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Falldarstellungen mit interpretierenden Abschnitten

Forschungskontext

In der qualitativ-empirischen Untersuchung räumlich-visueller Kompetenzen (ebd.) machte die Fokusverlagerung vom Endergebnis auf den Entstehungsprozess einer Zeichnung das Beschreiten neuer forschungsmethodischer Wege notwendig. Deshalb wurden drei unterschiedliche Datenmaterialien erhoben: Zeichnung, videografierter Zeichenprozess, narrativ-fokussiertes Leitfadeninterview. Diese Daten  wurden  einzeln und je nach Datenmaterial variierend auf der Basis der Maximen der Grounded Theory (Strübing 2004) ausgewertet und miteinander trianguliert. Die Triangulation als empirischer Zugang zu den untersuchten Feldern und Gegenständen  stellt einen Weg  zu erweiterten Erkenntnismöglichkeiten dar (Flick 2004, 11). Denn die zu untersuchenden Phänomene lassen sich aus verschiedenen Blickwinkeln analysieren, und hiermit können Interpretationen verglichen, erweitert und präzisiert werden. So lässt sich im sichtbar gemachten, zeitlichen Ablauf des Zeichenprozesses beobachten, auf welches Raumkonzept Schülerinnen und Schüler zurückgreifen und wie sie daran arbeiten, ob und wie Krisenmomente auftauchen und gemeistert werden, wie daraus das Neue entsteht oder ein Konzeptwechsel erkennbar wird. Um das Phänomen  der räumlich-visuellen Darstellung zu erforschen, wurden auch die Kinder als „Experten“ in ihrer Tätigkeit angehört, denn ihre Aussagen zu ihren Zeichnungen und ihren ästhetischen Erfahrungen waren wesentlich. Ausgelöst durch die genannte Prozessorientierung  dieser Studie konnten – zusätzlich zu den Typen der zeichnerischen Raumdarstellung und deren Niveaus  – Verarbeitungskompetenzen ermittelt werden, welche eine bildnerische Darstellung stark beeinflussen. Es sind dies subjekt- und prozessorientierte Kompetenzen wie bspw. Phantasie, Raumverständnis, bildnerische Problemlösefähigkeit, Umgang mit Diskrepanzen oder ästhetische Urteilsfähigkeit.

Phantasie – Zusammenspiel mehrerer Ressourcen

Der Schwerpunkt, unter welchem in diesem Beitrag Kompetenzen des zeichnerisch-räumlichen Darstellens und des kognitiv-emotionalen Verarbeitens erörtert werden, ist die Verarbeitungskompetenz Phantasie und deren Facetten. Die Ergebnisdarstellung wird entlang von Ausschnitten aus dem Datenmaterial – Kinderzeichnung, videografierter Zeichenprozess, Interview – geführt und bezieht sich auf die zwei Aufgabenstellungen „In der Schiffskajüte“ und „Parcours“.

Aufgabe „In der Schiffskajüte“: Als Einführung in die Aufgabe wird ein Ausschnitt aus einer über mehrere Lektionen gelegten Rahmengeschichte erzählt, wobei folgende Ausstattungselemente der Kajüte beschrieben werden: Bett mit Baldachin, offene Schiffskiste mit Kleidern darin, Pult mit Globus, Stuhl, Deckenlampe, getäfelte Wände, Fensterluken an der linken Wand. Der Auftrag heisst: „Du befindest dich jetzt in einem alten Holzschiff  auf stürmischer  See. Beim Erwachen  im Bett mit Baldachin  kommt  eben eine Person zur Türe rein. Was geschieht nun und was siehst du von deinem Bett aus im Zimmer?“ Die Kinder müssen eine Problemstellung mit Hilfe ihrer Vorstellungskraft lösen und werden aufgefordert, als Zeichner eine bestimmte  Perspektive  auf die zu erfindende  Szene  einzunehmen und eine entsprechende bildnerische Lösung zu entwickeln.

Aufgabe „Parcours“: Dem zeichnerischen Prozess wird hier ein Wahrnehmungsangebot vorangestellt.  Die Kinder tasten sich blind durch den Parcours (Abbildung 1). Der Handlungsort der Piratengeschichte – der Rumpf eines Piratenschiffes mit den sich darin befindenden Hindernissen – wird greifbar. Durch Eigenbewegung des ganzen Körpers im Raum (sensomotorisch) wird die Wahrnehmung angeregt. Zudem  sollen die Kinder durch dieses Arrangement sich selbst im Raum wahrnehmen können und zu eindrücklichen Empfindungen gelangen. Der Zeichnungsauftrag lautet: „Zeichne, wie du durch den Parcours gegangen bist. Zeichne  möglichst alles, was du dort vorgefunden hast, wie es sich angefühlt hat, wo du z. B. hindurch kriechen oder darüber steigen musstest.“

Abbildung 1: Plan und aufgebauter Wahrnehmungs-Parcours

Im Interview zeigt Mina (Abbildung 2) großes Interesse an der sozialen Interaktion ihrer Bildfiguren. Zeichnerisch verdeutlicht sie deren Kontaktnahme mit der Drehung  des Kopfes der Figur im Bett und der gerichteten Beinbewegung der ins Zimmer  tretenden Person (Abbildung  3). Zudem fantasiert Mina vorausgehende Handlungen dieser Szene, indem sie andeutet, dass das Mädchen im Bett sich für die Nacht  umgezogen  und seine Kleider über den Rand der Kiste gelegt hatte. Anschließend ging dieses nicht mit nackten Füssen, sondern in den Pantoffeln zum Bett hinüber, wo diese jetzt ordentlich nebeneinander stehen (Abbildung  3). Im Interview schildert Mina die bildnerische Überschneidung – Kiste und Kleider – wie folgt: Sie selber hänge jeweils abends ihre Kleider über den Fußteil des Bettgestells und sehe dadurch ebenfalls nur Teile ihrer Hose und ihres Pullovers. Die narrative Phantasie und der Einfallsreichtum Minas gründen also auf reflektierter Alltagserfahrung und ihrem sozialen Interesse.

Abbildung 2:  Mina kommentiert ihre Zeichnung im Interview

Abbildung 3:  Zeichnung „In der Schiffskajüte“ von Mina (w. 9;11 J.)

Interesse an kognitiver Herausforderung und kulturelles Wissen

Ganz anders spricht Enia auf das Lernangebot an. Sie ist fasziniert von der kognitiven Herausforderung, sich mit der Protagonistin im Bild zu identifizieren, und gleichzeitig ihren Blick als Zeichnerin – die sich außerhalb des Bildes befindet – ins Zimmer hinein darzustellen. Sie äußert sich entsprechend im Interview (Abbildung  4): „Am meisten [interessierte mich] das Bett (…) und dann – eben, dass man die Aussicht auch hat, dass man seine Füsse noch sieht…“ (I, Z. 13, 41/42). Für sie ist dies ein überraschendes, räumlich-bildnerisches Problem. Das Bett habe sie deshalb auf eine neue Art gezeichnet (Abbildung  5), damit man merke, „dass ich aus dem Bett ins Zimmer schaue“ (I, Z. 276). Das hartnäckige Verfolgen ihres Anliegens lässt sich im videografierten Zeichenprozess rekonstruieren. Enia probiert mehrere Lösungsansätze aus, verwirft sie wieder, radiert aus und setzt neu an. In einer sehr langen Videosequenz ist zu sehen, wie sie nachdenkt und versucht, sich ihren Blick in den Innenraum vorzustellen, indem sie das Zeichenblatt senkrecht vor sich hin stellt (Abbildung 6). Wieder und wieder versucht sie, ihre Vorstellung im Wechsel von Zeichnen und dem Entwickeln einer Idee zu präzisieren. Im Nachhinein ist sie stolz auf ihre Lösung und meint beiläufig: „… dann muss man es ja so machen“ (I, Z. 278). An diesem Fallbeispiel zeigt sich ihre Phantasie in der Fähigkeit, neue, ungewohnte Vorstellungen zu entwickeln. Anhand des videografierten bildnerischen Entstehungsprozesses der Zeichnung sind weitere Facetten der Kompetenz  – wie das kritische Hinterfragen bildnerischen Handelns und eine hohe Reflexivität – dieser 11-jährigen Schülerin rekonstruierbar und werden somit auch für Außenstehende erkennbar.

Abbildung 4: Enia kommentiert ihre Zeichnung im Interview

Abbildung 5: Zeichnung „In der Schiffskajüte“ von Enia (w 10;10 J.)

Zusätzlich kann Enia auf kulturelle Kenntnisse zurückgreifen, wie beispielsweise historische Kostüme und – „… die haben früher so Perücken gehabt“ (I, Z.217) –, aber auch auf die Kenntnis von Artefakten wie Portraitbilder und künstlerische Objekte, wie dies in der rechten Bildhälfte zu sehen ist (Abbildung 5).

Abbildung 6:  Enia versucht sich den Blick auf die Szene vorzustellen

Die Zeichnung der 11-jährigen  Enia (Abbildung  5) zeigt eine für dieses Alter typische Mischung von verschiedenen Raumdarstellungsformen und dahinterliegenden mentalen Konzepten: Die Zimmerdecke ist zentralperspektivisch dargestellt und das Bett von oben, während Zimmerwand, Kleiderkiste, Tisch und Stuhl noch auf der für jüngere Kinder typischen, horizontalen Standlinie (Bodenlinie der Zimmerwand) stehen und ohne räumliche Tiefe sind. Indem Enia beim Blick in den Raum am unteren Blattrand ihre eigenen, unter der Bettdecke hervorguckenden Füße zeichnet, vereint sie den Blick der im Bild dargestellten Person mit ihrem eigenen Blick als Zeichnerin.

Die ein Jahr jüngere Mina hingegen stellt sich selbst als vollständig gezeichnete Figur im Bett dar (Abbildung  3). Für sie ist die Erkennbarkeit aller Objekte wichtig, deshalb müssen sie vollständig (nicht bildnerisch angeschnitten) dargestellt werden. Ihre Zeichnung ist „anordnungsbezogen“ (Aissen-Crewett 1986, 14-19) aufgebaut, denn es wird die Beziehung zwischen den Objekten sichtbar gemacht, nicht aber – wie in „betrachterbezogenen“ Bildern (ebd.) – gleichzeitig die Beziehung der Objekte zu den Betrachtenden, bzw. zur Zeichnerin. Deren Blick ins Zimmer sei erkennbar an der Drehung des Kopfes der gezeichneten  Identifikationsfigur, begründet dies Mina im Rahmen des Interviews, und sie veranschaulicht  diesen Blick mit einer entsprechenden Geste. (Abbildung 2)

Orientierung an Bildkonventionen

Die zentralperspektivische Darstellung der Zimmerdecke ist in Enias Zeichnung (Abbildung 5) ein besonders auffallendes Element. Vermutlich übernimmt  sie hier eine Konvention aus Bildvorlagen, die sie schon  so gesehen hat, denn alle übrigen Formelemente in ihrer Zeichnung weisen weder Verkürzungen noch dreidimensionale Ansätze – wie schräg gestellte Kanten von Objekten – auf. Ihre Erklärung, dass sie sich gerne und häufig Bilder und Filme anschaue und der Großvater ein „Comic-Künstler“ sei, verstärkt unsere Vermutung.

Einflüsse aus der medialen Bildwelt zeigen sich auch in Minas Zeichnung (Abbildung 3). Das Mädchen ist zum Beispiel besonders stolz auf die gezeichnete Figur im Bett, denn sie habe lange Comics studiert und geübt, bis sie angezogene Beine oder eine „gehende“ Figur habe zeichnen können (I, Z. 88). Mina hat eine genaue Vorstellung von einer guten – d. h. lesbaren und verständlichen – Darstellung von Menschen und übernimmt gerne formale Aspekte des „how to do“.

Narrative und formbezogene Phantasie

Rückschlüsse  auf die Verarbeitungskompetenz Phantasie lassen sich aufgrund von reichhaltigem  bildnerischem  Erzählen ziehen, wie dies in den Bildern von Enia und Mina ersichtlich ist. Manchmal – und mit zunehmendem  Alter der Heranwachsenden – bezieht sich die Phantasie  aber auch auf das Variieren einer Form respektive eines Bildzeichens/Zeichens im Bild. Um beispielsweise das Schaukeln des alten Schiffes im Sturm deutlich zu machen, zeichnet Enia nicht bloß den hohen Wellengang in die Fensterluken,  sondern  wandelt die Form der Lampe  ab, um deren Hinund-Her-Schwingen gut sichtbar zu machen (Abbildung 5).

Das sehr einfache Bild „Parcours“ (Abbildung 7) des 11-jährigen Jungen Mendes weist keinen erzählerischen Reichtum auf. Trotzdem findet sich in der Darstellung des Tisches ein Indiz für seine Verarbeitungskompetenz in Sachen Phantasie. Im videografierten Zeichenprozess wird sichtbar, wie der Knabe den Parcours immer wieder in der Erinnerung durchläuft, indem er mit dem Bleistift in der Luft über die Zeichnung gleitet, dann aber beim Tisch ins Stocken gerät. Erst die Schrägstellung des Tisches erlaubt ihm ein ungehindertes Durchlaufen des Parcours in der Vorstellung (Abbildung 8). Seine Handlungsorientierung zwingt ihn, die eigene Vorstellungskraft zu nutzen und eine neue Form für die Tischdarstellung zu erfinden, die für ihn Sinn macht.

Abbildung 7: Zeichnung „Parcours“ von Mendes (m 11;12J.)

Abbildung 8: Filmstills aus dem Zeichenprozess von Mendes

Wechselspiel zwischen äußerer Wirklichkeit und bildhaften Vorstellungen

In Enias Arbeit „Parcours“ fällt auf (Abbildung 9), dass das Wahrnehmungsangebot mit vielfältigen eigenen Assoziationen ergänzt wurde. Im Interview  mit Enia wird deutlich, dass sie Überraschungsmomente liebt und manchmal versucht, diesen Genuss noch zu steigern, indem sie die ästhetischen Erfahrungen ergänzt mit unheimlichen  Vorstellungsbildern – Krokodil, Spinnen, Käfig –, die gleichzeitig anziehend und abschreckend sind. Das didaktische  Setting gibt ihr einen Bezugsrahmen  vor, den sie phantasievoll ausbaut mit Szenen und Situationen, die „im wirklichen Leben (…) schwer erträglich wären“ (Duncker  1999, 16). Im Interview zeigt sie sich denn  auch  glücklich  darüber, dass der erwartete  Auftritt eines Skeletts nicht wirklich eingetroffen sei. Ihre ambivalente Haltung führt sie aber dazu, gleich anschließend  an diese Erleichterung sich eine neue Gefahr auszumalen, der sie sich gerne aussetzt, um ein „krumeliges“ Gefühl zu erleben. Die 11-jährige Enia wechselt ganz selbstverständlich zwischen äußerer Wirklichkeit und persönlichen Konstrukten, die Mögliches und Phantastisches enthalten. Sie liebt es, Phantasien zu entwerfen und objektiv Wahrgenommenes mit einer Welt selbstgeschaffener Bilder zu verbinden, indem sie sich bald spielerisch mit dieser Welt identifiziert und bald als Betrachterin sich wiederum von ihr distanziert.

Abbildung 9: Zeichnung „Parcours“ von Enia (w 10;10 J.)

Literatur

Aissen-Crewett, M. (1986). Räumliche Vorstellung und Darstellung bei Kindern. In: Kunst+Unterricht, Heft 105/1986. 14-19.

Criblez, L.; Oelkers, J.; Reusser, K.; Berner, E.; Halbheer, U.; Huber, Ch. (2009). Bildungsstandards. Zug: Klett und Balmer.

Duncker, L. (1999). Begriff und Struktur ästhetischer Erfahrung. In: N. Neuß (Hrsg.), Ästhetik der Kinder. 9-19. Frankfurt a. M.: GEP Verlag.

Flick, U. (2004). Triangulation. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Glaser-Henzer, E.; Diehl, L.; Diehl Ott, L.; Peez, G. (2012). Zeichnen: Wahrnehmen, Verarbeiten, Darstellen. Empirische Untersuchung zur Ermittlung räumlich-visueller Kompetenzen im Kunstunterricht. Reihe Kontext Kunstpädagogik. München: kopaed.

Strübing, J. (2004). Grounded Theory. Zur sozialtheoretischen und epistemologischen Fundierung des Verfahrens der empirisch begründeten Theoriebildung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Weinert,  F. E. (Hrsg.)  (2001). Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim: Beltz

Mit freundlicher Genehmigung des Waxmann Verlages.
http://www.waxmann.com/?id=20&cHash=1&buchnr=2793

 

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