich unglücklich. Seine Mimik und Körperhaltung lassen in keiner Weise Triumph erkennen, obwohl er sich ja letztendlich durchgesetzt hat und kein Apfelmus mehr essen muss. Die extrem verärgerte Reaktion der Lehrerin ist ihm sicherlich in diesem Moment unverständlich.
Man kann auch sagen, dass es sich hierbei um einen Bloßstellungsakt handelt. Das von Combe und Helsper so genannte ,öffentlich sichtbar gemachte Versagen’ „ist vermutlich der Alptraum (nicht nur) von Schülerinnen und Schülern.“ Der Betroffene ist der Situation hilflos ausgeliefert, und genau die Handlungen, mit denen er das Unheil abzuwehren versucht, bewirken eine noch tiefere Verstrickung. So ein Vorgang kann auch bei den anderen Kindern Versagensängste mobilisieren, „die Angst nämlich, in gleicher Weise exponiert, hilflos und wehrlos beschämt zu werden.“ Insofern kann diese Art des Bloßstellens vor der Klasse durchaus von Lehrern als Mittel zum Erzwingen von Gehorsam genutzt werden.
Wie in der noch folgenden Szene 9 ansatzweise deutlich wird, hatte Tim an diesem Tag bis zum Zeitpunkt dieses Konflikts mit der Lehrerin engagiert mitgearbeitet. Er hat seinen Apfel geschält und geschnitten und ist auch während der Ausführung der anderen Aufgaben (malen, von der Tafel abschreiben) nicht negativ aufgefallen. An dieser Stelle kommt auch der Aspekt des Übersehens mit in die Interpretation: Tim fällt der Lehrerin erst zu dem Zeitpunkt auf, als er die für ihn typische Verhaltensweisen zeigt: Sich weigern und ,stören’.
Tim hat zwei Möglichkeiten, aus dieser für ihn sicherlich bedeutenden Szene Schlüsse für zukünftiges Verhalten zu ziehen: Einmal, sich in Zukunft den Forderungen der Lehrerin nicht mehr zu widersetzen, auch dann nicht, wenn sie seinen menschlichen Bedürfnissen ganz und gar widersprechen. Oder er lässt es weiterhin auf einen Konflikt mit der Lehrerin ankommen. In diesem Fall riskiert er aber nicht nur einen Anerkennungsverlust von Seiten der Lehrerin und möglicherweise auch von seinen Mitschülern, sondern er stellt eine erfolgreiche schulische Laufbahn aufs Spiel.
Interessant an dieser Szene ist, dass das Erreichen eines Lernerfolges zunehmend eine eher untergeordnete Rolle spielt, es geht ab dem Punkt der vehementen Weigerung Tims nur noch um die Erhaltung der Machtposition der Lehrerin. Dieser Kreis schließt sich, denn der Lehrerin liegt ja auch aus folgendem Grund etwas am Erhalt ihrer Machtposition: Positive Lernvoraussetzungen sind anscheinend nur dann gegeben, wenn die Klasse aufnahmebereit bleibt, weil die Lehrerin Autorität ausstrahlt. Es bleibt die Frage offen, ob es sinnvoll bzw. überhaupt möglich ist, diese zu erzwingen.
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