Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Die Sequenz, um die es hier geht, beinhaltet den Anfang einer Unterrichtsstunde und wurde untersucht im Hinblick auf die Frage nach der motivationsunterstützenden Funktion von Sprachmodus und Bildmodus.

In dieser Unterrichtsstunde erhielten die Schülerinnen und Schüler den Auftrag, ihr im Feld, d.h. in ihrer Wohngemeinde gesammeltes Material zu Plakaten zu verarbeiten. Die Schülerinnen und Schüler wurden dabei auf zwei Halbklassen verteilt, denen je ein Unterrichtsraum zugewiesen wurde. Das Kriterium für die Bildung der Halbklassen war der Repräsentationsmodus, in dem die Schülerinnen und Schüler ihre Feldaufgabe tags zuvor hatten lösen müssen. In den beiden Unterrichtsräumen lag das Material, das als Resultat der Beobachtungen im Feld zusammengetragen worden war, bereit; im einen die sprachlichen Aufzeichnungen, im anderen die geschossenen Fotos – geordnet nach Kind und platziert auf einem auf dem Tisch bereitgelegten Plakat.

Abbildung 1: Videografie der beiden Unterrichtssequenzen

Das Kameraskript für die Aufnahme des Unterrichtsgeschehens sah in jedem Raum eine Standkamera und eine Handkamera vor; die Standkamera wurde dabei frontal vor der Halbklasse positioniert, und zwar aus leicht erhöhter Perspektive („Kavaliersperspektive“), die Handkamera dagegen sollte flexibel dem Tun und Agieren von acht ausgewählten Kindern, den sogenannten „Fokuskindern“, folgen.

Die Analyse der beiden Eingangssequenzen stützte sich ausschließlich auf die Aufnahme durch die beiden Standkameras; es handelt sich dabei um je eine einminütige Sequenz, während der die Kinder nach der Pause den Raum betraten, ihre Plätze aufsuchten und auf den Arbeitsauftrag warteten. Der Vergleich der beiden Eingangssequenzen sollte zeigen, ob die beiden Gruppen im Übergang von der Pause in den Unterricht ein unterschiedliches Verhalten zeigten, ob dieses Aufschluss über ihre Motivation geben könnte und inwiefern eventuelle Unterschiede mit den Repräsentationsmodi in Verbindung gebracht werden könnten.

Halten wir hier kurz inne und vergegenwärtigen wir uns die Situation, die dem Drücken des Aufnahmeknopfes an der Videokamera vorausging: Deutlich wird, dass der „Urwald“ des „wirklichen“ Unterrichtsgeschehens vorgängig zu der Aufnahme, die diesen abbilden möchte, bereits zünftig bearbeitet wurde. Da wurden bereits etliche Schneisen geschlagen. Neben den gewohnten, institutionell gegebenen Strukturierungen ist es v.a. das aus dem Forschungsdesign abgeleitete Arrangement, welches strukturierend wirkt: eine Aufteilung in Halbklassen, vorgängiges Bereitstellen von Unterrichtsmaterial, Vorplatzierung der individuellen Materialien und dadurch Arbeitsplatzzuweisung an die Schülerinnen und Schüler. Auch die Vorentscheide bezüglich der Kameraregie wirken strukturierend, da damit eine bestimmte Perspektive auf das Geschehen gegeben ist: die frontale, leicht erhöhte Sicht auf das Ganze des Klassengeschehens.

Ein relativ hoher Grad an Invasivität also, könnte man meinen. Nur: Ist das vorbereitete Klassenzimmer, in dem die Materialien und Lerngegenstände sorgfältig arrangiert worden sind, nicht der Idealtypus einer didaktisch durchdachten „Lernumgebung“? Ist die Platzierung der Unterrichtsmaterialien und damit die Platzzuweisung nicht die normale Aufforderung an den Schüler/die Schülerin, seinen/ihren Platz im Ganzen der Klasse zu suchen und zu finden?

Und ist der gewählte Kamerablick – von vorne, von oben – nicht der idealtypische des frontal unterrichtenden Lehrers bzw. der frontal unterrichtenden Lehrerin?

So betrachtet ist der Schluss naheliegend, dass die Kamera nicht den fremden Blick von außen repräsentiert, nicht den normalen Unterrichtsalltag stört und verändert, sondern vielmehr diesen verdoppelt und als eine Art „institutionelles Auge“ fungiert: Die Kamera und das Setting, in dem diese zum Einsatz kommt, machen die institutionelle Struktur sichtbar, sie sind sozusagen Zeichen für diese Struktur; eine Struktur, welche sich nicht nur durch Kontrolle des „Emergenzpotentials“ (MESETH, PROSKE & RADTKE 2012), sondern v.a. auch durch permanente Beobachtung resp. permanentes Beobachtetwerden charakterisieren lässt.

Durch den Einsatz der Kamera jedoch wird das, was in dieser ersten Minute in den beiden Klassenzimmern geschieht, zunehmend anschlussfähig an einen bestimmten Diskurs; dadurch, dass die Eingangssequenz aufgezeichnet wird, wird sie aus dem zeitlichen und räumlichen Kontinuum des schulischen Alltags herausgelöst. Was bei der Dekontextualisierung herausfällt, ist das Vorher der Pause, das Verborgene der Nischen, Gänge und Toiletten, sind all die Randzeiten und Nebenbühnen, die doch eventuell die Hauptsache sind im schulischen Alltag der Kinder. Was bleibt, ist je eine Minute aufgezeichneten Unterrichtsbeginns, welcher nun wieder und wieder betrachtet, in entsprechende Software überführt und nach Belieben genau transkribiert werden kann. Die Transkription – in der Methodendiskussion um die Videografie eines der meist diskutierten Themen (vgl. z.B. MILLER 2010) – ist dabei nicht der entscheidende, sondern ein weiterer Schritt auf dem Weg der zunehmenden Diskursivierung.

Im hier beschriebenen Beispiel wurde eine „Transkriptionsform“ gewählt, welche die Wege und Ereignisse der beiden Sequenzen festhält: Dies sind zum einen die Wege der Schülerinnen und Schüler hin zu ihren Pulten; diese wurden in eine Art Visiogramm überführt, welches die Wegverläufe als Linien und Kurven zeichnet und in ihrer räumlichen Ausprägung vergleichbar macht.

Abbildung 2: Visiogramme der Wegstrecken

Zum andern sind es die Ereignisse, die auf diesen Wegen stattfinden und die sich um das bereitliegende Material auf den Pulten zentrieren: Zeigen, Lachen, Sprechen, Herbeirufen etc. Damit diese in der Häufigkeit ihres Auftretens miteinander verglichen werden konnten, wurden sie direkt aus dem Filmmaterial hinaus inhaltsanalytisch identifiziert, kodiert und schließlich ausgezählt. Klar ist, dass die Definition eines Ereignisses als Ereignis Resultat einer Kodierung, d.h. einer Überführung in einen Begriff ist. Dabei wird das fluide Geschehen vor Stundenbeginn, das zu einem wesentlichen Teil aus gleichzeitig stattfindenden Mikroaktionen, aus flüchtigen Konstellationen und semantischem Flimmern besteht, in distinkte Einheiten aufgegliedert; das Ziel sowohl von Kodierung wie auch von Transformation in grafische Schemata ist das gleiche: es geht darum, eine Situation oder ein Geschehen vergleichbar, klassifizierbar und schließlich, um mit LATOUR zu sprechen, „reisefähig“ zu machen.

  • Vergleichbar: Der Vergleich der beiden Eingangssequenzen macht deutlich, dass in der einen Gruppe, derjenigen nämlich, die im Bildmodus (Fotografie) arbeitet, die Wegstrecken „chaotischer“ sind und die Interaktion dichter ist als in der Sprachgruppe; dass bei Letzterer die Wege, die bis zum Pult zurückgelegt werden, linearer und gewissermaßen „standardisierter“ ausfallen und Ereignisse kaum stattfinden.
  • Klassifizierbar: Die beiden verglichenen Eingangssequenzen können sodann im Hinblick auf ihre Strukturiertheit klassifiziert werden. Der Übergang von der Pause in den Unterricht zeigt in der Fotogruppe ein relativ hohes Maß an Unstrukturiertheit, d.h. an regelfreiem, chaotischem Verhalten, während derjenige in der Sprachgruppe durchstrukturiert ist, und zwar nach Maßgabe der „Grammatik der Schule“. Für den Unterrichtsbeginn sieht diese vor, dass jedes Kind zügig seinen Platz aufsucht, sich hinsetzt und Bereitschaft signalisiert, einen Auftrag zu empfangen und auszuführen.
  • Reisefähig„: Schließlich wird die so typisierte Sequenz anschlussfähig an Theoriestränge, an erziehungswissenschaftliche Diskurse, wie sie beispielsweise WAGNER-WILLI (2005, 2007) im Hinblick auf die Erforschung von Übergangsritualen im Schulalltag entwickelt hat. Liminale Phasen wie diejenige des Unterrichtsbeginns zeichnen sich dadurch aus, dass „das Regelwerk des Unterrichts“ noch nicht richtig begonnen hat und das „Aufrechterhalten der Peergroup-Beziehung“ immer noch andauert (WAGNER-WILLI, 2007, S.133). Für die nach der dokumentarischen Methode arbeitende Forscherin werden darin habituelle Differenzen unter den Kindern sichtbar, welche wiederum auf ihre unterschiedlichen konjunktiven Erfahrungsräume verweisen. Anhand unseres Beispiels lässt sich dieser Ansatz weiter verfeinern und ausdifferenzieren: In der Sprachgruppe scheint das „Regelwerk des Unterrichts“ unmittelbarer und prompter von den Schülerinnen und Schülern Besitz zu ergreifen. Es sind kaum mehr Verhaltensweisen zu beobachten, welche auf ein „Aufrechterhalten der Peergroup-Beziehung“ verweisen. Vielmehr scheinen die Kinder übergangslos in die institutionell definierte Rolle des Schülers oder der Schülerin zu schlüpfen und ihre Rolle, die sie innerhalb der Peergroup spielen, vor der Schulzimmertür abgestreift zu haben. Dagegen präsentiert sich das Geschehen in der Fotogruppe weniger zielgerichtet und ungeordneter: Die Wege sind individueller und weniger überschaubar, und um die bereitliegenden Fotos herum gruppieren sich viele kleine Ereignisse, in denen die Kinder sich etwas zeigen, lachen und sich austauschen. Im Vergleich der beiden kurzen, aber sehr verschiedenartigen Eingangssequenzen wird deutlich, dass das Bild mehr als der Text als Kommunikationsanlass dient und ein bestimmtes Evokationspotenzial enthält. Im Betrachten und Zeigen der Fotos werden Peer-Erfahrungen evoziert, die die Kinder während der vorausgegangenen Feldarbeit draußen, fern des Schulhauses, fotografierend gemacht haben, und in denen ludische und emotionale Elemente eingeschlossen sind.

Die Differenzen, die sich in den beiden Unterrichtsgruppen manifestieren, können also einen Hinweis geben auf die unterschiedlichen Funktionsweisen des sprachlichen und des bildlichen Repräsentationsmodus. Sie können – wenn ergänzt um weiteres Material und kontrastiert mit anderen Auswertungsergebnissen – zu Hypothesen verdichtet werden. Eine dieser Hypothesen lautet, dass das Lernen und Lehren im Bildmodus, in unserem Fall die Fotografie, spontanes Interagieren begünstigt und an die Peer-Erfahrungen leichter anschließen kann als das Lernen im (schriftlichen) Sprachmodus.

Umgekehrt aber ist zu vermuten, dass sich das Medium Fotografie – so wie es hier eingesetzt worden ist – gegen instruktive Bemühungen und linear gesteuerte Kommunikationsprozesse eher resistent erweisen dürfte. Und damit würde sich das Kontingenzproblem des Unterrichts, d.h. seine Offenheit und die nicht absehbaren Effekte, hier um einiges verschärfen (MESETH et al. 2012).

Mit dieser letzten theoretischen Anstrengung hat sich unser Beispiel weit vom ehemaligen Schulzimmer in einem Berner Vorort wegbewegt. Ein dichter Moment ursprünglicher sozialer Praxis wurde auf ein paar wenige beobachtbare Aspekte reduziert; gleichzeitig hat dies ermöglicht, ein Konstrukt wie den Repräsentationsmodus theoretisch stärker zu strukturieren und an allgemeinere didaktische Fragen anzubinden. Aus einer Minute Unterricht ist ein diskursives Phänomen geworden, das – reisefähig in Zeit und Raum – schließlich in Artikeln wie diesem hier landen kann.

 

Literaturangaben:

Latour, Bruno (1993). Le „pédofil“ de Boa Vista – montage photo-philosophique. In Bruno Latour (Hrsg.), La clef de Berlin et autres lecons d’un amateur de sciences (S.171-225). Paris: Editions la découverte.

Meseth, Wolfgang; Proske, Matthias & Radtke, Frank-Olaf (2012). Kontrolliertes Laissez-faire. Auf dem Weg zu einer kontingenzgewärtigen Unterrichtstheorie. Zeitschrift für Pädagogik, 58(2), 223- 241.

Miller, Monika (2010). Videografie in der kunstpädagogischen Forschung – Methoden der Videointerpretation. In Constanze Kirchner, Johannes Kirschenmann & Monika Miller (Hrsg.), Kinderzeichnung und jugendkultureller Ausdruck. Forschungsstand – Forschungsperspektiven (S.501-520). München: kopaed.

Wagner-Willi, Monika (2005). Kinder-Rituale zwischen Vorder- und Hinterbühne. Der Übergang von der Pause zum Unterricht. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

Wagner-Willi, Monika (2007). Videoanalysen des Schulalltags. Die dokumentarische Interpretation schulischer Uebergangsrituale. In Ralf Bohnsack, Iris Nentwig-Gesemann & Arnd-Michael Nohl (Hrsg.), Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis (S.125-145). Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

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