Einführende Bemerkungen

In unserer Fallstudie haben wir acht Fokuskinder einer 5. Klasse aus dem Agglomerationsraum Bern im Rahmen des Natur-Mensch-Mitwelt-Unterrichts untersucht. Unterrichtsthema war „Geografie des Nahraums“, die zu fördernden Kompetenzen waren „Beobachten und Beschreiben“. Im Vorfeld der Studie wurden die Kinder aufgefordert, den Blick aus ihrem Fenster zuhause zu zeichnen und zu beschreiben. Anhand dieser Dokumente wurden die Fokuskinder ausgewählt. Kriterium für die Auswahl war eine möglichst große Bandbreite an unterschiedlichen Wahrnehmungs-und Darstellungsstrategien. In der Hauptuntersuchung wurden die Kinder mit dem Auftrag losgeschickt, bestimmte Stationen ihres Wohnorts einerseits fotografisch, andererseits sprachlich zu erkunden. Zum Schluss musste das gesammelte Material zu einem Poster verarbeitet und in einem Text mit dem Titel „Typisch Zollikofen“ zusammengefasst werden. Im Anschluss daran wurden mit den einzelnen Kindern fokussierte Leitfadeninterviews durchgeführt; zusätzlich wurde ein Fragebogen eingesetzt, anhand dessen die Wohnsituation, der Aktionsradius und das Selbstkonzept ermittelt wurden. Daraus ergaben sich schließlich folgende Datensätze: Fragebogen, Zeichnungen und Texte aus der Vorstudie, Fotografien, Texte, Plakate, Unterrichtsvideografie sowie videografierte Leitfadeninterviews aus der Hauptstudie. Die Datentriangulation findet ihre Entsprechung im Einsatz unterschiedlicher Auswertungsmethoden, die aus Platzgründen hier nicht ausgeführt werden können. Generell jedoch ist festzuhalten, dass wir in unserem Projekt einer abduktiven Methodologie folgen, bei welcher die Art des Schlussfolgerns und der Kategorienbildung gewissermaßen in einem Zangengriff zwischen theoretischem Vorwissen und Analyse des empirischen Datenmaterials besteht (Kelle, Kluge 2010). Die Kategorien, die dabei gebildet werden konnten und die sich auf die Erfassung des Lernprozesses beziehen, sind: Stützstrategien (z. B. Material organisieren, sich Informationen beschaffen, zusammenarbeiten und austauschen), kognitive Strategien (z. B. begrifflich benennen, verknüpfen und Zusammenhänge herstellen, abstrahieren) und metakognitive Strategien (z. B. reflektieren, beurteilen, korrigieren). An zwei Beispielen aus der Vorstudie soll nun gezeigt wer-den, wie sich unterschiedliche kognitive Verarbeitungsmuster in den beiden Repräsentationsmodi ausprägen, wie sie miteinander verglichen werden können und welche Schlussfolgerungen hinsichtlich der Beantwortung der Forschungsfrage sich daraus ziehen lassen. Da die Projektarbeiten noch nicht abgeschlossen sind und die Datenauswertung somit noch im Gang ist, handelt es sich dabei um Teilresultate mit vorläufigem Charakter.

Falldarstellungen mit interpretierenden Abschnitten

Exemplarischer Einblick ins Material und erste Ergebnisse

Im Folgenden werden also je zwei Beispiele aus der Vorstudie „Blick aus dem Fenster“ vorgestellt. Jedes Beispiel umfasst je eine Zeichnung und einen Text, hergestellt von derselben Schülerin resp. demselben Schüler.

 

Abbildung 1:   Lenas Zeichnung

 

Abbildung 2: Lenas Text

Betrachten wir zuerst Lenas Zeichnung: Es handelt sich dabei um eine sehr generische Darstellung von Laubbäumen, Tannen und Häusern. Die Zeichnerin ist sparsam im Einfügen individueller Merkmale: ein rundes Dach-fenster, ein Astloch. Verwendet werden nur vier Farben: zwei Sorten Grün zur Unterscheidung von Laub- und Nadelbaum, Braun für das Stammwerk, Schwarz für die Häuser. Die Farben, so könnte man daraus schließen, haben die Funktion von Begriffsmerkmalen, sie kategorisieren das abgebildete Material. Bezüglich der Organisation des Raums und der Komposition fällt auf, dass die Objekte nebeneinander aufgestellt sind. Es gibt also keine Berührungen und Überlappungen, eigentlich auch weder Vorder- noch Hintergrund, und keine verbindenden Elemente wie Strassen oder Zäune –zusammengefasst könnte man sagen: Es fehlt eine Gesamtkonzeption des Raums bzw. des Wahrnehmungserlebnisses. Wechseln wir jetzt zum Text: Der Text ist syntaktisch einwandfrei, orthographisch auch beinahe. Inhaltlich scannt die Schreiberin mit dem Blick von oben nach unten die Umgebung ab und sammelt ein, was sich ihr darbietet. Das Resultat ist eine Aufzählung oder Inventarisierung, sehr generisch, ein Blick von irgendwo nach irgendwo. Das begriffliche Instrumentarium weist eher einen groben Raster auf. Auf der grafischen Ebene fällt überdies auf, dass die Schreiberin zwei Farben einsetzt: Dunkelblau für die Überschrift und Türkisblau für den Text. Eine Farbgebung, die sie in all ihren Texten standardmäßig wiederholt. Die Farbe hat also auch im Text eine kategorisierende, ordnende Funktion.

Vergleicht man Lenas Zeichnung mit ihrem Text, so zeigt die Analyse, dass Bild und Text ein analoges ästhetisch-kognitives Verarbeitungsmuster aufweisen. Charakteristisch für dieses Verarbeitungsmuster ist ein begrifflich-kategorieller Zugang (Benennen) und das Fehlen einer Gesamtkonzeption, die das Wahrnehmungserlebnis rahmen würde, wie auch von persönlichen oder narrativ-anekdotischen Zugangsweisen. Das Muster, so die Ergänzung, lässt sich in weiteren Dokumenten der Schülerin wiederentdecken.

Sehen wir uns nun das zweite Beispiel an:

 

Abbildung 3: Robertos Zeichnung

 

 Abbildung 4: Robertos Text

An Robertos Bleistiftzeichnung fällt der sorgfältige, genaue Duktus auf, ebenso die achsensymmetrische Organisation des Blattes. Wir finden in dieser Zeichnung unterschiedliche Darstellungen von Raum: einerseits Ansichten (Treppe, Tor, Büsche), andererseits Aufsichten (Strasse, Gartenbeete). Zentral und prominent setzt der Zeichner die Treppe mit dem Tor. Dieser Treppe und dem damit verbundenen Versuch, Dreidimensionalität abzubilden, gilt das ganze Engagement des Zeichners – ihm widmet er fast die ganze, ihm zur Verfügung stehende Zeit. Der Eindruck von Räumlichkeit wird dabei hauptsächlich durch die Staffelung, d. h. den Verlauf von unten nach oben, hergestellt; Überlappungen sind seltener. Roberto zeigt sowohl eine klare Gesamtansicht, hauptsächlich dank der Symmetrie, als auch eine Absicht zur detaillierten Darstellung. Ganz anders dagegen Robertos Text: Er weist eine eher schwache Orthographie und kaum erkennbare syntaktische Strukturierung auf. Zudem fällt auf, dass diverse, unterschiedlich wichtige Dinge aufgezählt werden, ohne dass daraus irgendeine Gewichtung oder Ordnung ersichtlich wäre. Details wie die Salatblätter stehen neben dem raumfüllenden Himmel, Kleines neben Großem, eher zufällig.

Vergleicht man also Robertos Text mit seiner Zeichnung, so lässt sich ein differentielles ästhetisch-kognitives Verarbeitungsmuster feststellen. Wenn sich Roberto in der Zeichnung bemüht, eine Gesamtansicht zu liefern und darin gleichzeitig Details zu platzieren – diese also zu kontextualisieren –, so vermag er dies im Text nicht. Man könnte sagen, dass der Zeichner die Besonderheit des Bildmediums genutzt hat: nämlich ein überschaubares Ganzes und ein einzelnes Binnenereignis zusammenzubringen. Dagegen bleibt der Text auf der Ebene der sukzessiv aneinander gereihten Binnenereignisse stehen. Die Schwierigkeit, im Medium Sprache eine simultane Gesamtansicht wiederzugeben, wird in diesem Text offensichtlich. Die Dokumente, so kann man folgern, differieren oder kontrastieren also in ihrem kognitiv-ästhetischen Verarbeitungsmuster. Im bildlichen Modus geht der Schüler konzeptionell vor, indem er dessen Potenzial zu nutzen weiß. Im sprachlichen Modus dagegen scheint er sich vorrangig mit dessen Schwierigkeiten herumgeschlagen zu haben und daran dann auch gescheitert zu sein. Das Muster, das sich hier herauskristallisiert hat, ist wiederum auch in anderen Dokumenten Robertos zu finden.

Vorläufige Schlussfolgerungen

An den beiden hier vorgestellten Fallminiaturen lässt sich exemplarisch zeigen, wie sich kindliche Lern- und Verarbeitungsprozesse in diversen Repräsentationsmodi unterschiedlich ausprägen können. Während der sprachliche Modus durch Sukzessivität gekennzeichnet ist und begrifflich-analytisches „Zerlegen“ von Wahrnehmung und Erfahrung begünstigt, beruht der visuelle Modus auf Simultaneität und erleichtert die Kontextualisierung von Einzelereignissen und die Konzeptualisierung von Wahrnehmungseindrücken. Dies bedeutet jedoch nicht, dass dies generalisiert werden könnte und nun davon ausgegangen werden müsste, dass jedes Kind automatisch diese Eigenschaften der beiden Repräsentationsmodi zu nutzen wüsste.
Beim momentanen Stand unserer Forschungsarbeit zeichnet sich vielmehr ab, dass die interindividuellen Unterschiede zwischen den Fokuskindern größer sind als die Unterschiede zwischen der Gruppe, die sprachlich arbeitete, und derjenigen, die fotografisch arbeitete. Dabei ist jedoch offensichtlich geworden, dass der Einbezug von visuellen Darstellungsformen sowohl im Unterricht wie auch in der Forschung das diagnostische Instrumentarium erheblich zu verfeinern und zu optimieren vermag.
Der Vergleich zwischen dem sprachlichen und dem entsprechenden visuellen Dokument – die Übersetzung vom einen ins andere – schärft den Blick für das Muster oder die Typik des Falls. Wir sprechen hier bewusst von Übersetzen, denn visuelle Dokumente wie die Schülerzeichnungen können nicht mit demselben Analysebesteck untersucht werden wie die textförmigen Dokumente. Während wir bei Schülertexten mit linguistischen Mitteln nach den ihnen zugrunde liegenden, kognitiven Verarbeitungsstrategien suchen, müssen wir im Fall von Zeichnungen oder Fotografien mit bildästhetischen und phänomenologischen Methoden vorgehen. Der Vergleich bringt – das haben die beiden Beispiele gezeigt – zwei grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten zutage, wie sich Bild und Text gegenseitig ergänzen können. Im ersten Fall hatten wir ein Verhältnis der Analogie, im zweiten Fall einen Kontrast. In beiden Fällen aber trägt das visuelle Dokument – in diesem Fall die Schülerzeichnung – wesentlich dazu bei, die Vielfalt der Lernprozesse und Lernstrategien sichtbar zu machen. Es dient als Interpretationshilfe, als „Augenöffner“, das den Lehrpersonen helfen könnte, die individuellen Lernstile und Lernfortschritte ihrer Schülerinnen und Schüler besser „lesen“ zu lernen. Insofern wird das Bild – um es mit einem Paradox auszudrücken – zur „Legende“ des Textes.

Mit freundlicher Genehmigung des Waxmann Verlages.
http://www.waxmann.com/?id=20&cHash=1&buchnr=2793

 

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