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Falldarstellung
„Wenn ich die Hand wechsle, verliere ich den Ball!“
Basketball in einer 7. Klasse. Zu Beginn der Stunde versammelt der Lehrer die Klasse am Mittelkreis. Er fragt danach, was beim Dribbling besonders wichtig sei. Ein Schüler sagt, daß man den Ball abschirmen müsse und zeigt es gleich, indem er seinem imaginären Gegner den Rücken zudreht, während er dribbelt. Ein anderer Schüler betont, daß man niedrig dribbeln müsse. Der Lehrer kommentiert dies nicht weiter, sondern läßt mehrere Stangen in einer Reihe auf stellen, durch die die Schülerinnen und Schüler im Slalom dribbeln sollen. Der Lehrer kündigt die Übung an, ohne sie vorzumachen oder vormachen zu lassen. Mehrere Schüler und Schülerinnen dribbeln nur mit der rechten Hand durch den Parcours. Der Lehrer ruft während des laufenden Übungsbetriebes: „Achtet darauf, daß ihr auch wechseln könnt, von links in die rechte Hand!“ Man sieht jedoch keine Auswirkungen dieses Appells. Kurze Zeit später unterbricht der Lehrer das Üben und weist nochmals auf den Handwechsel hin.
L.: So, stoppt ihr mal, bitte. So, mir is‘ aufgefallen, daß einige von euch, obwohl ich sie drauf aufmerksam gemacht habe, das gar nicht ausgenutzt haben, daß man im Slalom von der linken in die rechte Hand wechseln kann. Viele haben auch den Ball verloren, weil sie zu weit weg vom Körper gedribbelt haben.
Als danach ein Schüler ohne Handwechsel den Parcours durchlaufen hat, erinnert ihn der Lehrer daran, daß er doch die Hand wechseln sollte. Darauf wendet der Schüler ein: „Das mach‘ ich aber nicht. Wenn ich die Hand wechsle, verliere ich den Ball!“
Interpretation
Erste Auslegung (und Lösungsmöglichkeiten)
So wie der Lehrer die Stunde einleitet, vermutet man, daß er es darauf anlegt, bei den Schülerinnen und Schülern Einsicht für die Bewegung des Dribblings zu erzeugen. Er fragt, was beim Dribbling wichtig sei, und erhält auch zwei zutreffende Antworten. Ein Schüler hält das Abschirmen des Balles vor dem Gegner für wichtig, ein anderer sagt, man müsse den Ball niedrig dribbeln. Beide Schüleräußerungen beschäftigen sich also damit, wie man den Ball vor dem Gegner sichern kann bzw. wie man Ballverluste beim Dribbeln vermeidet. Sie gehen damit auf die Funktion der Bewegung im Spiel ein, dagegen nicht auf isolierte Bewegungselemente wie etwa die Handhaltung. Eigentlich hätte der Lehrer gute Anknüpfungspunkte gehabt, um auf den Handwechsel zu sprechen zu kommen, denn auch der Handwechsel hat ja die Aufgabe, den Ball vor dem Gegner zu sichern. Als er später beim Slalomparcours bemerkt, daß viele Schülerinnen und Schüler nur mit ihrer bevorzugten Hand dribbeln, fordert er den Handwechsel nachdrücklich. Die Reaktion des Schülers, den er einzeln korrigiert, verrät jedoch, worin das Problem besteht: „Aber wenn ich die Hand wechsle, verliere ich den Ball!“ Für diesen Schüler ist es sicherer, immer nur mit seiner „guten“ Hand zu dribbeln. Ein Handwechsel bringt gerade keinen Vorteil, sondern zieht einen Ballverlust nach sich – zumindest solange er nur um Stangen und keine echten Gegner dribbeln muß. Er müßte, wenn er die Anweisung des Lehrers befolgte, sozusagen auf Vorrat lernen, denn die gegenwärtige Situation erfordert den Handwechsel ja gar nicht. Soll die Übung mehr sein als ein Kunststück und auf das Dribbeln im Spiel vorbereiten, dann hätte der Lehrer andere Bedingungen schaffen müssen. Erstens hätte er an den Schüleräußerungen anknüpfen können, um einsichtig zu machen, daß das Slalomdribbeln mit Handwechsel auch dazu dienen soll, den Handwechsel als ballsichernde Maßnahme zu üben. Da die beiden Schüler bereits davon sprachen, wie man den Ball vor dem Gegner schützt, hätten sie den Sinn der Übung sicherlich eingesehen. Indem der Lehrer nur wiederholt, daß die Hand gewechselt werden solle, aber nicht deutlich macht, warum er dies fordert, mißachtet er die Norm „Mache den Fehler und die Korrektur einsichtig“ [(WOLTERS, 1999)]. Zweitens müßte die Übung spielnäher gestaltet werden, damit der Handwechsel zwingend wird. Solange die Schülerinnen und Schüler den Ball ungefährdet auch mit derselben Hand links und rechts an den Stangen vorbeidribbeln können, trifft die Entgegnung des Schülers auf die Korrektur des Lehrers natürlich zu. Wenn aber statt der Fahnenstangen dort Mitschüler stünden, die versuchten, ihnen den Ball abzunehmen, dann wäre es kein Nachteil mehr, die Hand zu wechseln. Die Situation würde unmißverständlich klar machen, welche Bewegung sinnvoll ist. Der Lehrer erzeugte damit mehr Einsicht als mit verbalen Korrekturen. Eine zwingende und spielnahe Situation ist mit Sicherheit eine bessere Korrekturmöglichkeit als ein Appell des Lehrers. Daher kommt noch eine zweite Norm in Betracht, nämlich „Korrigiere nicht Symptome, sondern Ursachen“, da der Lehrer nur auf die Oberfläche der Bewegung einzuwirken versucht, ohne die Ursachen zu verändern. Daß beide Normen zusammenpassen und der Fall aus einer anderen Perspektive als der rein korrekturbezogenen gesehen werden kann, zeigt die zweite Auslegung.
Erweiterte Auslegung
Wenn man die Aussage der ersten Interpretation auf einen Begriff bringen will, so könnte man sagen, daß es dem Schüler an Erfahrung mangelt, um einzusehen, daß der Sollwert, den der Lehrer fordert, seinen Sinn hat. Erfahrung ist ein oft bemühter Ausdruck in der Pädagogik; speziell auch in der Sportpädagogik wird häufig als Ziel das „Sammeln von Bewegungserfahrungen“ angegeben. Was aber sind Erfahrungen und wie kann man sie im Unterricht ermöglichen?
Im allgemeinen Sprachgebrauch gilt Erfahrung als das, „was einem Menschen in seinem Leben ‚widerfährt’“ (KELLER & NOVAK, 1993, S. 110). Seit KANT wird unter Erfahrung präziser eine auf sinnliche Wahrnehmung bezogene Erkenntnis eines Gegenstandes verstanden (vgl. KESSLER, SCHÖPF & WILD, 1973, S. 377). Erfahrung ist demnach nicht bloßes Aufnehmen von etwas Gegebenem, das sich sozusagen „aufdrängt“, sondern bildet sich durch die Aktivität und die progressive Konstruktion des Individuums (vgl. SCHERLER, 1975, S. 94 unter Berufung auf PIAGET). DIEKMANN (1994, S. 10) spricht von einem semantischen Wandel, den der Begriff durchgemacht habe; von der „Erfahrung als Widerfahrnis, der noch anschließt an mythische Traditionen unbeeinflußbarer Kräfte, zur Erfahrung als Medium der Vermittlung von Subjekt und Objekt durch Handeln und Praxis.“ Daher sind Erfahrungen als Veränderungen aufzufassen, „die uns widerfahren, indem wir sie vollziehen“ (ebd., S. 21).
Wie kommt nun eine solche Beziehung zwischen Erkennendem und Erkanntem zustande? Zunächst einmal sind Erlebnisse und Wahrnehmungen Grundlagen für Erfahrungen, garantieren sie aber nicht von sich aus. Vielmehr muß ihnen eine bewußte Auseinandersetzung folgen, damit sie in den Horizont vorgängig erlernter Bedeutungen eingeordnet werden können b/w. eine Umstrukturierung dieser Bedeutungen erfolgen kann (vgl. SCHELLER, 1981, S. 63). Erfahrungen bauen also auf sinnlich-ganzheitlichen Erlebnissen in konkreten Situationen auf und werden dann in einem Aneignungsprozeß durch Symbolisierung (z.B. durch Sprache) verarbeitet (vgl. JANK, 1986, S. 594). Nicht unter allen Bedingungen können Erfahrungen gemacht werden, denn Sinneswahrnehmungen sind auf Gegensätze angewiesen. Gleichförmigkeit, eingeebnete Zustände und die Aufhebung polarer Gegensätze verhindern Erfahrungen, so daß scheinbar ideale, „klinisch saubere“ Umweltbedingungen Entwicklung hemmen anstatt fördern (vgl. FRITSCH & MARAUN, 1992, S. 38). Wer keine Kontraste wie „schwer-leicht“ oder „kalt-warm“ wahrnimmt, kann keine Erfahrungen machen oder Begriffe bilden. DIEKMANN (1994, S. 16) behauptet sogar, Erfahrung als Lernen sei eine Art Erwartungsenttäuschung. Positiv formuliert hieße das, daß Ungewohntes und Neues zu Erfahrungen führen kann.
Welche Rolle spielen nun Erfahrungen im Unterricht als einer intentionalen und planmäßigen Veranstaltung? Da in modernen komplexen Gesellschaften die unmittelbare lebensweltliche Erfahrung nicht mehr zur Bewältigung des Lebens ausreicht, hat die Schule – und somit auch der Sportunterricht – die Aufgabe übernommen, unzugänglich gewordene Alltagserfahrungen systematisch zu vermitteln. „Will man lebenswichtiges Lernen nicht zufälligem Zustande- bzw. Nichtzustandekommen überlassen, sind planvolle Arrangements zu finden, in denen Erfahrungen aufgegriffen, zugespielt, wiederentdeckt, in Zusammenhänge gestellt und aufgeklärt werden können“ (FRITSCH & MARAUN, 1992, S. 36). Dazu sind Methoden nötig, deren Gefahr allerdings darin besteht, sich zu verselbständigen und damit gerade die Lernenden von Erfahrungen fernzuhalten. Z.B. entpuppt sich oftmals das Sammeln von Bewegungserfahrungen bei genauer Betrachtung als eine „Ansammlung nachvollzogener Muster fremder Urheberschaft“ (ebd., S. 36). Erfahrungsorientiertes Lernen dagegen bemüht sich gezielt um das „Eigentliche“, das nicht in den Fertigkeiten selbst liegt, sondern in den Bewegungsproblemen, für die die Fertigkeiten bereits fertige Lösungen darstellen (ebd., S. 42).[1] Zu fordern wäre jedoch, daß die Absicht einer Bewegung gelehrt wird, nicht seine bloße Form (vgl. auch TAMBOER, 1979, S. 18).
Für die Gestaltung von erfahrungsorientierten Lernprozessen im Sport heißt das, daß solche Umweltbedingungen geschaffen werden müssen, die Erfahrungen begünstigen; reglementierte und standardisierte Umgebungen und Bedingungen müssen abwechslungsreichen und anregenden weichen, so daß die Lernenden einem gewissen Maß an Überraschung und Ungewißheit begegnen (vgl. SCHERLER, 1975, S. 133). Erfahrung und Methode brauchen dann keine Gegensätze zu sein, wenn die wesentlichen Lernprobleme leitend für die Bewegungssituation sind (vgl. FRITSCH & MARAUN, 1992, S. 43).
Eine gerade Reihe von Fahnenstangen im gleichen Abstand – um auf unseren Fall zurückzukommen – kann getrost als das Gegenteil einer anregenden Situation angesehen werden. Die Fahnenstangen bewegen sich nicht, sie wollen den Ball nicht erbeuten. Kurz: von ihnen geht keine Ungewißheit oder Überraschung aus. Daher braucht man vor einer Fahnenstange den Ball nicht zu schützen. Insofern ist es nur konsequent, daß der Schüler die Forderung des Lehrers nach einem Handwechsel zurückweist. Seine Erfahrung ist ja, daß er viel besser durch den Parcours kommt, wenn er gerade nicht die Hand wechselt. Einsicht ließe sich hier nur durch die gegensätzliche Erfahrung (oder mit DIEKMANN: eine Erwartungsenttäuschung) erzeugen, daß man leicht den Ball an einen Gegenspieler verliert, wenn man mit der rechten Hand dribbelnd links an ihm vorbeilaufen will. Sicherlich kann es auch einmal sinnvoll sein, vereinfachte und „klinisch saubere“ Übungsbedingungen zu schaffen. Wenn die Lernenden aber den Sinn dessen einsehen sollen, was sie lernen, dann muß die Lernsituation möglichst erfahrungsträchtig sein. Ist diese Einsicht noch nicht geschaffen, dann ahmen sie bestenfalls die äußere Form der Bewegung nach, weil methodisches Vorgehen und Erfahrung auseinandergefallen sind. Oder anders ausgedrückt: die Schulung einer Fertigkeit heißt nicht zwangsläufig, ihre Bedeutung zu erkennen. Das didaktische Verbindungsglied zwischen zu erlernendem Gegenstand und Einsicht in seine Bedeutung ist Erfahrung.
Fußnote:
[1] LANDAU (1981, S. 10) gibt ein anschauliches Beispiel dafür, wie sich systematische Lehrgänge, die mit einer bestimmten Zieltechnik abschließen, von dem ursprünglichen Bewegungsproblem abgelöst haben und damit den Lernenden nur noch die Möglichkeit einer rezeptiven Aneignung lassen. Die O’Brien-Technik im Kugelstoßen (Rückenstoßtechnik) wurde von Perry O’Brien entwickelt, der 110 kg wog, 2 m groß war und durch einen jahrelangen Trainingsprozeß seine körperlichen Voraussetzungen und seine Erfahrungen im Kugelstoßen perfektioniert hatte. Für ihn war seine Bewegungslösung optimal; aber Schülerin X, die vielleicht 50 kg wiegt, 1,65 m mißt und außer dem Schulsport keine Bewegungserfahrungen hat, wird nun mit dem Produkt O’Brien-Technik konfrontiert, ohne sich mit dem dahinterstehenden Bewegungsproblem (Wie kann ich die Kugel möglichst weit stoßen?) auseinandersetzen zu können. Ihre Bewegungsausführung kann daher nur die Form nachahmen.
Quelle:
Wolters, P. (1999). Bewegungskorrektur im Sportunterricht. Schorndorf: Hofmann.
Mit freundlicher Genehmigung des Hoffman Verlages.
https://www.hofmann-verlag.de/
Literaturangaben:
DIEKMANN, B. (1994). Der Erfahrungsbegriff in der Pädagogik. Weinheim: Deutscher Studien-Verlag.
FRITSCH, U. & MARAUN, H.-K. (1992). Über die Behinderung von Lernen durch Lehrhilfen. Sportunterricht, 41 (1), 36-43.
JANK, W. (1986). Erfahrungsbezogener Unterricht. In D. LENZEN (Hrsg.), Enzyklopädie Erziehungswissenschaft. Bd. 3 (S. 594-600). Stuttgart: Klett-Cotta.
KELLER, J.A. & NOVAK, F. (1993). Kleines Pädagogisches Wörterbuch ($. Aufl.). Freiburg, Basel, Wien: Herder.
KESSLER, A.S., SCHÖPF, A. & WILD, C. (1973). Erfahrung. In H. KRINGS, H.M. BAUMGARTNER & C. WILD (Hrsg.), Handbuch Philosophischer Grundbegriffe. Bd. 2 (S. 373-386). München: Kösel.
LANDAU, G. (1981). Kurse. Sportpädagogik, 5 (1), 8-13.
SCHELLER, I. (1981). Erfahrungsbezogener Unterricht. Königstein/Ts:: Scriptor.
SCHERLER, K. (1975). Sensomotorische Entwicklung und Erfahrung. Schorndorf: Hofmann.
TAMBOER, J. (1979). Sich-Bewegen – ein Dialog zwischen Mensch und Welt. Sportpädagogik, 3 (2), 14-19.
WOLTERS, P. (1999). Bewegungskorrektur im Sportunterricht. Schorndorf: Hofmann.
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