Dieser Fallkomplex besteht aus den Fällen (inklusive diesem):

 

Falldarstellung

„Aber im Spiel, da muß er doch … gleich so drüberweg.“

Die Schülerinnen und Schüler einer 3. Klasse machen eine Vorübung zum Pritschen. Sie stehen sich partnerweise in geringem Abstand gegenüber. Der Ball soll von Partner A über eine quer durch die Halle gespannte Zauberschnur zu Partner B geworfen werden, der den Ball dann mit einer kurzen Berührung zurückstoßen“ soll. Die Lehrerin geht während der Übungsphase herum und korrigiert einzelne Schülerinnen oder Schüler mit kurzen Hinweisen. Viele Paare sind mit der Aufgabe überfordert, denn sie unterlaufen den Ball, so daß sie den Ball sehr lange führen. Auch die Flugkurve der „gepritschten“ Bälle ist oft flach, so daß sie unter der Schnur hindurchfliegen. Nach kurzer Zeit ruft die Lehrerin die Klasse zusammen.

L: Das Zurückstoßen klappt bei vielen von euch gut. Nur is‘ unsere Schnur so hoch – so muß sie auch nachher fürs Spiel ja sein daß der Ball meistens unterdurch zurückgestoßen wird. Das ist aber nicht so schlimm.
SS: Aber im Spiel, da muß er doch …
L: Unterdurch?
SS: Nee, gleich so drüberweg.
L: Richtig, aber es fehlt euch noch die Kraft, um so weit zu stoßen über die Schnur, glaube ich. Aber du darfst es im Spiel nachher auch machen, da kannst du innerhalb deiner Mannschaft Zuspielen.

Anschließend teilt die Lehrerin die Klasse in Mannschaften ein, die Ball über die Schnur spielen.

Interpretation

Erste Auslegung

Die Lehrerin faßt nach der Übungsphase ihre Eindrücke zusammen, um den Lernenden eine Rückmeldung zu geben. Man kann allerdings geteilter Meinung sein, ob das „Zurückstoßen“ bei vielen gut geklappt habe. Sicherlich ist es angebracht, die Schülerinnen und Schüler über ihre Lernerfolge /u informieren. Die Lehrerin tut dies in Form einer Verstärkung, die sie jedoch einschränkt durch den Zusatz, „bei vielen“ habe es gut geklappt.

Daß der Ball meistens unter der Schnur hindurch gespielt wurde, ist im die Lehrerin kein Zeichen dafür, daß die Übung nicht als Pritschen, Mindern als flaches Werfen oder Schleudern ausgeführt wurde. Sie schließt aus ihrer Beobachtung vielmehr auf die mangelnde Kraft der Kinder dieses Alters. Ihre Interpretation des Bewegungsresultats ist jedoch unzutreffend. Die Ursache für die zu flache Flugkurve des Balles liegt einerseits darin, daß die meisten Übenden den Ball hinter dem Kopf treffen und ihn mit sehr langem Kontakt nach vorne schieben oder wie einen Einwurf werfen. Andererseits kann auch in einigen Fällen der mangelnde Körpereinsatz dafür verantwortlich sein. Noch bedeutsamer scheint mir aber die Bewertung dieser Bewegungsausführung durch die Lehrerin zu sein: sie sagt, daß der Ball unter der Schnur hindurchfliege, sei nicht schlimm. Wenn es hier wirklich um eine Hinführung zum Pritschen gehen soll, dann ist es gerade wichtig, daß der Ball einen hohen Bogen macht. Das Pritschen hat ja im Spiel vornehmlich die Funktion, den Ball so zum Mitspieler zu spielen, daß er die besten Möglichkeiten hat, ihn zu verwerten. Also gilt besonders für den Anfängerbereich, daß die Flugkurve hoch sein sollte, damit der Partner genug Zeit hat, mit diesem Ball etwas anzufangen. Auch in dem Fall, daß der gepritschte Ball zum Gegner gespielt werden soll, muß er, um den Regeln zu genügen und überhaupt ein Spiel zustande kommen zu lassen, über die Schnur fliegen.  Den Kindern scheint dieser Gedanke vollkommen einzuleuchten, denn sie wenden ein, daß der Ball im Spiel doch „gleich so drüberweg“ über die Schnur gebracht werden müsse. Die Lehrerin entgegnet darauf, daß ihnen die Kraft fehle und sie innerhalb der Mannschaft abgeben dürften. Sie scheint demnach vorauszusetzen, daß die Kinder, wenn sie vorne im Spielfeld stehen, die Aufgabe bewältigen können. Für viele Schülerinnen und Schüler war aber bereits der geringe Abstand, den sie bei der Übung zu überwinden hatten, zu groß. D.h. selbst wenn sie im Spiel den Ball an diejenigen abgeben, die dicht an der Schnur stehen, wäre nicht garantiert, daß der Ball die Schnur überquert. Um die Schülerinnen und Schüler zu einer erfolgreichen Teilnahme am Spiel zu befähigen, wäre hier eine Korrektur angebracht gewesen. Weil die Lehrerin die Bewegung isoliert vom Spiel beurteilt und zudem das Mißlingen auf eine falsche oder mindestens wohl nachrangige Ursache zurückführt, verpaßt sie eine Chance, das Bewegungskönnen der Kinder zu fördern. Da sie gar nicht korrigiert, obwohl es angebracht gewesen wäre, hat  sie selbstverständlich auch nicht gegen eine der verbreiteten Korrekturnormen verstoßen.

Lösungsmöglichkeiten

Das Ziel der Übung müßte, wenn sie in konsequenter Weise der Spielvorbereitung dienen soll, darin bestehen, den Ball zumindest von einer vorderen Position über die Leine in das gegnerische Feld „stoßen“ zu können. Wichtige Hinweise für die Kinder, die dies noch nicht schaffen, wären erstens, daß sie den Ball in dem Moment, in dem sie ihn berühren, vor ihrer Stirn sehen können müssen. So verhindert man, daß aus dem Pritschen Einwürfe oder kugelstoßähnliche Bewegungen werden. Es ist damit gleichzeitig gesichert, daß die Kinder unter dem Ball stehen und auf den Ball in die gewünschte Richtung einwirken können. Hier werden allerdings einige Schwierigkeiten mit der Einschätzung des Balles haben, so daß vielleicht Übungen zur Ballberechnung vorausgehen müßten. Zweitens müßte man (Ion Kindern einen Anreiz bieten, indem man besonders hohe Ziele wählt, die noch höher als die Leine sind (z.B. versuchen, den Ball an die Decke zu spielen, an einer Gitterleiter ein möglichst hohes Feld zu erreichen u.ä.). Auch Zielpritschen auf einen Basketballkorb provoziert die zweckmäßigen Bewegungsmerkmale. Da die Kinder selbst darauf gekommen sind, daß es doch wichtig sei, den Ball über die Leine befördern zu können, wären die Lernvoraussetzungen dafür ideal gewesen.

Erweiterte Auslegung

Aus der Sicht einer funktionalen Bewegungsanalyse,[2] wie sie GÖHNER (11)79 a, 1992) vertritt, lassen sich beide vorangegangenen Fälle unter einem Problem zusammenfassen. Beide Lehrende verfehlen in ihrer Vermittlung und Korrektur das Wesentliche der Bewegung, nämlich deren Ziel oder Funktion. Sportliche Bewegungen sind nach dieser Auffassung Lösungsmöglichkeiten für Aufgabenstellungen (vgl. GÖHNER, 1979 a, S. 15), (l h wichtigstes Kriterium, um eine Bewegung zu beurteilen, ist die Frage, uh das Bewegungsziel erreicht wurde. ROTH (1990, S. 9) bezeichnet sportliche Techniken dementsprechend als Antworten auf Fragen, die die Sportsituation an die Athleten stellt. Techniktraining habe dann die Aufgabe, die Kompetenzen zur „Fragenbeantwortung“ herauszubilden und zu verbessern. Betrachtet man alle Sportarten vergleichend, dann kann man solche unterscheiden, die verlaufsorientierte Bewegungsziele haben (z.B. Turnen oder Eiskunstläufen) und solche, die resultatorientiert sind (z.B. Sportspiele, Leichtathletik). Beim Turnen oder Eiskunstläufen geht es darum, eine Idealbewegung, die in allen Einzelteilen (bis zum Strecken der Fußspitzen) festgelegt ist, möglichst fehlerfrei auszuführen. Wesentliches Merkmal für verlaufsorientierte Sportarten ist also die Fehlerminimierung. Beim Basketball oder beim Volleyball kommt es dagegen auf das Resultat der Bewegung an, während die Ausführung Mittel zum Zweck ist, also in ihrem Verlauf nicht festgelegt ist (vgl. GÖHNER, 1979 a, S. 86; BREMER, 1990, S. 23). BRECHBUHL (1983, S. 164) drückt es so aus: „Technik ist die motorische Übersetzung der Spielabsicht.“

Für den Korbwurf beim Basketball ist selbstverständlich das Ziel, den Korb zu treffen, unabdingbar. Wenn also Korbwürfe verbessert werden sollen, dann kann der Ansatzpunkt dazu nur die Frage sein, warum der Korb verfehlt wurde. Der Lehrer unseres Basketball-Falles verhält sich so, als korrigiere er eine turnerische Bewegung, deren Verlauf gleichzeitig das Bewegungsziel ist. Sein Vermittlungsziel ist es, daß die Kinder möglichst hoch springen, wenn sie abwerfen. Die Schüler dagegen haben ein angemesseneres Verständnis vom Korbleger. Ihre Verbesserungsvorschläge zielen darauf ab, das Treffen des Korbes zu erleichtern. Oder, um es mit GÖHNERS Begriff zu sagen, sie konzentrieren sich auf die Trefferoptimierung, die sportartspezifische Aufgabenstellung, während der Lehrer auf Fehlerminimierung bedacht ist, die sportartfremd und damit unangemessen ist.

Zum anderen Fall: Die Spielidee des wettkampfmäßigen Volleyball besteht darin, „den Ball regelgerecht über das Netz auf den Boden der gegnerischen Spielfeldhälfte zu bringen und zu verhindern, daß er in der eigenen Spielfeldhälfte zu Boden fällt“ (vgl. Internationale Volleyball Spielregeln 1989, S. 13). Soll das Pritschen, das die Lehrerin einführen will, seinen Zweck erfüllen, dann müssen die Schülerinnen und Schüler lernen, den Ball mit dieser Technik über das Netz zu befördern. Dieses Bewegungsziel bleibt auch dann bestehen, wenn man das Spiel didaktisch abändert zu einem Spiel miteinander. Auch dann muß der Ball das Netz überqueren. Wieder – wie im Korbleger-Fall – scheint den Kindern eine funktionale Sichtweise vollkommen einzuleuchten, während die Lehrerin sich bei der Bewertung der Bewegungen nicht am Bewegungsziel orientiert.

Fußnoten:

[1] Noch mehr Bedeutung erhält das hohe Zuspiel, wenn es um ein Spiel miteinander statt gegeneinander geht, eine Orientierung, die für den Sportunterricht und für den Breitensport sicherlich oft zutrifft. Gerade für Anfänger kann ein Spiel miteinander reizvoller und lernwirksamer sein, weil weniger Unterbrechungen eintreten und mehr Ballkontakte und Spielerlebnisse möglich werden.

[2] vgl. auch WOLTERS 1999, S. 21-24

Quelle:

Wolters, P. (1999). Bewegungskorrektur im Sportunterricht. Schorndorf: Hofmann.

Mit freundlicher Genehmigung des Hoffman Verlages.

https://www.hofmann-verlag.de/

Literaturangaben:

BREMER, D. (1990). Wem nützen Fehler – dem Lehrer oder dem Schüler? Sportunterricht, 39 (1), 20-29.

BRECHBUHL, J. (1983). Die Fehlerkorrektur im Tennis. In R. BORNEMANN & B. ZEIN (Red.), Tennis-Training (S. 163-173). Ahrensburg: Czwalina.

GÖHNER, U. (1979 a). Bewegungsanalyse im Sport. Schorndorf: Hofmann.

ROTH, K. (1990). Ein neues „ABC“ für das Techniktraining im Sport. Sportwissenschaft, 20 (1), 9-26.

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