Dieser Fallkomplex besteht aus den Fällen (inklusive diesem):

 

Falldarstellung

„So, und nu‘ kuckt euch ma‘ die Bewegung von den dreien an.“

Die Jungen einer 9. Jahrgangsstufe üben das Richtungspritschen. Der Lehrer läßt jeweils drei Jungen im Dreieck Aufstellung nehmen, wobei der erste Schüler
den Ball zum zweiten wirft, der ihn dann zum dritten pritscht. Der dritte fängt den Ball auf und wirft ihn dem ersten Spieler zu usw. Bei der Ansage zu der Übung betont der Lehrer die Körperdrehung in Abspielrichtung, bevor der Ball gepritscht wird, und die Ganzkörperbewegung. Er führt das Richtungspritschen auch zusammen mit zwei Jungen vor. Nachdem alle in Dreier- oder Vierergruppen eine Weile geübt haben, versammelt der Lehrer die Klasse auf der einen Seite des Volleyballfeldes.

L: So, äh. Andreas, du gehst mal. Ja, du auch. So, und du auch (zeigt auf zwei weitere Schüler, die sich mit dem ersten zum Dreieck aufstellen). So, und nu‘ kuckt euch ma‘ die Bewegung von den dreien an. Versucht zu unter-scheiden, was richtig ist, was ich gesagt hab’… äh, und was bei den einzelnen geändert werden muß, ja?

Die drei ausgewählten Schüler zeigen das Richtungspritschen im Dreieck. Es sind drei verschiedene Bewegungsniveaus zu beobachten: ein ballunsicherer und ungelenk wirkender Anfänger, ein Spieler mittleren Niveaus und ein sehr guter Spieler. Andreas, der Anfänger, pritscht mit einem laut klatschenden Geräusch und „führt“ den Ball. Er ist mit der Übung noch überfordert.

L: Nee, is‘ gut. So. Bei Andreas?
S1: Er müßte höher spielen, wenn er zuspielt.
L: Gut. Warum kann er nich ‚höher Zuspielen ? Warum kann er nich‘ höher Zuspielen?
SS: (murmeln durcheinander)… weil er zu flach spielt… weil er schlecht angespielt wird.
L: Was? Frank?
F: Weil er sich nich‘ rechtzeitig zu Jens dreht.
L: Ja. (wendet sich zu Andreas) Du drehst dich nich‘ rechtzeitig zu Jens. Einmal. War noch eine Sache dabei. Was war da noch?
SS: mehrere Äußerungen zu der Handhaltung und zum Ballkontakt
L: Ja. Was macht sein Körper?
S2: Bewegt sich nich
L: Bewegt sich nich‘. Das heißt also: willst du spielen, kuckst’nach ’m Ball, mußt dich reindrehn und ‚runtergehn und dann strecken zum nächsten Spieler (zeigt, Andreas zugewandt, die Bewegung ohne Ball, während er redet).

Andreas, der während des Gesprächs immer näher an die Gruppe herangerückt ist. steht mit verlegener Körperhaltung daneben, beobachtet den Lehrer und
nickt.

L: So. Der nächste. Habt ihr’s noch im Kopf? Wie war das bei ihm?
S3: (zögernd) Ja, Jens hat sich nich‘ …äh, genug bewegt, äh. Also er hat nur nach unten… (unverständlich).
L: Ja, richtig. Wie war das mit der Drehung bei ihm? Zum Drehen… mit der Drehung zum Mitspieler?
S3: Das war in Ordnung.
L: Ja, hat er gemacht. Ja, richtig. Und der letzte?
S4: Ja, war alles toll.
L: Ja, das war ok., ne. So, also: Ball kucken, hindrehen in die Spielrichtung und ‚runtergehen, ja? Und dann den Körper strecken (zeigt es, während er spricht). Das gleiche noch ma‘.

Die Schüler verteilen sich wieder zum Üben.

Interpretation

Erste Auslegung

Grundsätzlich scheint es mir durchaus sinnvoll zu sein, Schülerinnen und Schüler dazu anzuregen, das Beobachten und Korrigieren zu üben, wie es der Lehrer in dieser Situation vorhat. Sowohl für das Bewegungslernen als auch für übergreifende Ziele wie Selbständigkeit ist eine bewußte Auseinandersetzung mit der Bewegung förderlich. Um „Anschauungsmaterial“ dafür zu haben, wählt der Lehrer drei Schüler aus, die das von allen zuvor geübte Richtungspritschen noch einmal vorzeigen. Die beobachtenden Schüler wissen also, worum es geht, und können vermutlich auch Beziehungen zu ihrer eigenen Bewegungsausführung herstellen. Dies ist eine Voraussetzung dafür, daß das Beobachten und Korrigieren eine Wirkung erzielt. Der Lehrer trifft noch eine weitere Vorkehrung, damit sich alle in denjenigen wiedererkennen können, die die Übung vorzeigen. Er wählt die drei Schüler vermutlich so aus, daß ein Anfänger, ein Fortgeschrittener und ein Könner sozusagen einen Querschnitt durch die Klasse vorstellen. Auf diese Weise läßt sich besonders ein Vergleich zwischen Ist- und Sollwert veranschaulichen, der ja nötig ist, um Fehler zu identifizieren. Wenn man darauf aus ist, Bewegungen zu verbessern, scheint das Arrangement, das der Lehrer gewählt hat, angemessen und zweckgerecht.

Bedenken sollte man allerdings, wie sich das Vorzeigen auf die einzelnen Schüler auswirkt. Wie fühlt sich Andreas, der schwächste der drei Schüler, während er beobachtet und beurteilt wird? Er wird im Gespräch, das sehr stark von dem Lehrer vorgegeben wird, von den dreien bei weitem am ausführlichsten kritisiert. Der Lehrer wendet sich zweimal an ihn, um ihm eindrücklich die „richtige“ Bewegung zu erklären und zu zeigen. Über den zweiten Schüler sagt ein Mitschüler nur, er habe sich nicht genug bewegt, was vom Lehrer zwar bestätigt, aber nicht weiter vertieft wird. Dagegen wird die Körperdrehung, auf die der Lehrer so viel Wert legt, als „in Ordnung“ angesehen. Der dritte Spieler wird gar nicht korrigiert, sondern gelobt („war alles toll“), vermutlich zu recht, da er die Bewegung schon so gut beherrscht. Die Reaktion der beobachtenden Schüler zeigt aber auch, daß sie ganz selbstverständlich annehmen, daß bei dem dritten Spieler ohnehin nichts mehr zu verbessern sei.

Ich denke nicht, daß sich Andreas nur zufällig der Gruppe nähert, während er begutachtet wird. Es wirkt so, als wolle er Schutz suchen und nicht mehr isoliert dastehen. Seine verlegene Körperhaltung ist ein weiteres Indiz dafür, daß es hier eben nicht nur um die Korrektur einer Bewegung geht. Bewegungen sind immer auch Ausdruck der Person, die diese

Bewegung hervorbringt. Daher können insbesondere schwache Schüler die öffentliche Korrekturals Bloßstellung empfinden. Motivation und Selbstwertgefühl derjenigen, die korrigiert werden sollen, müssen unbedingt in die Überlegung einbezogen werden, wie eine Bewegungskorrektur arrangiert wird. Die Norm „Beachte die Nebenwirkungen der Korrektur“ wird vom Lehrer dieses Falles nicht befolgt.

Läßt man einmal den Aspekt, wie sich die Situation auf die Motivation und das Selbstbild von Andreas auswirken könnte, beiseite, so ist weiter zu fragen, ob der Lehrer die bewußte Auseinandersetzung mit der Bewegung gefördert hat. Zunächst spricht vieles dafür: Der Lehrer fordert die Schüler auf, die Bewegung der drei Vorführenden danach zu beobachten, ob sie die Bewegung richtig ausführen und was zu verbessern ist. Nach der Schülerdemonstration fragt er die beobachtende Gruppe nach ihrem Urteil, und zwar geht er mit seinen Fragen die Bewegungen der drei Schüler der Reihe nach durch. Als erstes wird Andreas begutachtet, bei dem es ja auch am meisten zu korrigieren gibt. Allerdings entpuppen sich die Fragen des Lehrers eher als Scheinfragen, die dazu dienen, den Schülern bestimmte Stichwörter – die vorher genannten Kriterien für die „richtige“ Bewegung – zu entlocken. Als nämlich die Beobachter die Tatsache, daß Andreas zu flach spielt, damit erklären, daß er ja schlecht angespielt worden sei, übergeht dies der Lehrer. Ebenso reagiert er, als mehrere Jungen die Handhaltung und den zu langen Ballkontakt als Fehler nennen. Hier liegt das Hauptproblem für Andreas, was die Schüler durchaus erkannt haben –  der Lehrer jedoch nicht, weil er auf die „magischen“ Stichwörter zum Richtungspritschen wartet. Wenn dieses Vorzeigen der Übung das Ziel hatte, den Schülern zu einem bewußten Lernprozeß zu verhelfen und ihre Beobachtungsfähigkeit zu schulen, dann hätte der Lehrer die Äußerungen der Schüler wirklich aufnehmen müssen. So hat man den Eindruck, es komme gar nicht darauf an, was die Schüler tatsächlich beobachten, sondern darauf, daß sie die Bewegungsmerkmale für das Richtungspritschen reproduzieren. Das „Lehrerecho“ verstärkt diese Tendenz.

Lösungsmöglichkeiten[1]

GRÖSSING empfiehlt, Schüler nur in Ausnahmefällen zur Demonstration von Fehlern heranzuziehen, „denn das Vormachen kann für den, der den Fehler gemacht hat und ihn auch noch den anderen vorzuführen hat, mit Verlegenheit, Lächerlichkeit und Beschämung verbunden sein“ (1988, S. 142). Eine Lösung für die Probleme, die sich beim Vorzeigen von fehlerhaften Bewegungen durch Schüler ergeben, könnte darin bestehen, daß der Lehrer Fehlerbilder Vormacht, die von den Schülern korrigiert werden sollen. Einerseits kann so sichergestellt werden, daß auch wirklich typische Fehler vorgeführt werden, und andererseits –  für mich der entscheidende Grund für diese Lösung –  vermeidet man, daß Schüler bloßgestellt und demotiviert werden.

Wenn es darum geht, die bewußte Auseinandersetzung mit der Bewegung zu fördern, könnte man auch andere Methoden als das Vorzeigen und Korrigieren mit der gesamten Gruppe wählen. Man könnte z.B. in die Übungen Möglichkeiten zur Selbstkontrolle einbauen. Die Körperdrehung vor dem Pritschen können die Schüler selbst überprüfen, indem sie Blickkontakt zu ihrem Mitspieler herstellen sollen. Eventuell kann der Mitspieler auch ein optisches Signal senden (z.B. Hand heben), das der Übende erkennen muß, bevor er den Ball spielt. Weiterhin wären Kontrastaufgaben nützlich, um den funktionalen Vorteil der Körperdrehung zu erfahren. Hier wäre denkbar, den Basketballkorb als Ziel zu nehmen, auf das einmal mit und einmal ohne Körperdrehung gepritscht werden soll. Über die Art der Aufgaben lassen sich Bewegungen oft effektiver und nachhaltiger korrigieren als über verbale Instruktionen.

Quelle:

Wolters, P. (1999). Bewegungskorrektur im Sportunterricht. Schorndorf: Hofmann.

Mit freundlicher Genehmigung des Hoffman Verlages.

https://www.hofmann-verlag.de/

Fußnote:

[1] Erweiterte Auslegung zusammen mit dem [.] Fall [Bewegungskorrektur im Sportunterricht – Hockwende„]

Literaturangabe:

GRÖSSING, S. (1988). Einführung in die Sportdidaktik (5. Aufl.). Wiesbaden: Limpert.

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