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Falldarstellung
„Dir brauche ich ja nichts mehr zu sagen.“
Die Schüler eines Neigungskurses Basketball, der aus Jungen der 9. und 10. Klasse besteht, kommen am Beginn der Stunde nach und nach in die Halle. Alle nehmen sich einen Basketball und werfen auf die Körbe, üben für sich das Dribbeln oder den Korbleger. Der Lehrer überprüft in der Zwischenzeit die Anwesenheit. Die Schüler stimmen sich auf die Stunde ein und sind mit sich und dem Ball beschäftigt. Der Lehrer beobachtet das Geschehen und korrigiert die schwächeren Schüler durch Zurufe. Den Distanzwurf eines Schülers auf der anderen Hallenseite kommentiert er so:
L: (laut rufend) Andre, was meinst du wohl, wozu das Zielbrett da is‘?
A: (gedehnt) Jaha.
Derselbe Schüler macht einen weiteren Versuch.
L: Andre, du sollst das Zielbrett zu Hilfe nehmen!
A: Was?
L: Das Zielbrett zu Hilfe (winkt Andre zu sich). Jetzt paß auf: das Quadrat da, das Quadrat (zeigt einen Wurf mit dem Ball des Schülers).
Andre holt seinen Ball wieder und kehrt zur entfernten Hallenseite zurück. Zwei Schüler, die groß gewachsen und offensichtlich schon sehr fortgeschritten sind, zeigen professionell aussehende Würfe und Unterhand-Korbleger. Als der Lehrer einen Wurf dieser Schüler beobachtet, sagt er anerkennend: „Dir brauche ich ja nichts mehr zu sagen. “ Danach pfeift der Lehrer, worauf alle Schüler am Mittelkreis Zusammenkommen. Der Lehrer begrüßt die Gruppe und kündigt an, daß man nun mit dem gemeinsamen Aufwärmen beginnen werde.
Interpretation
Erste Auslegung
Auf den ersten Blick wird jeder, der mit solchen Eröffnungsphasen von Sportstunden vertraut ist, nichts Ungewöhnliches an dieser Szene finden. Der Lehrer nutzt den Stundeneinstieg, um die schwächeren Schüler auf ihre Fehler hinzuweisen und sie zu verbessern. Den sehr guten Basketballspielern gibt er keine Hinweise, wie sie ihre Bewegungen noch optimieren können. Er korrigiert also individuell und folgt damit einer der Korrekturnormen (vgl. [WOLTERS 1999]). Diejenigen, die im Basketball noch unerfahren sind, erhalten mehr Beachtung, vielleicht damit sie den Leistungsunterschied zu den sehr guten Spielern verringern.
Nun kommt es bei einer Korrektur jedoch auch darauf an, wann sie angebracht wird bzw. ob sie vom Lernenden in einer bestimmten Situation gewünscht wird. Und zusätzlich ist von Bedeutung, in welcher Formulierung sie vorgebracht wird. Unter diesen Aspekten stelle ich den Erfolg, den dieser Lehrer mit seinen Korrekturen erreicht, in Frage. Der Lehrer bringt seine Korrekturen vor dem formellen Beginn der Stunde (der Versammlung am Mittelkreis) an. Da die Schüler einzeln in die Halle kommen und sich selbst mit dem Ball beschäftigen, also keine bestimmten, vom Lehrer gestellten Aufgaben ausführen, kann man den Stundenbeginn durchaus als informell charakterisieren. Die schwächeren Schüler haben vermutlich nicht weniger als die Könner das Bedürfnis, im informellen Beginn der Stunde nur für sich Würfe auszuprobieren und sich mit dem Ball wieder vertraut zu machen. Das gedehnte „Jaha“ des korrigierten Andre könnte ein Hinweis darauf sein, daß er sich dabei gestört fühlt. Zudem formuliert der Lehrer seine Verbesserungen nicht als Anregung, z.B. „Versuch‘ doch mal sondern als rigide Anweisung. Seine Korrektur beginnt mit „Du sollst …“, was mir besonders im Zusammenhang mit seinem wohl als Lob gemeinten „Dir brauche ich ja nichts mehr zu sagen“ an einen Könner bedeutungsvoll erscheint. Dieser Lehrer scheint die durchaus verbreitete Ansicht zu teilen, daß eine gekonnte Bewegung sozusagen ein Endpunkt des Lernens ist. Der Lernprozeß selbst hingegen ist das notwendige Übel, das für das erwünschte Produkt einer gekonnten Bewegung in Kauf genommen wird. Die beiden Schüler, die wohl aus dem Vereinssport schon überdurchschnittlich gute Bewegungen mitbringen, braucht der Lehrer seiner Meinung nach nicht mehr zu behelligen. Haben sie durch ihr Können Rechte auf einen „korrekturfreien“ Raum erworben? Die Schüler, die natürlich die unterschiedlichen Reaktionen des Lehrers auf „Könner“ und „Nichtkönner“ registrieren, erleben eine Zweiklassengesellschaft im Sportunterricht: auf der einen Seite die meist kleine Gruppe derjenigen, denen man nichts mehr sagen muß, auf der anderen Seite alle anderen, die man korrigieren muß. Ist die Norm „Korrigiere individuell“ doch nicht immer zu begründen? Zumindest scheint sie nicht als einzige hinzureichen. Um den vorliegenden Fall zu beurteilen, müßte sie gekoppelt werden mit der Forderung „Beachte die Nebenwirkungen der Korrektur“ (vgl. [WOLTERS 1999]).
Gerade bei einem informellen Beginn einer Sportstunde stehen rigide Korrekturen, egal bei welchem Leistungsniveau, im Widerspruch zu der Funktion dieses Stundenteils; zu diesem Zeitpunkt zu korrigieren, verstößt gegen die Norm [WOLTERS 1999]. Hier geht es darum, daß die Schüler sich einstimmen, d.h. daß sie mit der Sache des Sports in Beziehung treten, ohne die Vermittlung einer Lehrperson. Der unmittelbare Kontakt zur Bewegung muß hergestellt werden können. Die Schüler stellen sich selbst Aufgaben, probieren etwas aus oder üben schon Bekanntes, aber ohne die Beteiligung oder Einmischung des Lehrers. In solcher Atmosphäre – eben einem Freiraum – wirken zweckrationale und zudem wenig einfühlsam formulierte Verbesserungen von Lehrerseite störend. Anders verhält es sich allerdings, wenn die Lernenden selbst um Ratschläge und Korrekturen bitten oder Fragen zu bestimmten Bewegungsproblemen stellen; dann sind Korrekturen höchst sinnvoll.
Ich möchte die erste Interpretation des Falles mit einer Forderung zusammenfassen: Der informelle Beginn einer Sportstunde sollte für alle Schülerinnen und Schüler ein korrekturfreier Raum sein.
Erweiterte Auslegung
Unterstützung erfährt diese Forderung auf der einen Seite von bewegungs-theoretischen Überlegungen. Das Einspielen oder die koordinative Einstimmung auf die Sportart führt erst dazu, daß eine Bewegung mit der erforderlichen Konstanz ausgeführt wird. Während des Einspielens können daher Bewegungsvariationen Vorkommen, die nicht dem Könnensstand des Lernenden generell entsprechen, sondern dadurch entstehen, daß der Lernende erst wieder „in die Bewegung“ kommen muß. Wenn man jedoch Fehler korrigieren will, muß man auch davon ausgehen können, daß sie konstant sind bzw. nicht nur zufällig auftreten. Deshalb empfiehlt BREMER (1982, S. 125/126), daß man beim Einspielen nicht korrigieren solle. Die Seite der Bewegungstheorie liefert für den oben beschriebenen Fall also ein zweckrationales Argument, warum eine Korrektur besser unterlassen werden sollte.
Man könnte auf der anderen Seite jedoch auch zurückgreifen auf normative sportpädagogische Konzepte, die der verbreiteten Vermittlung von Bewegungstechnik die Orientierung am Bewegungsgefühl entgegensetzen. Gespeist werden solche Vorstellungen, die vom vorherrschenden Sport- und Bewegungsverständnis abweichen, von der phänomenologischen Betrachtungsweise menschlicher Handlungen (vgl. THIELE, 1995; TREBELS, 1990 a und b; LEIST & LOIBL, 1990; VOLGER, 1990). Die phänomenologische Bewegungsforschung, die sich besonders durch die Unzufriedenheit mit den (zumeist naturwissenschaftlich ausgerichteten) Mainstream-Theorien entwickelte, hat das Ziel, den Menschen zu stärken und seine Intentionalität und Sinngebungen ernst zu nehmen (vgl. THIELE, 1995, S. 63). Der Mensch-Welt-Bezug, der sich in der Bewegung äußert, soll nicht reduziert werden auf einen Subjekt-Objekt-Bezug, sondern das „Dickicht der Lebenswelt“ (THIELE, 1995, S. 66) soll dabei erhalten bleiben. Anstatt mit großem technischen Aufwand Bewegungen zu vermessen und zu objektivieren, soll die Situation einbezogen werden, in der eine Bewegung stattfindet. Ohne Situationsbezug ist keine Beschreibung und Analyse einer Bewegung möglich (ebd., S. 66/67). Für die Vermittlung von Bewegungen und die Bewegungskorrektur hat diese Sichtweise insofern Bedeutung, als sich das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden anders gestalten würde.
„Der Lehrer (als Prototyp des Lehrenden) bräuchte sich nicht mehr vornehmlich als Verwalter und Vermittler von Bewegungstechniken (zu) verstehen, die möglichst reibungsverlustfrei und abbildgetreu in Lernende implantiert werden müssen, weil nur so ‚richtige‘, normgerechte Bewegungen zu erwerben wären, und der Lernende könnte seinerseits (…) die neugewonnenen Freiheiten produktiv nutzen, ohne sich in zumeist ohnehin hoffnungslosen Versuchen einer Angleichung an irgendwelche Idealvorstellungen zu verschleißen“ (THIELE, 1995, S. 73).
In dieselbe Richtung zielen LEIST und LOIBL, wenn sie die Rolle des Lehrers beim Vermitteln von Bewegungen beschreiben. Er solle keine Vorschriften der Bewegungsform geben, sondern Phasen des selbständigen Suchens, des „Ins-Gefühl-Kommens“ ermöglichen. Er trete also hinter die Sache zurück, sei nicht Instruktor, sondern Moderator. Gleichwohl solle er aber in anderen Phasen als „Anwalt der Zweckmäßigkeit“ auftreten, der Bewegungen rational begründet und vermittelt (1990, S. 23). Hierher gehören dann auch Bewegungskorrekturen, die nach THIELE (1995, S. 74) auf ihre Situationsangemessenheit zu überprüfen sind.
Kommen wir auf unseren Fall zurück. Wie ist die Situation zu charakterisieren und welche Rolle spielt der Lehrer? Ziemlich eindeutig füllt der Lehrer die Rolle des Instruktors aus, denn er weist Andre, der den Korbwurf nicht nach der Norm ausführt (er nutzt das Zielbrett nicht[1]), an, wie er den Korbwurf „richtig“ auszuführen habe. In Bezug auf die beiden leistungsstarken Schüler scheint der Lehrer der Meinung zu sein, seine Funktion als Instruktor nicht mehr ausüben zu müssen („Dir brauche ich ja nichts mehr zu sagen.“), da sie bereits die Norm erfüllen. Hätte der Lehrer die Situation berücksichtigt, in der die Schüler sich bewegen, und sie als informellen Stundenbeginn angesehen, als selbständige Suche nach dem Bewegungsgefühl, dann hätte er den Schülern Gelegenheit gegeben, „ins Gefühl zu kommen“, anstatt auf einem Sollwert zu beharren. Auch als Moderator hätte er Hinweise geben können, jedoch in einfühlsamer Form und weniger als Anweisung, sondern als Anregung. So erweckt er den Eindruck, daß eine Bewegung irgendwann fertig ist, daß man über sie verfügt und sie als Instrument beliebig einsetzen kann. TREBELS (1990 a, S. 20) dagegen bezeichnet dies als „unzulässige Elementarisierung des Sich-Bewegens, die möglicherweise in analytischem Interesse zulässig ist, die aber dem Prozeß des persönlichen Bewegungserwerbs und der angemessenen didaktischen Strukturierung von Bewegungslernen nicht entspricht“. Wenn sich der Lehrer überhaupt während des informellen Aufwärmens einschaltet, dann hätten demnach auch die fortgeschrittenen Basketballer Hinweise bekommen können. So aber spiegeln seine Korrekturen ein technokratisches Verständnis der Vermittlung von Bewegungen wieder und sind (daher) der Situation nicht angemessen.
Lösungsmöglichkeiten
Wenn Situationen im Sportunterricht als Erkundungsphasen oder als Einstimmung einzuschätzen sind, dann kann die generelle Empfehlung lauten, das Korrigieren ganz zu unterlassen. Gegebenenfalls können Lehrende anbieten, daß sie in dieser Zeit für Fragen und Korrekturhinweise zur Verfügung stehen. Wenn Lernende das Angebot nutzen, bestehen für die Umsetzung der Korrekturen sehr gute Voraussetzungen, weil die Motivation der Lernenden zur Verbesserung ihrer Bewegungen hoch ist. Im gegenteiligen Fall – wenn Lernende nicht aktiv die Hilfe von Lehrenden aufsuchen – ist von Korrekturversuchen abzuraten.
Fußnote:
[1] Ich möchte hier nicht näher darauf eingehen, wie zweifelhaft dieser Sollwert ist. Bei Distanzwürfen bringt das Anspielen des Brettes keinen Vorteil, sondern vermehrt bei kleinen Abweichung vom Ziel die Ungenauigkeit. Daher sind im Leistungsbasketball nur „brettlose“ Distanzwürfe zu sehen.
Quelle:
Wolters, P. (1999). Bewegungskorrektur im Sportunterricht. Schorndorf: Hofmann.
Mit freundlicher Genehmigung des Hoffman Verlages.
https://www.hofmann-verlag.de/
Literaturangaben:
BREMER, D. (1982). Beobachtung – Beobachtungsanalyse – Fehleranalyse – Fehlerkorrektur. In R. BORNEMANN & B. ZEIN (Red.), Tennis-Methodik (S. 109-131). Ahrensburg: Czwalina.
LEIST, K.-H. & LOIBL, J. (1990). Vom gefühlvollen Sich-Bewegen und seiner Vermittlung. Sportpädagogik, 14 (4), 19-25.
WOLTERS (1999) Bewegungskorrektur im Sportunterricht. Schorndorf: Hofmann.
THIELE, J. (1995). „Mit anderen Augen“ – Bewegung als Phänomen verstehen. In R. PROHL & J. SEEWALD (Hrsg.), Bewegung verstehen (S. 57-76). Schorndorf: Hofmann.
TREBELS, A. (1990 a). Bewegungen sehen und beurteilen. Sportpädagogik, 14 (1), 12-20.
VOLGER, B. (1990). Lehren von Bewegungen. Ahrensburg: Czwalina.
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