Dieser Fallkomplex besteht aus den Fällen (inklusive diesem):

 

Falldarstellung

„Ihr macht es ja immer noch nich‘ richtig. “

Nach mehreren Durchgängen im Weitsprung holt die Lehrerin die Kinder einer 5.Klasse zusammen. Sie stehen in zwei Riegen dicht vor ihr.

L: Ordentlich anlaufen und ordentlich abspringen! Das war, was ich vorhin gesagt habe. Achtet doch mal bitte auf den Absprung. Ihr springt gar nicht ab. Ihr könnt, dann könnt ihr auch ’n großen Schritt machen. Ihr müßt mal ordentlich abspringen (zeigt die Streckung und den Schwungbeineinsatz beim Absprung), (vorwurfsvoll) Wozu haben wir denn den Kasten benutzt, damit Ihr schön hoch mal abspringt.
S1: Den Kasten ham wir doch gar nich‘ benutzt.
L: Doch, da warst du nur nich‘ da.
S2: Ich nich‘, ich war auch nich da.
SS: Ich auch nich‘. Wir war’n auch nich‘ da. Ja, wir war’n auch nich‘ da.
L: (unwirsch) Ja, ok. Also: anlaufen, ordentlich abspringen. Und nich‘ vorm Heiken langsamer werden (hält dabei den Zeigefinger mahnend nach
oben).
S3: Womit soll ’n wir landen ?
L: In Schrittstellung (zeigt es), wie wir es vorhin gemacht haben.
S3: (macht die Schrittstellung nach) So, oder wie?
L: Jaa, so (zeigt es nochmals). So. Ordentlich anlaufen!

Die Schülerinnen und Schüler zögern noch, während die Lehrerin zur Weitsprunggrube geht.

L: Macht ihr, bitte?

Viele Kinder springen relativ flach in die Grube. Die meisten bemühen sich, in Schrittstellung zu landen. Manche werden, je näher sie dem Absprung kommen, desto langsamer. Dafür laufen sie aber mit voller Geschwindigkeit los. Andere lassen Ihr Schwungbein beim Absprung hängen oder „zucken“ nur kurz damit. Nach zwei Durchgängen, während derer die Lehrerin auch einzelne korrigiert
begibt sie sich erneut zu den zwei Riegen.

L: Kommt ihr noch mal bitte alle zusammen ? Wir benutzen jetzt nochmal die Kästen mit, mit längerem Anlauf. Aber: achtet bei diesem Mal jetzt wirklich drauf, daß ihr das Bein mit hochnehmt, wenn ihr abgesprungen seid (zeigt Schwungbeinbewegung). Wie gesagt, das is‘ n Schwungbein,
S4: (gleichzeitig mit L) Ok. Das harn wir doch gemacht… (unverständlich)
L: damit könnt ihr Schwung nehmen. Damit kricht ihr ne größere Weite. (…) Also: wenn ihr draufkommt auf den Kasten, ordentlich abspringen und auf das Schwungbein achten.

Die Lehrerin stellt zwei kleine Kästen als Absprunghilfen auf. Da die Kästen für die Kinder ziemlich hoch sind, bremsen einige vorher ab und springen auch eher vorsichtig statt kraftvoll ab. Andere zeigen aber dynamische Sprünge mit deutlichem Schwungbeineinsatz. Das Fliegen durch den erhöhten Absprung scheint den meisten viel Spaß zu machen. Die Lehrerin gibt einzelnen Schülerinnen und Schülern Hinweise und beendet nach zwei Durchgängen die Übung.

L: So, halt!
S4: Schon wieder?
L: Jetzt nehmen wir die Kästen mal wieder weg (zieht die Kästen beiseite und geht zu den wartenden Riegen). Hört ihr bitte mal zu. Eben haben einige das sehr schön gemacht mit dem Schwungbein. Nur leider einige noch nich aber wir müssen leider weiter-machen. Und jetzt ganz normal nochmal abspringen, ordentlich anlaufen. Das is ’n Steigerungslauf und kein abfallender Lauf. Und auf das Schwungbein achten.

Ein Mädchen meldet sich.

L: Ja?
S5: Mit ’m Schwungbein nochmal?
L: Ja, ordentlich das Schwungbein mitnehmen (zeigt es), ja?

Die Lehrerin stellt sich wieder an die Weitsprunggrube, wo sie die nächsten zwei  Durchgänge beobachtet. Danach ruft sie die Gruppe wieder zusammen.

L: Also, kommt nochmal zusammen.
S2: (unmutig) Schon wieder?
L: Ja, schon wieder. Ihr macht es ja immer noch nich‘ richtig.
SS: (durcheinander, sich verteidigend, aggressiv) Ja, können wir ja auch nich’…
(unverständlich)
L: Nein.
S6: …sonst wären Sie ja auch im Unterricht überflüssig, nä?
L: Ja, richtig. Also, achtet bitte noch mal ganz doll auf das Schwungbein. Einige drücken es … (schiebt eine Schülerin in ihre Riege zurück). Hört ihr mir bitte zu. Ihr sollt auf das Schwungbein achten. Welches Schwungbein is‘ bei dir das Schwungbein (zeigt auf einen Schüler)?
S7: Das Sprungbein…
L: Nich‘ das Sprungbein, Schwungbein.
S5: meldet sich und zeigt auf ihr Schwungbein.
L: Ja. Das? Wenn du mit rechts abspringst, is‘ das dein Schwungbein.
S6: Ist das egal, welches?
L: Was?
S6: Ist das egal, welches?
L: Nein. Wenn du mit rechts springst, dann is‘ automatisch links dein Schwungbein.
S6: Ja, weiß ich ja, mein‘ ich ja.
L: Ja, genau, links, das isses. Ja, und da achtet bitte nochmal ganz doll drauf ja? Gut.
S2: Ey, is‘ doch schon halb eins, oder?
L: Nein, is‘ noch nich‘ halb, zwanzig nach.

Die Schülerinnen und Schüler machen erneute Versuche.

Interpretation

Erste Auslegung

Die Gesamtzeit der verschrifteten Szene beträgt ca. 10 Minuten. Das Dokument ist im Vergleich zu den anderen sehr lang – zugegebenermaßen nicht sehr leserfreundlich. Ich habe mich aber entschieden, es in der vollen Länge zu belassen, weil sonst die Entwicklung innerhalb dieser Unterrichtssituation verloren ginge. Es wäre zwar möglich, einige wörtliche Äußerungen nur sinngmäß wiederzugeben, aber für mein Empfinden würde das die Wirkung des Textes doch abschwächen. Soweit zur Form und Länge des Textes. Wenden wir uns dem Inhalt zu. Was geschieht und wie ist es bewerten?

Ohne Zweifel ist die dargestellte Situation ein Fall von Bewegungskorrektur Kinder der 5. Klasse üben das Weitspringen, wobei eine Lehrerin insgesamt viermal vor die Gruppe tritt und die richtige Bewegung anmahnt. Zugleich macht sie klar, daß sie mit den gezeigten Bewegungen der Schülerinnen und Schüler nicht zufrieden ist. Diese an die ganze Gruppe gerichteteten Korrekturen laufen jedesmal nach demselben Muster ab. Die Lehrerin ruft die Kinder zusammen, und zwar dort, wo sie ihren Anlauf beginnen, und fordert nachdrücklich einen „ordentlichen“ Absprung mit Schwungbeineinsatz. Da die Korrekturen auch jeweils das Üben unterbrechen, gliedern sie den Text in vier Abschnitte.

Die Lehrerin fordert die Schülerinnen und Schüler auf, „ordentlich“ anzulaufen und abzuspringen. Als Kennzeichen für einen ordentlichen Absprung sieht sie den Schwungbeineinsatz an.[1] Sie wirft den Kindern vor, daß nie nicht „richtig“ abspringen, obwohl sie doch eine Übung mit einem Kasten gemacht hätten. Die Schülerinnen und Schüler verteidigen sich – das hätten sie doch gar nicht gemacht, sie seien nicht dagewesen. So führt schon die erste Korrektur zu einer abwehrenden Haltung der Schülerinnen und Schüler, die für das weitere Üben ganz und gar nicht förderlich ist. Die schon spannungsgeladene Situation hält die Lehrerin jedoch nicht davon ab, auch noch den Anlauf zu korrigieren, womit sie gegen das Prinzip „Korrigiere den Hauptfehler zuerst“ verstößt. Vermutlich wäre die umgekehrte Reihenfolge, zuerst die Anlaufgeschwindigkeit zu verbessern und sich dann um die Flugphase zu kümmern, sinnvoller.

Die nun folgenden Sprünge der Übenden geben ihr in der Sache recht: Die Sprünge der meisten Schülerinnen und Schüler sind in der Tat sehr flach, weil sie vor dem Absprung immer mehr Geschwindigkeit verlieren, obwohl sie mit vollem Tempo loslaufen. Bei einigen bleibt das Schwungbein eher passiv, als daß es als Schwungelement eingesetzt wird. (Vielleicht trägt die geforderte Landung in Schrittstellung dazu bei, daß die Kinder dem Absprung nicht so viel Aufmerksamkeit schenken.) Die Kritik der Lehrerin ist sachlich also richtig. Dennoch muß man sich fragen, was sich Schülerinnen und Schüler der 5. Klasse unter einem „ordentlichen“ Anlauf und Absprung vorstellen sollen und können. Wissen sie, worauf es ankommt? Und noch viel wichtiger: wissen sie, wie sie die Bewegung so verwirklichen können, daß die Sportlehrerin zufrieden ist? Ich bin ziemlich sicher, daß die meisten Kinder meinen, daß sie doch „ordentlich“ anlaufen, denn sie strengen sich ja am Beginn des Anlaufs deutlich sichtbar an. Die Korrektur der Lehrerin muß für sie daher wie ein ungerechter Vorwurf klingen. Eine weitere Norm wird nicht erfüllt, nämlich die, den Fehler und die Korrektur einsichtig zu machen.

Die zweite Korrektur versucht die Lehrerin mit einer Gerätehilfe zu unterstützen, wieder möchte sie, daß die Kinder ihr Schwungbein ersetzen und ordentlich abspringen. Die Bemerkung eines Schülers, daß sie das doch gerade gemacht hätten, zeigt, daß zumindest ein Teil der Lernenden der Meinung ist, sie würden es doch so machen, wie die Lehrerin verlangt. Obwohl Absprunghilfen dazu dienen können, die Flugphase zu verlängern und damit die Ausführung von Teilbewegungen zu erleichtern, haben sie auch einen Nachteil. Sie beeinflussen nämlich das Abspringen. In unserem Fall sind die kleinen Kästen viel zu hoch für die Schülerinnen und Schüler, als daß sie flüssig zum Absprung kämen. Dadurch verstärkt sich die Tendenz, vor dem Absprung langsamer zu werden – gerade dies hat die Lehrerin jedoch in ihrer ersten Korrektur bemängelt. Sieht man von den „reinen“ Bewegungsproblemen ab, so scheinen die Schülerinnen und Schüler die verlängerte Flugphase zu genießen, was ja durchaus auch Ziel einer solchen Übung sein könnte.

Leider – aus der Sicht der Kinder – unterbricht die Lehrerin den Übungsbetrieb erneut, entfernt die Kästen und korrigiert schon wieder. „Schon wieder?“ ist denn auch die Frage eines Schülers, als die Lehrerin die Gruppe zum dritten Mal versammelt. Dieses Mal gesteht sie zu, einige hätten die Bewegung sehr schön gemacht, andere aber leider noch nicht. Die nächste Aufgabe besteht in einem „normalen“ Weitsprung, jedoch unterläßt es die Lehrerin nicht, an das Schwungbein und die Temposteigerung zum Absprung hin zu erinnern.

Nach nur zwei Durchgängen ruft die Lehrerin die Gruppe zum vierten Mal zusammen. Die Schülerinnen und Schüler sind nun wirklich ungehalten. Ein Schüler stößt ein unmutiges „Schon wieder?“ aus, was die Lehrerin zu einer ebensolchen Reaktion veranlaßt. „Ihr macht es ja immer noch nich‘ richtig!“, ist eine sehr bezeichnende Äußerung: Die Lehrerin sieht keine Kinder, die sich (auch) anstrengen, verbessern oder Spaß an einer Bewegung haben, sondern nur Beweger, die sich – trotz ihrer Korrekturen – immer noch nicht „richtig“ bewegen. Eine Schülerin pariert den verbalen Angriff der Lehrerin sehr scharfsinnig: sonst wären Sie ja auch im Unterricht überflüssig, nä?“ In der Tat hat man den Eindruck, daß das Korrigieren hier die Existenzberechtigung der Lehrerin darstellt. Sie klammert sich daran, obwohl es dem Unterricht schadet. Bei dem folgenden „Gespräch“ über das Schwungbein gewinnt man den Eindruck, daß es den Lernenden gar nicht so klar ist, was das Schwungbein eigentlich ist. Und das, nachdem die Lehrerin dieses Bewegungselement hartnäckig korrigiert hat! Ich meine, daß die wenig anschauliche Art, wie die Lehrerin die Bewegung vermittelt, dafür verantwortlich ist. Kindern dieses Alters müßte der Begriff „Schwungbein“ anders präsentiert und begreiflich gemacht werden. Die abstrakte Bezeichnung stellt für sie vermutlich keine Hilfe für ihre Bewegungsausführung dar. Als es danach noch einmal zum Üben gehen soll, entgegnet ein Junge, daß es doch schon halb eins sei, also wohl Stundenschluß. Er hofft offensichtlich, daß die Sportstunde vorbei sein möge. Nun könnte dies auch in anderen Situationen Vorkommen, aber hier scheint es mir doch Ausdruck davon zu sein, daß ihm die Lust am Weitspringen vergangen ist. Noch zwei weitere Normen werden also verletzt: einmal wird die Korrektur deutlich überdosiert [(WOLTERS 1999)] und zweitens sind die Schülerinnen und Schüler durch das ständige Korrigieren gereizt bzw. demotiviert. Die Nebenwirkungen [(WOLTERS 1999)] der Korrektur sind bedeutender geworden als die beabsichtigte Wirkung.

Das ständige Anmahnen der „richtigen“ Bewegung durch die Lehrerin wirkt auf die Schülerinnen und Schüler wie ein Herummäkeln, das sie auch als Personen trifft. Die Lehrerin wiederum scheint überhaupt nicht zu verstehen, warum niemand – trotz ihrer Lernhilfe und ihrer Korrekturen – den Weitsprung „ordentlich“ ausführt. Sie interpretiert das Bewegungsverhalten der Gruppe offensichtlich als eine Art Begriffsstutzigkeit oder gar Verweigerung. Die Korrekturen enthalten den Vorwurf der Unfähigkeit. Dabei kommt ihr nicht in den Sinn, daß sie gerade durch ihre weder einfühlsamen noch ermutigenden Korrekturen eine abwehrende Haltung bei den Lernenden hervorruft. Besonders ihr Satz: „Ihr macht es ja immer noch nich‘ richtig!“ ist abwertend und ruft Aggressionen hervor; das Lernklima verschlechtert sich von Korrektur zu Korrektur. Auch aus der Außenperspektive wünscht man sich das Ende der Szene herbei.

Erweiterte Auslegung

Wie ist der Fall aus einer übergeordneten Sicht zu beurteilen? Welcher der Normenverstöße – die erste Auslegung hat mindestens vier herausgearbeitet –  wiegt am schwersten? Wenn man sich auf den Standpunkt der Kommunikationsforschung stellt, wie er von WATZLAWICK und anderen vertreten wird, dann müßte man in Bezug auf den dargestellten Fall nicht fragen, warum die Lehrerin so und nicht anders korrigiert, sondern was geschieht. Obwohl gemeinhin angenommen wird, daß die Erklärung eines Sachverhalts Vorbedingung für dessen Veränderung sei (vgl. WATZLAWICK, WEAKLAND & FISCH, 1988, S. 105), können Lösungen von Problemen auch gefunden werden, wenn man darauf verzichtet.

„Es ist durchaus möglich, eine hier und jetzt bestehende Sachlage zu erfassen, ohne unter Umständen jemals zu verstehen, wie sie sich herausbildete, und wir können trotz des Nichtverstehens ihres Ur-sprungs und ihrer Entwicklung dennoch etwas mit ihr (oder für sie) tun. In diesem Fall fragen wir nicht warum?, sondern was? – was geht jetzt und hier vor sich?“ (ebd., S. 106, Hervorhebungen i. O.).

Paradoxerweise ist die Forschungsgruppe um WATZLAWICK aufgrund dieses Umdenkens auf Eigenschaften menschlicher Kommunikation gestoßen, die es ermöglichen, Interaktionssituationen zu analysieren und zu verstehen. So haben sie pragmatische Axiome formuliert, deren Geltung zwar nicht bewiesen, deren Aussagen aber nützlich – eben pragmatisch – sind.

Kommunikation enthält immer einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt, will sagen, eine Mitteilung besteht nicht nur aus Information, sondern enthält auch gleichzeitig eine persönliche Stellungnahme zu dem anderen. Während der Inhaltsaspekt „Daten“ übermittelt, sagt der Beziehungsaspekt aus, wie die Daten aufzufassen sind (vgl. WATZLAWICK, BEAVIN & JACKSON, 1990, S. 53-55). Zudem betrachten die Interaktionspartner ihre Kommunikation nicht als ununterbrochenen Fluß von Mitteilungen; sie unterlegen ihr vielmehr eine Struktur, eine Interpunktion von Ereignisfolgen, die die Art der Beziehung bedingt (ebd., S. 57-61). Obwohl es oft unmöglich ist zu entscheiden, ob eine Handlung a Ursache oder Folge von Handlung b der anderen Seite ist, neigen die Beteiligten dazu, die Interaktion linear aufzufassen anstatt kreisförmig. Daher unterstellen sie, daß es einen Anfangspunkt geben müsse, eine Ursache, zu der ihre eigene Reaktion nur eine Wirkung darstelle. Wenn beide Partner der Meinung sind, der andere sei der Verursacher, dann droht die Lage zu eskalieren. Als Beispiel können Rüstungswettläufe angeführt werden, bei der beide Seiten beteuern, ja nur notgedrungen auf die Gegenseite zu reagieren. Die Strukturierung von Kommunikationsabläufen kann also zu Konflikten führen, wenn die Beteiligten gegensätzliche Interpunktionen derselben Ereignisfolge haben (vgl. WATZLAWICK, WEAKLAND & FISCH 1988, 36).

Da jegliche Kommunikation auch einschränkende Wirkung auf die folgende Kommunikation hat, d.h. die Zahl der nächstmöglichen Reaktionen verringert (ähnlich wie ein Spielzug die Auswahl der nächsten Züge verkleinert), kann sich unter Umständen etwas herausbilden, das WATZLAWICK ot al. als „Spiel ohne Ende“ bezeichnen. Partner A und Partner B sind in einem System gefangen, das die Voraussetzungen für die Veränderung seiner selbst nicht aus sich hervorbringen kann (vgl. WATZLAWICK, WEAKLAND & FISCH, 1988, S. 41). In einem Spiel ohne Ende kann zum Beispiel eine Lösung, die sich innerhalb der Spielregeln bewegt, zum Problem werden, besonders wenn ihr Anwender nach dem „Mehr-desselben-Rezept“ vorfährt. Trotz des Mißlingens wird die Lösung sogar noch verstärkt, weil die Beteiligten erstens nur innerhalb des Systems nach Lösungen suchen und zweitens den Mißerfolg darauf zurückführen, daß nicht etwa die Maßnahme das Problem ist, sondern mit „mehr desselben“ doch noch ein Erfolg erzielt werden kann (ebd., S. 51/52). Die Lösung eines solchen unendlichen Spiels ist nur durch Veränderungen zweiter Ordnung möglich, die außerhalb des Systems liegen; erreicht werden sie durch Metakommunikation, also Kommunikation über Kommunikation (ebd., S. 41/42). Die Beteiligten müßten dafür allerdings ihr vertrautes System verlassen.

Nach der Terminologie von WATZLAWICK et al. sind die Handelnden unseres Falles in einem Spiel ohne Ende verstrickt, das zwar durch die äußeren Vorgaben der Schule, dem Ende der Stunde, unterbrochen wird, aber nicht von den Beteiligten selbst eine Lösung findet. Das ursprüngliche Problem bestand darin, daß die Lehrerin die Bewegungen der Kinder verbessern wollte. Ihre Lösung, die verbale Bewegungskorrektur, wird allerdings im Laufe der Situation immer mehr zu einem Problem. Da sie zusätzlich nach dem Prinzip vorgeht, diese „falsche“ Lösung zu verstärken, je weniger Erfolg sie hat, spitzt sich die Situation immer mehr zu. Während die Lehrerin die Abfolge so auffaßt, daß die Kinder „fehlerhaft“ weitspringen und sie daraufhin Korrekturmaßnahmen ergreift, scheinen die Schülerinnen und Schüler immer mehr zu der Überzeugung zu kommen, daß erst die Korrektur der Lehrerin ihr Springen behindert. Man könnte sogar sagen, daß die Lehrerin der Meinung ist, die Kinder sprängen trotz ihrer Korrekturen nicht „richtig“ weit, während die Kinder glauben, sie könnten gerade wegen dieser Korrekturen nicht weitspringen. Beide Interpunktionen des Ereignisses prallen aufeinander und erzeugen einen Konflikt. Dem Spiel ohne Ende liegt nun außerdem die Verquickung von Inhalts- und Beziehungsaspekt zugrunde. Auf der einen Seite teilt die Lehrerin den Lernenden mit, daß ihre Bewegung nicht so ist, wie sie sein sollte, gleichzeitig enthält ihre Mitteilung die Botschaft, in welcher Beziehung sie zu ihnen steht. In unserem Fall definiert die Lehrerin mit ihren Korrekturen (z.B. „Ihr springt gar nicht ab“, „Ihr müßt mal ordentlich abspringen“, „Ihr macht es ja immer noch nich‘ richtig“) das Verhältnis zu den Lernenden als fordernd und wenig wohlwollend. So ist es nicht erstaunlich, daß die Korrekturversuche zu Spannungen und Ablehnung führen; noch einmal: die als Lösung gedachte Maßnahme wird zum Unterrichtsproblem.

Eine Schülerin zeigt, als die Situation zu eskalieren droht, einen Ansatz zur Metakommunikation. Sie analysiert die Rolle der Lehrerin äußerst klarsichtig: „…sonst wären Sie im Unterricht ja auch überflüssig, nä?“ Hier hätte sich eine Möglichkeit geboten, aus dem Spiel ohne Ende auszusteigen, was die Lehrerin nicht tut. Sie setzt das Spiel mit altbekannten Mitteln fort, indem sie fordert, die Schülerinnen und Schüler sollten „ganz doll“ auf ihr Schwungbein achten. Wo flexibles Handeln nötig gewesen wäre bzw. eine Lösung zweiter Ordnung, setzt die Lehrerin auf Wiederholung und Hartnäckigkeit.

Lösungsmöglichkeiten

Wichtigste Voraussetzung zur Aufhebung des fruchtlosen Spiels ohne Ende bestünde darin, daß die Lehrerin die Situation umdeutet. „Eine Umdeutung besteht (…) darin, den begrifflichen und gefühlsmäßigen Rahmen, in dem eine Sachlage erlebt und beurteilt wird, durch einen anderen zu ersetzen, der den ‚Tatsachen‘ der Situation ebenso gut oder sogar besser gerecht wird und dadurch ihre Gesamtbedeutung ändert“ (WATZLAWICK, WEAKLAND & FISCH, 1988, S. 118). Anstatt z.B. davon auszugehen, daß die Kinder sich zu wenig Mühe geben oder zu unbegabt sind oder absichtlich etwas nicht tun,74 was sie sollten, wäre die Einschätzung, daß die Kinder nicht ausführen können, was sie sollen, hilfreicher. Der Kreislauf verbale Korrektur – „unzureichende“ Bewegung – verbale Korrektur usw. hätte dann durchbrochen werden können. Die Lehrerin wäre auf die Idee gekommen, daß das Problem mindestens auch an ihrer einseitigen Vermittlungsweise liegt.

Verschiedene Formen der Verbesserung außer der rein verbalen Korrektur sind denkbar. Um die Temposteigerung zum Brett zu üben, könnte man die Kinder paarweise und synchron laufen lassen; bevorzugt dann, wenn einige Lernende schon eine gute Tempogestaltung im Anlauf haben. Oder die Lehrerin läuft selbst synchron mit einem Schüler mit. Man könnte die Anlaufstrecke auch in Zonen unterteilen (z.B. mit Markierungshütchen) und den Hinweis geben, daß in jeder Zone ein höheres Tempo erreicht werden soll und in der letzten Zone vor dem Absprung die Höchstgeschwindigkeit. Zusätzlich wären Metaphern vom Autofahren ein Anknüpfungspunkt, etwa indem man die Beschleunigung vom ersten Gang in den /weiten Gang usw. jeweils für die Zonen fordert. Um eine deutlichere Ausprägung der Teilbewegung „Schwungbein“ zu erzielen, müßte erst einmal ein ganz alltägliches Mittel zum Einsatz kommen, das die Lehrerin erstaunlicherweise nicht verwendet: das Vorzeigen. Sei es nun die Lehrerin selbst, ein Schüler, eine Schülerin oder irgendein Lehrmedium –  den Lernenden sollte anschaulich gemacht werden, worum es geht. Als Hilfen für die Ausführung wären Aufgaben geeignet wie Über-etwas-Springen und Auf-etwas-Hinaufspringen. Manchmal bewirkt die Anweisung: „Stellt Euch vor, daß das Schwungbeinknie Euch nach vorn zieht“ eine deutliche Verbesserung, weil das Schwungbein in der Vorstellung dann eine aktive Rolle erhält. Außerdem bietet sich eine Partneraufgabe an, da nur ein relativ gut zu erkennendes Bewegungsmerkmal zu beachten ist. A beobachtet, wie hoch B sein Schwungbein bringt und zeigt es ihm direkt nach dem Sprung an. Alle diese Lösungen sind mit wenig Aufwand verbunden und nicht so außergewöhnlich, als daß sie im Schulalltag nicht praktikabel wären – man muß dazu jedoch aus dem gewohnten Muster der verbalen Korrektur aussteigen.

Fußnoten:

[1] Ob die Schulung des Schwungbeins Kindern der fünften Klasse tatsächlich hilft, weiter zu springen, soll hier außer acht gelassen werden. Man könnte die vorliegende Szene grundsätzlicher diskutieren und ganz andere Möglichkeiten zum Weitspringen entwerfen. Mir geht es jedoch vorrangig um das „Wie?“ des Korrigierens.

[2] Wir können natürlich nicht wissen, wovon die Lehrerin tatsächlich ausgegangen ist, aber aus ihrem Verhalten läßt sich in etwa erschließen, welche Einstellung sie gehabt haben könnte.

Quelle:

Wolters, P. (1999). Bewegungskorrektur im Sportunterricht. Schorndorf: Hofmann.

Mit freundlicher Genehmigung des Hoffman Verlages.

https://www.hofmann-verlag.de/

Literaturangaben:

WATZLAWICK, P., BEAVIN, J.H. & JACKSON, D.D. (1990). Menschliche Kommunikation (8. Aufl.). Bern, Stuttgart, Toronto: Huber.

WATZLAWICK, P., WEAKLAND, J.H. & FISCH, R. (1988). Lösungen (4. Aufl.). Bern, Stuttgart, Toronto: Huber.

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