Dieser Fallkomplex besteht aus den Fällen (inklusive diesem):

 

Falldarstellung

„Aber woher soll ich wissen, daß er richtig wirft?“

Ein Lehrer unterrichtet Leichtathletik in einer 5. Klasse. Zum Schlagballweitwurf hui sich die Klasse in vier Riegen auf dem Fußballfeld aufgestellt. Die Jungen und Mädchen erhalten die Aufgabe, sich gegenseitig zu korrigieren.

L: ..Und das erste is‘ erstmal, daß jeder, der hinter dem ersten steht, kuckt, wie der wirft. Einfach mal kucken, ob das, was ich euch letztes Mal erzählt habe, ob die das noch tun. D.h. also, den Arm zu strecken gleich zum Anfang und nich‘ frontal zu werfen, sondern ein Bein nach vorn zu nehmen – wenn ihr mit rechts werft, das linke Bein. Ob derjenige, der vor euch steht, der wirft, ob der das auch einigermaßen noch so macht, wie ihr das letztes Mal probiert habt. Ja? Ihr könnt jetzt, während ich die Bälle austeile, schon mal versuchen, euch daran zu erinnern, was ihr letztes Mal gemacht habt.

Der Lehrer geht von Riege zu Riege und verteilt die Schlagbälle an die Schüleinnen und Schüler, von denen einige die Bewegung „trocken“ probieren.

L: So, jetzt wirft erstmal jeder, und die Bälle bleiben erstmal da liegen. Wir holen die erst hinterher. Also, achtet mal drauf: Jeder, der hinter dem ersten steht, achtet mal drauf, ob der Vordermann richtig geworfen hat. Die Bälle bleiben da erstmal liegen. Und dann …Ja?
S: Aber woher soll ich wissen, daß er richtig wirft? Ich kann ja auch falsch
werfen.
L: Ja, du weißt ja, du hast ja gehört, was ich letztes Mal so erzählt habe. Ob sein Arm gestreckt ist am Anfang oder ob er schon so oder ob er z.B. so wirft (zeigt die Parallelstellung der Füße) und gar nicht nach hinten ausholen kann. Das siehst du ja, ne? Und wenn er das gemacht hat, dann kannst du ihm das gleich hinterher sagen.

Nach dieser Erklärung werfen die Schülerinnen und Schüler die Schlagbälle in schneller Folge hintereinander. Die Ordnung in den Riegen löst sich allmählich auf, weil viele Kinder ihren Bällen sofort nachlaufen. Manche Bälle fliegen zu steil, andere zu flach. Einige Werfer haben den Arm schon von Beginn an angewinkelt. Die gegenseitige Korrektur findet aber nicht statt.

Interpretation

Erste Auslegung

Der Lehrende verfolgt wohl die Absicht, die Schülerinnen und Schüler zu mehr Selbständigkeit beim Lernen von Bewegungen anzuregen. Er gibt seine „Korrekturhoheit“ ab, damit die Kinder sich untereinander verbessern. Ganz eindeutig versucht er, die Norm „Mache die Lernenden von deiner Korrektur unabhängig“ zu befolgen. Da er darauf hinweist, daß er ja letztes Mal gesagt habe, wie man wirft, ist den Kindern die Bewegung nicht unbekannt. Auch aus ihrem Alltag außerhalb der Schule dürften alle mit den Worten vertraut sein. Der Lehrer hebt zwei Bewegungsmerkmale hervor, den gestreckten Arm vor Beginn des Wurfes und die Beinstellung (Iinkes Bein für Rechtshänder vorne). Allerdings gehen diese Hinweise, die als Beobachtungshilfen dienen könnten, in seiner längeren Ansage etwas unter. Zu fragen ist, warum die Schülerinnen und Schüler der Aufgabe, sich gegenseitig zu korrigieren, nicht nachkommen. Daß ein Schüler nachfragt, wie er denn die Aufgabe erfüllen solle („Aber woher soll ich wissen, daß er richtig wirft? Ich kann ja auch falsch werfen.“), zeigt eigentlich, daß es nicht am mangelnden Willen liegt. Gleichzeitig beinhaltet die Nachfrage einen Teil der Erklärung dafür, daß die gegenseitige Korrektur unterbleibt. Ich meine, daß der Lehrer bestimmte Voraussetzungen und Bedingungen nicht bedacht und geschaffen hat, die nötig sind, um Kinder der fünften Klasse in die Lage zu versetzen, sich untereinander zu korrigieren.

Die Aufgabe, daß diejenigen, die gerade nicht werfen, die Bewegungsausführung ihrer Vorderleute beobachten und beurteilen sollen, verlangt schon die Fähigkeit, Bewegungen gezielt zu beobachten, die Kinder eben nicht – wie der Lehrer mit der Äußerung „Das siehst du ja, ne?“ annimmt – von vornherein besitzen. Das Bewegungssehen ist ebenso wie die Bewegungsausführung Übungssache. Zudem verlangt eine Beurteilung und eine Rückmeldung („Und wenn er das gemacht hat, dann kannst du ihm das gleich hinterher sagen.“) Kenntnisse über die „richtige“ Bewegung und potentielle Fehler. Denn wenn die Schüler nicht wissen, worauf sie ihre Aufmerksamkeit richten sollen, haben sie auch viel geringere Chancen, zufällig einen Fehler zu entdecken. Auch wenn ein Fehler entdeckt wird, bleibt immer noch das Problem, das Beobachtete in Worte zu fassen. Wie schwer das gerade bei Bewegungen sein kann, ist sicher jedem schon aufgefallen, der versucht hat, Bewegungen zu korrigieren. Vermutlich wäre es für Kinder der fünften Klasse einfacher, sich gegenseitig Bewegungen vorzumachen als darüber zu sprechen. Die Nachfrage des Schülers weist noch auf ein weiteres Problem hin. Er glaubt nicht, seinen Mitschüler kompetent beurteilen zu können, wenn er nicht sicher ist, daß er selbst „richtig“ wirft. Soweit zu den Voraussetzungen. Vielleicht fallen aber die Bedingungen noch schwerer ins Gewicht.

Was die gegenseitige Korrektur am meisten behindert oder schließlich sogar verhindert, ist die Organisationsform. Obwohl der Lehrer mehrfach betont, daß die Bälle erst später wiedergeholt werden sollen, laufen viele Kinder ihrem Ball gleich hinterher. Anscheinend ist es für sie „natürlich“, dem Ball zu folgen. Vielleicht spielt dabei eine Rolle, daß sie ihre erzielte Weite gewissermaßen abmessen wollen: je weiter sie laufen müssen, umso besser war der Wurf. Da die Stunde draußen auf dem Fußballfeld stattfindet, rollen die Bälle sehr weit. Bis die Kinder sie wiedergeholt haben, vergeht viel Zeit. Zudem brauchen die einen länger als die anderen, um ihren Ball zu finden und zum Abwurfpunkt zurückzulaufen. So lösen sich dlo Riegen auf und niemand weiß mehr recht, wer noch wen und vor allen Dingen wann korrigieren soll. Über dem Bälle-Holen gerät die geforderte gegenseitige Korrektur einfach in Vergessenheit.

Lösungsmöglichkeiten[1]

Entsprechend der Kritik an den „Versäumnissen“ des Lehrers sind Lösungsmöglichkeiten auf zwei Ebenen zu suchen. Erstens müßten die Schülerinnen und Schüler inhaltlich auf die Korrekturtätigkeit vorbereitet worden, zweitens müßte die Organisation verändert werden. Um Fehler entdecken zu können, brauchen die Kinder Anleitung zum analytischen Bewegungssehen. Sicherlich wäre ihnen damit geholfen, daß sie nur ein bis zwei Bewegungsmerkmale beobachten und korrigieren sollen. Mit dient Beschränkung der Aufgabe könnte die Aufmerksamkeit so gelenkt worden, daß die Beobachtenden eine Bewegung nicht ganzheitlich-diffus wahrnehmen, sondern gezielt. Daß man damit nicht das ganze Fehlerspektrum abdecken kann, ist nachrangig, wenn man das Ziel der selbständigen Korrektur verfolgt. Weiterhin wäre eine Bewegungsdemonstration, die genau die festgelegten Beobachtungsschwerpunkte noch einmal betont, hilfreich, um sicherzustellen, daß sich die Schülerinnen und Schüler überhaupt an einem verbindlichen Sollwert orientieren können. Ohne das Wissen um den Sollwert ist ja ein Vergleich mit dem Istwert, d.h. der beobachteten Bewegung, nicht möglich.

Die geeignete Organisationsform ist die Dreiergruppe mit folgender Arbeitsteilung: A wirft, B beobachtet und korrigiert, C rollt den Ball zurück. Nach einer festgelegten Anzahl von Würfen oder nach einer bestimmten Zeit werden die Aufgaben gewechselt. Auf diese Weise – durch eindeutige Arbeitsteilung und Entzerrung der Aufgaben – wäre gewährleistet, daß jetzt wüßte, welche Rolle er einnimmt. Es bestünde kein Zweifel darüber, wer wen wann korrigiert. Ein weiterer Vorteil der Dreiergruppe liegt darin, halt eine günstigere Beobachtungsposition gewählt werden könnte als wann die Kinder ihren „Vordermann“ in der Riege beobachten sollen.

Fußnote:

[1] Erweiterte Auslegung zusammen mit dem [.] Fall „Bewegungskorrektur im Sportunterricht – Staffelwechsel“

Quelle:

Wolters, P. (1999). Bewegungskorrektur im Sportunterricht. Schorndorf: Hofmann.

Mit freundlicher Genehmigung des Hoffman Verlages.

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