Dieser Fallkomplex besteht aus den Fällen (inklusive diesem):

 

Falldarstellung

 

„Weil wir die Bälle jetzt gerade in der Hand haben …“

Fine 7. Klasse macht verschiedene Übungen mit Tennisbällen; unter anderem probieren sie das Jonglieren mit drei Bällen. Der Lehrer ruft die Jungen und Mädchen am Mittelkreis zusammen.

L: Weil wir die Bälle jetzt gerade in der Hand haben (hält seinen Tennisball hoch) – ich hab‘ da oben so n paar Nummern da reingeschrieben (zeigt auf zwei Gitterleitern an der Stirnseite der Halle; die Schülerinnen und Schüler drehen sich um) – wollen wir ’n bißchen Zielwerfen machen, ungefähr drei, vier Minuten. Die Bälle kommen zurück und die nehmt ihr einfach auf und werft von der Mittellinie aus, von der Mittellinie versucht ihr einfach mal, nacheinander Nummer 1, 2 und 3 zu treffen.

Die Schülerinnen und Schüler stellen sich schon an der Mittellinie auf.

L: Nich‘ hart, gezielt werfen.

Es bilden sich zwei Gruppen, vor der rechten Gitterleiter die Jungen, vor der linken
die Mädchen. Alle Jungen werfen mit einem Schlagwurf, wobei sie das gegengleiche Bein nach vorne stellen. Bei den Mädchen haben vier Rechtswerfe- rinnen auch das rechte Bein vorn, ein Mädchen wirft mit einer Art „Schöpf-technik“ von unten. Manche Mädchen schaffen es mit ihren Würfen kaum bis zur Wand, geschweige denn, daß sie die Zahlen treffen. Daraufhin läßt der Lehrer sie näher an die Ziele gehen. Nach einiger Übungszeit unterbricht der Lehrer. Er steht zwischen den Schülerinnen und Schülern und den Gitterleitern.

L: Einige werfen von Euch noch von unten oder ’n bißchen von der Seite und haben das falsche Bein vorne. Wenn ich mit rechts werfe, und ich will einen Schlagwurf machen oder auch Kernwurf, dann muß ich das linke Bein nach vorne stellen, den Arm zurück nehmen (zeigt es) und am Ohr vorbeiführen und dann werfen (wirft ab). Versucht das mal bitte alle. Das habt ihr ja schon alle genug gemacht, aber versucht mal alle, so gerade zu werfen.

Die Schülerinnen und Schüler üben weiter. Nur ein Mädchen stellt nun noch das rechte Bein zum Abwurf nach vorn.

Interpretation

Erste Auslegung

Betrachtet man die Korrektur vom Ergebnis her, so kann der Lehrer zufrieden sein. Bis auf ein Mädchen führen nun alle einen Kernwurf aus. Die Norm „Korrigiere effizient“ hat der Lehrer damit wohl erfüllt. Aber bestand die ursprüngliche Aufgabe denn in einem Kernwurf? Der Lehrer hat in seiner Ansage nur ein Zielwerfen angekündigt. Es liegt der Verdacht nahe, daß er diese erste Aufgabe gar nicht ernst gemeint hat oder daß das Zielwerfen eigentlich nur eine Verpackung war, um den Schülerinnen und Schülern das Werfen überhaupt schmackhaft zu machen. Wenn man so will, sind die Zahlen in der Gitterleiter ein Motivationstrick. Als Indizien für diese Vermutung können die Äußerungen des Lehrers zu Beginn gelten. Zunächst tut er so, als ergreife er zufällig eine günstige Gelegenheit, um mit der Klasse zu werfen, da sie ja gerade die Tennisbälle in der Hand hätten. Wenn also diese günstigen Umstände nicht eingetreten wären, hätte dann der Lehrer auf den Inhalt Werfen verzichtet? Wohl kaum. Außerdem „wollen wir“ auch nur ein bißchen Zielwerfen machen, keinesfalls mehr als drei bis vier Minuten. Wieso rechtfertigt der Lehrer seinen Unterrichtsinhalt auf solche Weise? Er scheint zu befürchten, daß die Schülerinnen und Schüler keine Lust zum Werfen haben. Er versucht, durch die Ankündigung ihrem – von ihm unterstellten – Unmut schon im Vorwege den Wind aus den Segeln zu nehmen, vermutlich mit der Überlegung,[1]  daß sie sich schon beteiligen werden, wenn sie die Übung nur drei bis vier Minuten lang machen sollen.

Ginge es tatsächlich um Zielwerfen, wie es der Lehrer ankündigt, dann wäre seine Korrektur unangebracht, denn dafür kann es keine verbindliche Bewegungsausführung geben. Das Erfolgskriterium wäre einzig und allein, ob das Ziel getroffen wird oder nicht. Daher sind die Bewegungslösungen einiger Mädchen durchaus funktional im Sinne des Zielwerfens. Sowohl die Schöpftechnik von unten, die historisch sogar bei Freiwürfen im Basketball verwendet wurde, als auch die „Dartstechnik“ (rechtes Bein bei rechtem Wurfarm vorne) dienen der Genauigkeit. Für die Mädchen erweist sich allerdings die Entfernung vom Ziel als zu groß, was der Lehrer immerhin im Laufe der Übungsphase verändert.

Durch die Korrektur des Lehrers wird dann jedoch das wahre, aber mit Hilfe der Aufgabenstellung verschleierte Ziel der Übung klar: Der Kernwurf ist der Sollwert des Lehrers. Wieder fällt auf, wie er formuliert. „Wenn ich mit rechts werfe, und ich will einen Schlagwurf machen oder auch Kernwurf, dann muß ich das linke Bein nach vorne stellen…“ Auf die Gefahr hin, das „Unbewußte“ überzustrapazieren, behaupte ich, daß der Lehrer nicht zufällig von dem „wir“ in der Aufgabenstellung jetzt zum „ich“ wechselt. Während er durch die erste Ansage genügende Beteiligung sicherstellen will und deswegen das kollektive „wir“ gebraucht, kommt er bei der Korrektur zu seinem Ziel der Übung, das vorher unausgesprochen blieb; daher das „ich“. Am Ende der zweiten Ansage mildert der Lehrer seine Korrektur ab, indem er die Schülerinnen und Schüler lobt, daß sie schon genug geworfen hätten, aber doch bitte noch einmal alle versuchen sollten, „so gerade zu werfen“. Diese abschließenden Äußerungen ähneln denen der Aufgabenstellung; von außen betrachtet gewinnt man in der Tat den Eindruck, daß der Lehrer sich beständig für seinen Unterricht entschuldigt und an die Klasse appelliert, doch trotzdem mitzumachen. Obwohl für die Beteiligten – den Lehrer und die Schülerinnen und Schüler – offensichtlich kein Problem in der Situation entsteht, denn die Korrektur des Lehrers zeigt ja die gewünschte Wirkung, kann man, wenn man die Außenperspektive einnimmt, zu einem ganz anderen Schluß kommen.

Was heißt dies abschließend für die Bewegungskorrektur? Der Lehrer müßte sich klar machen, welches Ziel er vorrangig verfolgen will. Denn er scheint sich nicht darüber klar zu sein, daß er zwei sich widersprechende Ziele hat. Ist es das Zielwerfen, dann sollte er seine Korrektur unterlassen. Wenn er jedoch den Kernwurf lehren will, dann müßte seine Aufgabe anders beschaffen sein, damit die Korrektur folgerichtig dazu paßt.

Dieser Fall ist nicht unter eine der zehn Normen zu subsumieren, denn das „Unglück“ liegt nicht erst in der Bewegungskorrektur begründet, sondern geht schon zurück auf die Unterrichtsplanung bzw. allgemeine Probleme des Unterrichtens. Der Fall sprengt sozusagen den engen Bereich der Bewegungskorrektur.

Erweiterte Auslegung

In meiner ersten Auslegung habe ich dem Lehrer unterstellt, er wende einen Motivationstrick an, um die Schülerinnen und Schüler zum Mitmachen zu bringen. Wohlwollender könnte man von „Motivierung“ sprechen, die als Aufgabe von Lehrenden angesehen wird. Im Alltagsgeschäft des Unterrichtens ist viel die Rede davon, daß Schülerinnen und Schüler für einen bestimmten Gegenstand motiviert werden sollen, daß der Unterrichtseinstieg motivierend sein solle oder daß die Schülerinnen und Schüler, wenn eine Unterrichtstunde mißlingt, nicht genügend motiviert waren. Keine Theorie im engeren Sinne, aber eine kritsche Auseinandersetzung mit diesen Alltagstheorien liefern uns GRELL und GRELL (1979, S. 134-151).

Sie behaupten, daß die heute gängigen Motivationstheorien zwar wissenschaftlich interessant seien, aber als Interpretationsfolien oder Handlungsorientierung für Lehrer entweder unbrauchbar oder schädlich oder beides seien (ebd., S. 134). Schädlich können Motivationstheorien dann sein, wenn sie geradewegs in moralische Forderungen an Lehrende übersetzt werden, (etwa: „Du sollst die Schüler richtig motivieren“) und sich so Lehrgewohnheiten etablieren, die nur, weil sie mit dem Begriff „Motivation“ in Verbindung gebracht werden, als gerechtfertigt erscheinen (ebd., S. 135). Die Unterscheidung von intrinsischer und extrinsischer Motivation führe in der Praxis z.B. zu der Annahme, daß man bei geschicktem Vorgehen die höher bewertete intrinsische Motivation hervorrufen könne. GRELL und GRELL verweisen zu Recht darauf, daß intrinsische Motivation nicht quasi angeschaltet werden kann,[2]  und geben den Ratschlag, das Thema lieber ganz zu vergessen, wenn man erfolgreich unterrichten wolle (ebd., S. 136). Eine weitere Alltagsannahme über Motivation hat unheilvolle Folgen für die Unterrichtspraxis: die Idee, daß am Anfang jeden Unterrichts eine Motivationsphase stehen müsse, weil nur motivierte Schülerinnen und Schüler lernen könnten. Der motivierende Unterrichtseinstieg wird als feste Größe betrachtet, obwohl nicht nachzuweisen ist, daß dadurch besser oder schneller oder nachhaltiger gelernt wird. „Der motivierende Stundeneinstieg ist ein Mythos. Er ist nur deswegen so lebendig, weil so viele Lehrer einen so starken Glauben an seine Wirksamkeit haben“ (GRELL & GRELL, 1979, S. 138).

Doch machen nicht täglich Lehrerinnen und Lehrer die Erfahrung, daß mindestens ein Teil der Lerngruppe keine Lust hat, sich nicht von dem Lerngegenstand angesprochen fühlt? GRELL und GRELL streiten nicht ab, daß sich dies in der Institution Schule so verhält, jedoch warnen sie davor, deswegen eine Art „Verführungsunterricht“ zu veranstalten, bei dem Schülerinnen und Schüler nur motiviert werden, damit sie nicht merken, was und wozu sie lernen (ebd., S. 141). Die heimlichen Befürchtungen der Lehrperson, daß das Unterrichtsthema für die Klasse zu langweilig, zu trocken oder zu abschreckend sein könnte, verleiten zum Taktieren. Wenn die Klasse das ungeschminkte Thema gar nicht zu Gesicht bekommt, sondern nur in der Motivationsverpackung, dann hofft man damit eventuellen Widerstand zu vermeiden (ebd., S. 142/143). Allerdings verhindert man damit gleichzeitig, daß sich Schülerinnen und Schüler bewußt für das Thema engagieren und sich aus eigenem Interesse beteiligen. Zudem teilen sich ihnen die geheimen Befürchtungen der Lehrperson doch mit, so daß sie dann das Thema tatsächlich ablehnen. So ergibt sich ein Teufelskreis, der immer nur wieder zu beweisen scheint, wie unerläßlich die Motivierung von Schülerinnen und Schülern für das Gelingen des Unterrichts ist (ebd., S. 145). Daher bürgern sich verschiedene Motivierungsbräuche ein, von denen einer darin besteht, die Klasse irgendetwas machen zu lassen, ohne preiszugeben, was sie eigentlich macht und wozu (ebd., S. 146). Abschließendes Urteil von GRELL und GRELL (ebd., S. 150): „Die latente Funktion dieser Sitten besteht nicht darin, den Schülern das Lernen zu erleichtern, sondern den Lehrern das Unterrichten.“

Kann man das Verhalten des Lehrers in unserem konkreten Fall so verstehen? Haben wir einen Fall von „Verführungsunterricht“ vor uns? Der Ausdruck mag zu stark sein. Dennoch meine ich, daß GRELL und GRELL uns ein Erklärungsmuster liefern, das für die Szene taugt. Der Lehrer läßt die Schülerinnen und Schüler zunächst zielwerfen, um später „durch die Hintertür“ zu seinem heimlichen Thema, der Technik des Kernwurfs zu kommen. Wenn man seine Sprache analysiert, dann kann man zu dem Ergebnis kommen, daß sie das Symptom sind für sein problematisches Verhältnis sowohl zu seinem Stoff als auch zu der Klasse, der er den Stoff präsentiert. Auch wenn es für die Beteiligten kein Problem darstellt und die Schülerinnen und Schüler verstehen, was der Lehrer meint, ist die Sprache doch „unecht“. Mit Sicherheit hat der Lehrer das Zielwerfen bzw. den Kernwurf als Inhalt der Stunde vorher geplant – schließlich hat er schon Zahlen in die Felder der Gitterleiter geschrieben. Er sagt aber: „Weil wir die

Bälle jetzt gerade in der Hand haben, woll’n wir so’n bißchen Zielwerfen machen.“ Außer dem unechten Zufall, daß plötzlich Zielwerfen gemacht wird, ist ja auch nicht wirklich gemeint, daß der Lehrer gemeinsam mit der Klasse werfen will. Durch das „wir“ möchte der Lehrer eine Gemeinschaft mit den Schülerinnen und Schülern herstellen, die es aber de facto nicht gibt (vgl. VOLKAMER & ZIMMER, 1982, S. 67). Die Sprache des Lehrers ist verräterisch: sie resultiert aus dem Bestreben, seine Rolle zu sichern und seinen Stoff durchzusetzen und gleichzeitig positive Beziehungen zu den Schülerinnen und Schülern aufrechtzuerhalten (ebd., S. 72). Das zugrundeliegende Problem ist die Angst des Lehrers, daß die Lerngruppe sich offen gegen das vermeintlich langweilige Werfen sperren könnte, wenn er das Thema unverkleidet ankündigte. So greift er auf den von GRELL und GRELL beschriebenen Motivierungsbrauch zurück, die Schülerinnen und Schüler erst etwas machen zu lassen, ohne sein wahres Ziel preiszugeben.

Lösungsmöglichkeiten

Zwei Lösungsmöglichkeiten sind denkbar: entweder kündigt der Lehrer offen an, daß es ihm um den Kernwurf und dessen Technik geht, oder er unterläßt die Korrektur. Im ersten Fall wäre das Zielwerfen auf die Zahlen der Gitterleiter nicht mehr angemessen. In der Halle mit Tennisbällen auf Weite zu werfen, dürfte allerdings für die meisten Schülerinnen und Schüler der achten Klasse keine Herausforderung sein. Würde man die Aufgabe dahingehend ändern, daß gezielt und hart geworfen werden soll – wie es z.B. beim Torwurf des Handballs gefordert ist – bliebe dennoch der Kernwurf die am besten geeignete Technik. Übungssituationen, die einen harten und gezielten Wurf erfordern, sind z.B. das Abwerfen von Gegenständen von einem Kasten oder Torwürfe mit Torwart. Ansonsten lassen sich draußen auf dem Schulhof oder dem Sportplatz wesentlich reizvollere Gelegenheiten zum Weitwerfen arrangieren.

Fußnoten:

[1] Damit möchte ich nicht behaupten, daß dem Lehrer bewußt sein muß, welche Strategie er hier anwendet. Vermutlich spielen eher vor- oder unterbewußte Befürchtungen, daß die Schülerinnen und Schüler sich verweigern, eine Rolle.

[2] „Kein Lehrer ist verantwortlich, die Schüler zu motivieren. Schüler sind Menschen. Und Menschen motivieren sich selbst – oder sie lassen es bleiben“ (GRELL & GRELL, 1979, S. 139; Hervorhebung i. O.).

Quelle:

Wolters, P. (1999). Bewegungskorrektur im Sportunterricht. Schorndorf: Hofmann.

Mit freundlicher Genehmigung des Hoffman Verlages.

https://www.hofmann-verlag.de/

Literaturangaben:

GRELL, J. & GRELL, M. (1979). Unterrichtsrezepte. München, Wien, Baltimore: Urban & Schwarzenberg.

VOLKAMER, M. & ZIMMER, R. (1982). Vom Mut, trotzdem Lehrer zu sein. Schorndorf: Hofmann.

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