Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Einleitende Bemerkungen

[…] Neben zahlreichen Gesprächen mit Studierenden, die im Kontext der Hauptseminare zum Literarischen Unterrichtsgespräch an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg geführt wurden, leitete ich vier Gespräche mit Grund-schulkindern. Jeweils zwei davon entstanden in dritten beziehungsweise vierten Klassen an zwei Grund-, Haupt- und Werkrealschulen im Rhein-Neckar-Raum. [1]  Das Gedicht Zirkuskind von Rose Ausländer bildete die Textgrundlage aller literarischen Gespräche und war bis dahin nicht Gegenstand des Literaturunterrichts, weshalb ich davon ausgehen konnte, dass es sich in allen Gesprächsgruppen um die erste Begegnung mit diesem Text handelte. Nach Auskünften der Klassenlehrerinnen hatten die Schüler mit dem Literarischen Unterrichtsgespräch bislang noch keine Erfahrungen gemacht. […]

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Ich möchte nun den Bogen zur dialektischen Wechselbeziehung von „Alterität“ und „Identität“ spannen, die mir im Rahmen der Thematik nicht nur auf theoretischer, sondern auch auf der Ebene unmittelbarer literarischer Erfahrung wichtig ist.

Bei der vorbereitenden Planung der Gespräche ging ich – im Sinne von Bettina Hurrelmanns Terminus des Elaborierens (vgl. Hurrelmann 1987, S. 61 IT.) – davon aus, dass sich die Textdetektive primär für den Spaß- und Spielcharakter der Akrobaten oder für die ungebundene Lebensweise eines Zirkuskindes interessieren würden. Umso faszinierter war ich von jenen Gesprächssequenzen, in denen wir uns gemeinsam der ambivalenten und mehrdeutigen Lesart der Zirkuskind-Metapher annäherten, gerade indem zunächst die konkrete lebensweltliche Lesart sich mit mehrschichtigen Zu-schreibungen „aufladen“ konnte [alle Gesprächsbeiträge 4,l]:

Also ich habe mal auch schon darüber nachgedacht, ob ich gerne ein Zirkuskind wäre * und auf der einen Seite denke ich mir, ja ein Zirkuskind, das kann verrückte und auch ja AUSgefallene Sachen machen, vielleicht auch jonglieren mit Bällen, da musste ich dran denken und das würde beSTIMMT auch Spaß machen, auf der anderen Seite * ja. [L 67/29]

Ja vielleicht mal so eins zwei Tage mal ausprobieren, aber jetzt nicht für immer und ewig [jarmila: ja] so. [Linda 68/9]

Weil da ist man ja dann auch immer im/ unterWEGS und man ist nie [Linda: ja] an der gleichen Stelle. [Judith 69/4]

Ja man, wenn man hier jetzt Freunde gefunden hat, dann muss man die in einer Woche wieder verlassen [L: mhm] [Pierre: und] [Tina: wenn]. [Linda 70/10]

Der Pierre und dann die Tina, ich merke mir es ja. [L 71/30]

Also wenn da und wenn dann einem was gefällt, zum Beispiel die LANDschaft, so dass da viele Blumen sind, neben dran ein schönes Maisfeld ist, wo man dann immer Mais holen kann * und dann ähm ist man da grad so und dann kommt auf einmal der Zirkusdirektor und sagt LOS jetzt wir müssen weiter, ist ja auch nicht so toll. [Pierre 72/3]

Man fühlt sich vielleicht auch nie richtig zu Hause, weil man, wenn wenn man sich vielleicht an die an die Umgebung und die ganzen Sachen gewöhnt hat, dann muss man ja gleich wieder weg. Zirkus bleibt nicht so lang. [Tina 73/8]

Und außerdem muss man dann immer manchmal in ne neue SCHUle und dann. [Linda 74/11]

Diese Gesprächsbeiträge zeigen, dass sich im Literarischen Unterrichtsgespräch eine dialektische Wechselbeziehung von Alterität und Identität ereignen kann. Wir experimentieren mit einem alteritären, uns fremden Lebens- oder Weltentwurf, indem wir unser eigenes und uns als geordnet erscheinendes Leben mit dem ästhetisch-poetischen Lebensentwurf kontrastiv abgleichen.

Vor dem Hintergrund des Entwicklungsstandes der Textdetektive kollidiert im Gespräch der (nomadische) Lebensstil des Zirkuskindes mit ihrem individuellen wie auch kollektiven Leben, das – wie ich in meiner Analyse zahlreicher Gesprächsbeiträge feststellen konnte – vor allem von Themenkreisen wie der Familie und dem gemeinsamen Zuhause, dem Freundeskreis und der Schule geprägt ist. Im literarischen Gespräch spiegelt sich deshalb ein kleiner, wohl aber durchaus repräsentativer Lebensausschnitt ihrer Altersgruppe wider, ein Prozess, der sich zu entzünden vermag an einer

– literarischen und den Kindern fremden Perspektive. Die Kinder können sich – wie in den oben zitierten Gesprächsbeiträgen deutlich wird – von der poetischen Welt des lyrischen Ich abgrenzen,

– „fremden“ Äußerung eines Anderen, der über eigene Erfahrungen (Wünsche, Träume, Ängste) spricht und von der sich wiederum andere Textdetektive distanzieren.

Beide Prozesse können eine intensive Selbstreflexion über die Auseinander-setzung mit dem Fremden anbahnen. Dass das Sprechen über Literatur in seiner identitätsfördernden Wirkung in der Literaturdidaktik bislang auf wenig Resonanz gestoßen ist, wundert sehr, weil das Gespräch im Besonderen Gelegenheit zu Selbstdarstellung anhand von Fremddarstellung gibt. Für Klein und Schlieben-Lange (1996, S. 1; Hervorhebung im Original)

wäre der ausgezeichnete Ort der Konstitution des Subjekts das Gespräch, in dem durch wechselseitige Perspektivierungen, Zuschreibungen und Aushandlungsprozesse über diese Perspektiven und Zuschreibungen die – allerdings immer wieder zu revidierende – Identität der beteiligten Subjekte erst entwickelt wird.

Was Feilke und Ludwig in der Literaturdidaktik für das autobiographische Erzählen konstatieren, begegnet uns auch in Literarischen Gesprächen: Das Sprechen von Ängsten, Träumen und Wünschen bringt, zumindest partiell, das „innere Leben“ (1998, S. 18) der Lernenden zum Ausdruck, was einen wichtigen Reflexionsprozess anbahnen kann, der konstitutiv für die Suche nach der eigenen Identität ist. Die Textdetektive machen sich mit den Metaphern der Traumbälle, des Zirkuskindes und des Balanceakts auf dem Seil über die Arena der Erde auf die Suche nach der eigenen Identität, indem sie

die Verse als facettenreiche Gesprächskerne erkennen, die sie mit eigenen Beiträgen umkreisen und anreichern. Dabei können sie nicht nur implizit erfahren und lernen, dass das Sprechen von sich nicht minder auch ein Sprechen für sich selbst ist – und dass Literatur diese Dimension eröffnen kann.

Fußnote:

[1] An dieser Stelle möchte ich mich sehr herzlich bei den Schülerinnen und Schülern bedanken, mit denen ich Gespräche zum Gedicht Zirkuskind führen konnte. Die Namen wurden verändert und anonymisiert. Ich bedanke mich außerdem sehr herzlich bei Gerhard Härle und Marcus Steinbrenner, mit denen ich mich über didaktische und methodische Überlegungen zum Vorgehen beraten konnte.

Literaturangaben:

Hurrelmann, Bettina (1987): Textverstehen im Gesprächsprozeß – zur Empirie und Hermeneutik von Gesprächen über die Geschlechtertauscherzählungen. In: dies. (Hg): Man müßte ein Mann sein …? Interpretationen und Kontroversen zu Geschlechtertausch- Geschichten in der Frauenliteratur. Düsseldorf: Schwann, S. 57-82

Feilke, Helmuth; Otto, Ludwig (1998): Autobiographisches Erzählen. In: Praxis Deutsch, Jg. 25, H. 152, S. 15-25

Klein, Wolfgang; Schlieben-Lange, Brigitte (1996): Das Ich und die Sprache. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Jg. 26, H. 101, S. 1-5