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Falldarstellung
Die Schülerinnen und Schüler führen die Bewegung nicht besser aus als vorher.
Eine 6. Klasse probiert vom Lehrer vorgegebene Startformen aus. Der Lehrer erklärt und zeigt den Fallstart, bei dem man sich mit gestrecktem Körper nach vorne fallen läßt, bis ein explosiver Antritt möglich ist. Jeweils sieben Schülerinnen und Schüler starten auf das Kommando des Lehrers. Nach einem Durchgang korrigiert der Lehrer die gesamte Gruppe. Die Klasse ist aufmerksam und ruhig. Die Schülerinnen und Schüler haben sich dem Lehrer zugewandt, der im rechten Winkel zur Klasse steht.
L.: Wir wollen das gleich nochmal machen. Und versucht euch wirklich mal darum zu bemühen, nicht aus der aufrechten Körperhaltung, die ihr sonst habt, so los zu laufen (zeigt das Fehlerbild), sondern laßt wirklich mal euren Oberkörper h Stück nach vorne fallen (zeigt es; mehrere Schüler machen spontan die Bewegung richtig nach). Ihr könnt euch viel stärker vom Boden abdrücken als mit hem aufrechten Oberkörper. Versucht das jetzt mal, ja?
Beim nächsten Durchgang führen die Schülerinnen und Schüler die Bewegung nicht besser aus als vorher. Wie im ersten Durchgang laufen sie aus einer relativ aufrechten Haltung los. Die meisten Kinder sind begeistert dabei und strengen sich sichtbar an. Einige jubeln, wenn sie als erste auf der anderen Seite der Halle ankommen. Allerdings ist die vom Lehrer gezeigte Vorlage jetzt auch bei denen nicht mehr zu erkennen, die während seiner Ansage die Bewegung richtig mitgemacht hatten.
Interpretation
Erste Auslegung
Die wichtigste Frage, die das Dokument aufwirft, möchte ich gleich an den Beginn der ersten Auslegung stellen: Woran liegt es, daß die Korrektur des Lehrers wirkungslos bleibt? Die Klasse sieht und hört dem Lehrer, dessen Position zu den Lernenden günstig ist, konzentriert zu; an den rein äußerlichen Bedingungen, die sonst oft Korrekturen oder Ansagen beeinträchtigen, kann es demnach nicht gelegen haben. Der Lehrer macht den Unterschied zwischen der „falschen“ und der „richtigen“ Bewegung klar, indem er beide vorzeigt. Zudem erläutert er, wie der Fallstart auszuführen ist und welche Vorteile es hat, wenn man den Körper in Vorlage bringt („Ihr könnt euch viel stärker vom Boden abdrücken als mit ’nem aufrechten Oberkörper.“). Es mangelt der Korrektur also weder an Anschaulichkeit noch an Verständlichkeit. Der Lehrer hat wohl zusätzlich das Bestreben, den Schülerinnen und Schülern zu verdeutlichen, warum die „richtige“ Bewegung günstiger ist als die von ihnen angewendete Ausführung. Somit begründet er sogar, warum er sie korrigiert. Man sollte meinen, daß der Lehrer gute Voraussetzungen dafür geschaffen hat, daß die Korrektur „ankommt“. Tat-sächlich ahmen ja einige Schüler, ohne vom Lehrer dazu aufgefordert zu sein, die „richtige“ Bewegungsausführung nach. Sie scheinen eigentlich verstanden zu haben, wie die Korrektur des Lehrers gemeint und wie sie umzusetzen ist. Motivationsprobleme scheiden als Erklärung für das Verhalten der Schülerinnen und Schüler ebenfalls aus, denn sie machen während der Demonstration des Lehrers schon unaufgefordert mit – ein Zeichen dafür, daß sie durchaus den Fallstart lernen wollen. Warum aber fallen sie dann bei der Startübung wieder in alte Muster zurück?
Die Umstände, unter denen die Schülerinnen und Schüler die Bewegung einmal „richtig“ und einmal „falsch“ ausführen, sind grundsätzlich verschieden. Als sie den Lehrer spontan nachahmen, tun sie dies jeder für sich, ohne in eine bestimmte Organisationsform eingebunden zu sein. Da die Schülerinnen und Schüler jedoch bei der eigentlichen Übung den Fallstart auf Kommando des Lehrers ausführen, entsteht eine Wettkampfsituation, d.h. für die Schülerinnen und Schüler geht es darum, möglichst schnell loszulaufen. Zum Fallen beim Fallstart braucht man jedoch Zeit. Wer den Fallstart gewissenhaft nach der Anweisung des Lehrers ausführt, kann den Wettlauf nicht gewinnen. Die Situation legt also den Fehler nahe, auch wenn der Lehrer gar kein Wettrennen veranstalten wollte. Vermutlich hat der Lehrer sich aus organisatorischen Gründen dazu entschieden, jeweils sieben Kinder auf Kommando starten zu lassen. Er war sich bei seiner Planung offensichtlich nicht klar darüber, wie diese Organisationsform auf die Schülerinnen und Schüler wirken würde bzw. wie sie die Situation deuten würden. Oder aber er hat nicht bedacht, daß der Fallstart ungeeignet für einen Start auf Kommando ist. Jedenfalls erzeugt er ungewollt einen Konflikt zwischen Wettkämpfen und Üben, den die Schülerinnen und Schüler für sich eindeutig entscheiden: Ihnen ist der Wettkampf wichtiger.
So betrachtet beruht der „Bewegungsfehler“ nicht etwa auf mangelnden koordinativen oder konditionellen Fähigkeiten der Lernenden, sondern Ist Folge des Unterrichtsarrangements des Lehrers. Was korrigiert werden muß, ist demnach nicht das Bewegungsverhalten der Schülerinnen und Schüler, sondern die Organisationsform, die der Lehrer gewählt hat.
Greift man auf die in [WOLTERS, 1999] formulierten Korrekturnormen zurück, dann vorstößt der Lehrer dieses Falles einerseits gegen die Norm „Korrigiere effizient“, denn sein Verbesserungsversuch bleibt ohne Wirkung. Andererseits kann seine Korrektur keinen Erfolg haben, weil sie nur an den Symptomen der Bewegung ansetzt und nicht an deren Ursachen [(vgl. WOLTERS,1999)].
Allerdings muß man beide Normen neu interpretieren und gewichten, um zu unterrichtsrelevanten Aussagen zu kommen. Dazu soll die folgende Auslegung dienen.
Erweiterte Auslegung
Betrachtet man die oben dargestellte Unterrichtssituation auf der Folie von wissenschaftlichen Theorien, die Bewegungen als Handlungen ansehen, so kann dies zum weiteren Verständnis beitragen, warum Lehrer und Schüler „aneinander vorbei handeln“. Als eine Invariante des Handelns gilt, daß das handelnde Subjekt ein antizipiertes Ziel hat (vgl. u.a. WEHNER, 1984 b, S. 8) – ob und wie sehr dieses dem Subjekt bewußt ist, sei hier einmal beiseite gestellt. Wie man aus dem äußerlich sichtbaren Bewegungsverhalten der Schülerinnen und Schüler schließen kann, bestand ihr Handlungsziel darin, einen Wettlauf zu gewinnen. Das Vermittlungsziel des Lehrers, einen technisch guten Fallstart zu lehren, tritt demgegenüber in den Hintergrund. Die Fehlerursache liegt also darin, daß die Schülerinnen und Schüler ein divergentes Handlungsziel haben (vgl. NAGEL, 1990, S. 49), d.h. der Intention des Lehrers nicht folgen.
Nun kann man weiter fragen, warum die Kinder in unserer Unterrichtsszene gerade das Handlungsziel der Überbietung anstreben. Eine der Grundkategorien des Handelns ist nach EHNI (1979, S. 184) der Sinn dieses Tuns, denn eine Handlung ist nicht nur etwas, sondern bewirkt und bedeutet auch immer etwas (vgl. auch GRUPE, 1982). Der Sinn oder die Bedeutung liegen jedoch weder in der objektiven „Sache des Sports“ noch in der subjektiven des Menschen begründet, sondern konstituieren sich erst durch Handeln (vgl. EHNI, 1977, S. 127).
„Die Handlung ist der Kreuzungspunkt, auf dem subjektive Verfassungen und objektive Ansprüche aufeinandertreffen und aneinander vermittelt werden. Allererst im und durch Handeln werden innere Dispositionen aktualisiert, Methoden bzw. Mittel angewandt, bestimmte Inhalte vermittelt und damit konkrete Ziele erreicht und ein Sinnzusammenhang erzeugt“ (EHNI, 1979, S. 179).
Indem die Schülerinnen und Schüler die Technik des Fallstarts vernachlässigen und stattdessen so starten, daß sie möglichst schnell nach dem Kommando loslaufen können, erzeugen sie durch ein solches Handeln einen Sinnzusammenhang, nämlich den des Wettkampfs.
In der sportpädagogischen Literatur finden sich verschiedene Modelle, die versuchen, die Vielfalt der sportlichen Erscheinungsformen bestimmten Sinnrichtungen oder Bedeutungen zuzuordnen.[2] EHNI (1985 a, S. 42-46) unterscheidet als zentrale Sinnrichtungen des sportlichen Handelns bzw. als exemplarische Handlungsformen das Erkunden, Üben, Trainieren, Wettkämpfen und Spielen.[3] Die beiden Sinnrichtungen, die im Zusammenhang unseres Unterrichtsbeispiels von Bedeutung sind, sind das Üben und das Wettkämpfen – wie bereits in der ersten Auslegung angedeutet. Üben, eine selbst- oder fremdgesteuerte Wiederholungshandlung, die auf eine Verbesserung oder Sicherung von bestimmten Fertigkeiten abzielt, zeichnet sich dadurch aus, daß die Übungsziele in ökonomischen Zweck-Mittel-Relationen erworben bzw. vermittelt werden können (vgl. EHNI 1985, a, S. 43). Unter dieser Perspektive sieht der Lehrer den Fallstart. Die Schülerinnen und Schüler jedoch bedeuten die Bewegung auf ein Startsignal hin als Wettkampf. Anstelle des zweckrationalen Übens, das vom Lehrer intendiert ist, sehen sie zuallererst die Spannung des Vergleichs und der Konkurrenz unter gleichen Bedingungen. Der Lehrer „verleitet“ sie geradewegs zu dieser Fehlinterpretation seines Vorhabens, denn er läßt auf Kommando jeweils sieben Schülerinnen und Schüler starten – eine typische Vergleichssituation. Er schafft durch das für alle gegebene Startsignal gleiche Bedingungen, die ja kennzeichnend für einen Wettkampf sind. Die Bedeutung einer Bewegung kann jedoch nur im Zusammenhang mit der Situation verstanden werden, oder anders formuliert: der Vollzug einer Bewegung ist immer situationsgebundenes Handeln (vgl. GRUPE, 1982, S. 77). Der Widerspruch, den der Lehrer zwischen Absicht (Üben) und Wirkung (Wettkampf) durch seine Unterrichtsorganisation erzeugt, läßt seine Korrektur scheitern. Er hat damit gegen einen Grundsatz der handlungsorientierten Didaktik verstoßen, den EHNI (1979, S. 203) so formuliert: „Jede Handlungsform, in der der Sport vermittelt wird, enthält eine in sich geschlossene und typische didaktische Struktur. Diese muß als solche bewußt und durch ein entsprechendes Arrangement sichtbar werden und darf nicht ohne weiteres vermischt, beschönigt oder gar verschleiert werden.“
Lösungsmöglichkeiten
Um die Bedeutungsdimensionen Üben und Wettkämpfen auseinander zu halten, müßte sich der Lehrer zuvor klar machen, ob er mehr Wert auf die Fertigkeit des Fallstarts legt oder ob er ein spannungsreiches Wettrennen veranstalten will. Wenn es tatsächlich um das Erlernen des Fallstarts gehen soll, muß er auf das Startzeichen verzichten, das den Wettkampf provoziert. Wenn die Übenden sich einzeln mit der Bewegung auseinandersetzen können, entfällt der hinderliche Zeitdruck; so können sie eine größere Vorlage erzeugen und besser erspüren, wie sich dies auf die ersten Schritte auswirkt. Eine hilfreiche Anweisung für den Fallstart könnte lauten: „Laßt euch so lange mit gestreckter Hüfte nach vorne kippen, bis ihr einen Schritt machen müßt, um nicht hinzufallen.“ Um diesen „kritischen Punkt“ herum können die Schülerinnen und Schüler dann beim weiteren Üben nach ihrer optimalen (nicht maximalen) Vorlage suchen.
Will man eine klare Organisationsform beibehalten, könnte man nach wie vor mehrere Übende gleichzeitig antreten lassen, jedoch mit der Aufgabe, nacheinander den Fallstart auszuführen, z.B. so, daß der zweite zu kippen beginnt, wenn der erste seinen ersten Schritt macht usw. Auf diese Weise würden die Schülerinnen und Schüler sich beobachten und davon für ihre eigene Bewegung profitieren (Imitationslernen). Das Eingebunden- Sein in ein Gruppengeschehen und dessen Regelmäßigkeit wirkt sich zudem förderlich auf die Konzentration aus, die für eine solche Bewegungsaufgabe nötig ist.
Fußnoten:
[1] Dieser Fall ist auch zu finden bei WOLTERS (1996, S. 310/311).
[2] Außer der hier bevorzugten Systematik von EHNI entwerfen KURZ (1977) und GRUPE (1982) Ordnungsversuche für sportliche Handlungen, die sich an Sinnrichtungen bzw. Bedeutungsdimensionen orientieren. KURZ (1977, S. 85-101) greift auf die bildungstheoretische Tradition zurück, indem er das Sporttreiben nach mutmaßlichen Motiven der Sporttreibenden und dem daraus abgeleiteten pädagogischen Wert zu systematisieren versucht. Er unterscheidet sechs Sinnrichtungen: Leistung, Ausdruck, Eindruck, Gesundheit, Anschluß und Spiel. Wollte man unsere Unterrichtssituation unter diesen Kategorien analysieren, könnte man einen Konflikt zwischen Leistung und Eindruck (der Konzentration auf den Vollzug der Bewegung selbst) unterstellen. GRUPE (1982) beschreibt in seinem Kapitel „Was ist und was bedeutet Bewegung?“ vier Bedeutungen von menschlichen Bewegungen: die instrumentelle, die explorierend-erkundende, die soziale und die personale. Wiederum angewendet auf die oben dargestellte Begebenheit, scheint mir die soziale vor der personalen Bedeutung die dominierende Rolle zu spielen. Den Schülerinnen und Schülern sind Startsignale, die für mehrere gleichzeitig gegeben werden, ganz eindeutig Zeichen für einen Wettkampf, denn – so GRUPE (1982, S 94) – „vieles hat oder erhält seine Bedeutungshaftigkeit aufgrund einer allgemeineren Sinngebung“. Die Kinder reproduzieren also die in unserer Kultur vorherrschende Interpretation einer solchen Situation.
[3] In einem Vorläufermodell (EHNI, 1979, S. 192/193) hießen die Sinnrichtungen „Explorieren, Lehren und Lernen, Üben, Trainieren, Darstellen und Vergleichen, Spielen und Sprechen“. Die Anzahl der Kategorien ist also deutlich reduziert worden, was sicherlich die Abgrenzung der einzelnen Sinnrichtungen voneinander erleichtert und für die Praxis einen höheren Aufklärungswert hat, besonders wenn es um die Vermittlung geht.
Quelle:
Wolters, P. (1999). Bewegungskorrektur im Sportunterricht. Schorndorf: Hofmann.
Mit freundlicher Genehmigung des Hoffman Verlages.
https://www.hofmann-verlag.de/
Literaturangaben:
EHNI, H. (1977). Sport und Schulsport. Schorndorf: Hofmann.
EHNI, H. (1979). Handlungsorientierte Sportdidaktik. In S. GRÖSSING (Hrsg.), Spektrum der Sportdidaktik (S. 173-206). Bad Homburg: Limpert.
EHNI, H. (1985 a). Spiel und Sport mit Kindern – ein Wissensangebot. In H. EHNI, J. KRETSCHMER & K. SCHERLER, Spiel und Sport mit Kindern (S. 11 -96). Reinbek: Rowohlt.
GRUPE, O. (1982). Bewegung, Spiel und Leistung im Sport. Schorndorf: Hofmann.
KURZ, D. (1977). Elemente des Schulsports. Schorndorf: Hofmann.
NAGEL, V. & WULKOP, M. (1992). Techniktraining im Hockey. Ahrensburg: Czwalina
WEHNER, T. (1984 b). Im Schatten des Handlungsfehlers – Ein Erkenntnisraum motorischen Geschehens. Bremer Beiträge zur Psychologie, Nr. 36.
WOLTERS, P. (1996). Bewegungskorrektur im Sportunterricht. In B. BLANKE (Hrsg.), Frauenforschung sichtbar machen (2) (S. 289-317). Hamburg: Czwalina.
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