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Falldarstellung
„Und mit n bißchen Dampf mal da ‚rein.“
Turnen in einer 7. Klasse. Ein Teil der Klasse hat einen Mattenberg aufgebaut: zwei Bänke, auf denen man anlaufen kann, dahinter ein Minitrampolin und als Landefläche eine Weichbodenmatte, die auf drei großen Kästen liegt. Bevor es losgeht, ruft die Lehrerin die Gruppe zusammen.
L: Stellt euch mal der Reihe nach auf. Sebastian! So, ihr könnt jetzt hier erstmal darauf springen, wie ihr wollt. Was ihr nich‘ dürft, is ‚ n‘ freien Salto springen, am Anfang. Nachher können wir darüber reden. Hallo, Thomas!
S1: (die Lehrerin nachahmend) Hallo, Thomas!
Thomas wendet sich der Lehrerin wieder zu.
L: Es steht euch völlig frei. Kann ja auch der erste ‚was vormachen, die andern machen ’s nach. Muß aber nich‘. Ihr könnt springen, wie ihr wollt. Ganz wichtig: es wird nicht von der Matte ‚runtergetobt. Wenn man angekommen ist oben – im Sitzen, im Stand, im Liegen oder sonstwie; dann geht man bitte vorsichtig da ‚runter. Und immer kucken, daß der andere das gesamte
Metier da verlassen hat und nich‘ mehr irgendwo da noch ‚rumliegt und man springt als nächster heia, heia drauf. Ne? Probiert das mal aus. Ich stell‘ mich am Anfang als Sicherung hier hin.
Der erste Schüler springt auf die Matte.
L: ‘n bißchen fester ‚reinspringen!… (unverständlich)
S2: Oah, is‘ das hart.
Als der vierte Schüler einen Salto springt, greift die Lehrerin ein:
L: Ich hab‘ gesagt, keinen Salto am Anfang.
S1: (maulig) Das war kein Salto!
L: Das war ohne Hände aufgestützt.
Beim zweiten Durchgang läuft ein Mädchen vorsichtig an.
L: (während des Anlaufs) Und spring‘ mal da ’rein.
Das Mädchen springt wie beim ersten Durchgang nicht besonders dynamisch ab,
landet aber sicher im Stand auf der Matte.
L: Jawoll! Und mit n bißchen Dampf mal da ‚rein.
S.: (die Lehrerin karikierend) Mit ’n büschen Dampf da ’rein!
Das nächste Mädchen springt schwungvoll in das Minitrampolin.
L: Ja, das is ’n Sprung. Gut!
Direkt danach landet ein Junge ganz vorne auf der Weichbodenmatte.
L: Du mußt n bißchen weiter vorspringen, sonst fällst du hier zwischen (zeigt auf den Spalt zwischen Minitrampolin und Matte).
Ein weiterer Junge kommt problemlos auf die Matte, springt jedoch nicht sehr weit.
L: Du mußt auch weiter vorspringen, n bißchen mehr Vortrieb mußt du schon haben.
S3: Ja, das Trampolin steht so komisch.
Der Schüler, der im ersten Durchgang einen Salto gesprungen ist, macht diesmal
einen einfachen Strecksprung und landet auf beiden Füßen.
L: Gut!
Das Mädchen mit dem vorsichtigen Absprung macht einen weiteren Versuch.
L: n bißchen weiter vor, nach vorn abspringen!
Danach das leistungsstärkere Mädchen.
L: Schön.
Interpretation
Erste Auslegung
Kann es bei der Interpretation dieses Falles überhaupt um Bewegungskorrektur gehen? Die Lehrerin sagt ja ausdrücklich am Anfang, daß die Schülerinnen und Schüler so springen können, wie sie wollen. Nur einen Salto verbietet sie zunächst, aber ansonsten können alle möglichen Sprungformen ausprobiert werden. Die Lehrerin stellt also eine offene Bewegungsaufgabe. Eigentlich erwartet man nach solcher Ankündigung keine Korrekturen. Betrachten wir uns die Äußerungen der Lehrerin genauer. Schon beim ersten Schüler, der die Aufgabe, „irgendwie“ auf die Matte zu springen, erfüllt hat, kommentiert die Lehrerin: ,,’n bißchen fester abspringen!“ Eine Äußerung, die man durchaus als Korrektur auffassen kann.
Der Schüler meinte mit seiner Bemerkung („ist das hart“) vielleicht das Trampolin, das härter gespannt ist als er erwartet hatte. Daher könnte dies ein Versuch des Schülers sein, seinen nicht so schwungvollen Absprung zu erklären. Da es der erste Durchgang ist, muß er sich auch erst einmal auf die Bedingungen einstellen. Der vierte Schüler in der Reihenfolge springt trotz des Verbots einen Salto. Hier greift die Lehrerin mit Recht sofort ein. Sie setzt ihr Verbot dann tatsächlich durch, denn im nächsten Durchgang springt derselbe Schüler „brav“ einen Strecksprung. Daß er anfangs einen Salto probiert hat, scheint mir verständlich, weil ein Mattenberg eher ein Aufrollen als andere Sprünge herausfordert. Der nächste Ausruf der Lehrerin soll wohl eine Ermutigung für das vorsichtige der beiden Mädchen sein. Einerseits verstärkt die Lehrerin mit einem „Jawoll“, andererseits fordert sie das Mädchen auf, dynamischer in das Trampolin hineinzuspringen („Mit ’n bißchen Dampf mal da ‚rein“). Dabei sind die Bewegungsversuche des Mädchens durchaus im Rahmen der Aufgabe: Sie springt – mit einem verhaltenen, aber sicheren Sprung – auf die Matte. Die Aufgabe lautete eigentlich nicht, mit einem möglichst dynamischen Absprung auf die Matte zu gelangen. Dagegen wird das zweite Mädchen der Gruppe von der Lehrerin gelobt. Anerkennend ruft sie aus: „Ja, das is ’n Sprung! Gut.“ Offensichtlich erfüllt diese Schülerin genau die Erwartungen, die die Lehrerin von einem „guten“ Sprung hat. Während sie eine offene Aufgabe stellt, hat sie eine bestimmte Vorstellung davon, wie die Aufgabe am besten erfüllt werden sollte. Dieser Widerspruch drückt sich dann darin aus, daß sie die Schülerinnen und Schüler ständig korrigiert, obwohl diese ja eigentlich springen können, wie sie wollen. Die Aufgabe ist also nur scheinbar offen. Die Lehrerin vermittelt zwei sich widersprechende Botschaften: ihr dürft springen, wie ihr wollt, aber ich möchte, daß ihr es in einer bestimmten Weise tut. Oder auf eine Formel gebracht: offene Aufgabe heimlicher Sollwert.
Von der Warte der Lehrerin aus könnte es zwei Begründungen geben, warum sie so gehandelt hat. Erstens will sie vielleicht lebhafte Teilnahme an dem sportlichen Tun der Schülerinnen und Schüler bekunden. Dafür spricht, daß sie insgesamt viermal lobende Ausrufe an die Übenden richtet. Zweitens ist sie eindeutig bestrebt, für die Sicherheit zu sorgen. Während des Übens weist die Lehrerin einen Jungen darauf hin, daß er weiter nach vorne springen müsse, damit er nicht in den Spalt zwischen Trampolin und Matte falle. Hier ist ein Sicherheitshinweis angebracht. Daß allerdings auch Sprünge verbessernd kommentiert werden, die nicht mit Gefahren verbunden sind, ist unnötig und läuft der offenen Aufgabe zuwider. Geht man im Geiste die gängigen Korrekturnormen durch, so findet man keine, die so ganz auf den Fall passen will. Selbst der Sollenssatz „Korrigiere zum richtigen Zeitpunkt“, der zunächst auf die vorliegende Situation angewendet werden könnte, trifft nicht genau das Problem; zwar könnte man sagen, es gehe darum, wann korrigiert werden solle, aber nicht im rein zeitlichen Sinne, sondern vielmehr, in welcher Situation und in Bezug auf welche vorher gestellte Aufgabe.
Erweiterte Auslegung
Das Adjektiv „offen“, das ich in der ersten Auslegung so selbstverständlich benutzt habe, sorgt in der pädagogischen Fachöffentlichkeit immer wieder für Diskussionen. Meist entzünden diese sich an dem Schlagwort „Offener Unterricht“, das für unseren Fall vielleicht ein bißchen zu hoch gegriffen erscheinen mag. Da aber wichtig ist, was an diesem vorliegenden Unterricht eigentlich offen ist und was im Laufe des Geschehens aus dieser Offenheit wird, sei ein Blick auf die Literatur gestattet.
Wie fast immer, wenn man sich schnell einen Überblick über einen Sachverhalt verschaffen will, wird man auch in Bezug auf den Begriff „offen“ enttäuscht, weil er sich kaum bestimmen läßt (vgl. FRANKFURTER ARBEITSGRUPPE, 1982, S. 9; FUNKE, 1991, S. 12). Allerdings unterscheidet RAMSEGER (1977, S. 22) drei Dimensionen, in denen Unterricht geöffnet werden könne. Dies sind die inhaltliche bzw. thematische, die methodische und die institutionelle Ebene. Umgekehrt geht die FRANKFURTER ARBEITSGRUPPE vor, die im Sportunterricht herkömmlicher Prägung auf diesen genannten Ebenen Geschlossenheiten feststellt. So seien die Inhalte eindeutig definiert, würden in systematischen Lehrgängen vermittelt und zeugten von einem eingeschränkten und feststehenden Körper- und Bewegungsverständnis. Methodisch sind die Schülerinnen und Schüler an die „Aufgabenkette“ der Lehrenden gelegt, die Lehren als reine Instruktionstätigkeit nach bewährtem methodischen Vorgehensmuster vollzögen. Und schließlich sei der Sportunterricht institutionell geschlossen, weil er durch die allgemeine Auffassung dessen, was Schule und Sportunterricht ist, ebenso festgeschrieben sei wie durch die Art der räumlichen und zeitlichen Organisation, die Lehrpläne und die Ausstattung (1982, S. 10/11). Die Lehrerin der Minitrampolin-Szene hat mit ziemlicher Sicherheit nicht an das große Schlagwort „Offener Unterricht“ gedacht, aber dennoch hat sie ihren Unterricht in einer Hinsicht geöffnet; sie stellt frei, mit welchem Sprung die Schülerinnen und Schüler vom Minitrampolin auf den Mattenberg gelangen. Zugegeben ist dies eine bescheidene inhaltliche Offenheit, denn das Trampolin und der Mattenberg lassen so viele verschiedene Bewegungsmöglichkeiten wieder nicht zu. Zumindest gibt es aber gewisse Freiheiten, die die Schülerinnen und Schüler mit ihrem konkreten Handeln ausfüllen können. Nun macht die Lehrerin – quasi durch die Hintertür – die angebotene Öffnung wieder rückgängig, indem sie bestimmte Bewegungslösungen lobt, andere dagegen korrigiert. Anscheinend ist die Lehrerin unseres Falles keine Ausnahme, denn RAMSEGER kommt nach der Erprobung von offenen Unterrichtskonzepten zu dem Schluß, daß institutionelle Zwänge, Bräuche oder auch Unklarheiten auf der Beziehungsebene aus einem offenen Unterrichtsarrangement schnell ein geschlossenes werden lassen (1977, S. 251), daß mithin offener Unterricht eine höchst empfindliche Konstruktion ist, die bei Widrigkeiten leicht in sich Zusammenfalle (ebd., S. 253).
RAMSEGER weist deshalb darauf hin, daß reale Grenzen und Setzungen, die vom Lehrenden vorgenommen werden, deutlich gemacht werden müssen (ebd., S. 254). FUNKE (1991) hält generell die Begriffe „offen“ und „geschlossen“ für nicht hilfreich, um Unterricht zu charakterisieren. Reale Unterrichtssituationen bewegten sich „im Fluß des Schließens und Öffnens“ (ebd., S. 12), da es nicht sinnvoll sei, alle Strukturmerkmale des Unterrichts vollkommen offen oder geschlossen zu halten. Hierbei sei die Verständigung der Beteiligten über den Grad der Offenheit oder Geschlossenheit Voraussetzung für das Gelingen des Unterrichts (ebd., S. 14).
Exakt auf unseren Fall zugeschnitten scheint eine Aussage von EHNI, der sich mit den Lehrtätigkeiten des Betreuens (als einer Handlung, die eher im geöffneten Unterricht seinen Ort hat) und des Unterweisens (das eher in einem geschlossenen Konzept Anwendung findet) beschäftigt:
„Wer unterweist, muß dazu stehen, daß er ‚fremdbestimmt‘, und er muß einen geschlossenen Unterricht‘ wollen. Denn beides ist für Kinder ebenso notwendig wie Selbstbestimmung und Offenheit. Nur, wenn man einen fremdbestimmten geschlossenen Unterricht vorhat, sollte man dies den Kindern auch offen sagen, damit jeder verstehen kann, warum z.B. sein toller Hechtsprung beim (heimlichen) Lehrgang zur Floptechnik nichts wert ist“ (EHNI, 1985 a, S. 94).
Lösungsmöglichkeiten
Wenn die Lehrerin konsequent handeln wollte, hat sie zwei Möglichkeiten. Entweder sie läßt die angekündigte Offenheit bestehen, indem sie auf korrigierende Äußerungen verzichtet und tatsächlich nur, wenn es um Sicherheit geht, eingreift. Wo genau die Grenze zwischen Lob, Anfeuern und lästigen Eingriffen von Lehrerseite liegt, ist mit Rücksicht auf die Lerngruppe zu entscheiden. Oder sie sagt von vornherein, daß sie den Absprung vom Minitrampolin schulen möchte, z.B um auf den Salto vorzubereiten. Dann müßte sie vorher den Sollwert offenlegen, damit die Schülerinnen und Schüler wissen, wie sie springen sollen. Beide Lösungen zielen darauf ab, die Situation eindeutig zu gestalten: entweder als klar offene Erkundungsphase oder als unmißverständlich geschlossene Übungsphase.
Quelle:
Wolters, P. (1999). Bewegungskorrektur im Sportunterricht. Schorndorf: Hofmann.
Mit freundlicher Genehmigung des Hoffman Verlages.
https://www.hofmann-verlag.de/
Literaturangaben:
FRANKFURTER ARBEITSGRUPPE (1982). Offener Sportunterricht – analysieren und planen. Reinbek: Rowohlt.
FUNKE, J. (1991). Unterricht öffnen – offener unterrichten. Sportpädagogik, 15 (2), 12-18.
EHNI, H. (1985 a). Spiel und Sport mit Kindern – ein Wissensangebot. In H. EHNI, J. KRETSCHMER & K. SCHERLER, Spiel und Sport mit Kindern (S. 11 -96). Reinbek: Rowohlt.
RAMSEGER, J. (1977). Offener Unterricht in der Erprobung. München: Juventa.
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