Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Einleitende Bemerkungen

[…] Um aufzuzeigen, wie vielfältig der Zusammenhang zwischen der Entwicklung von Freundschaftsbeziehungen und dem Wandel der Freizeitaktivitäten sein kann, wurden Martin Wick und Melanie Pfeiffer als zwei Fälle ausgewählt, die über ein ausgefülltes Freizeitleben verfügen, aber sich hinsichtlich ihrer Einbindung in Peerbeziehungen und Erfahrungen mit Freundschaften unterscheiden. […]

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Wird der Blick zunächst auf die Zusammensetzung der Freundschaftsnetzwerke von Martin und Melanie gerichtet, dann zeigt sich aus einer Längsschnittperspektive, dass die engsten Freunde der dritten Erhebungswelle identisch mit jenen der ersten Welle sind. Die auf den ersten Blick kontinuierliche Beziehungsgeschichte der beiden Freundschaftsdyaden Martin und Dirk sowie Melanie und Anja erweist sich jedoch als höchst unterschiedlich. Die weitere Betrachtung der Netzwerkkarten zeigt für Martin eine stetige Minimierung der eingetragenen Personenzahl und insbesondere ein Fehlen an engen Positionierungen in der zweiten Welle. Passend dazu wurde Dirk nur in die Netzwerkkarte der zweiten Welle in die äußeren Ringe positioniert und nicht in den engsten Ring, wie zum Zeitpunkt der ersten und dritten Welle. Im Kontrast dazu wurde Melanies Freundin Anja durchgängig in die engsten Ringe eingetragen. Die Beziehung zwischen den Freundinnen erweist sich auch anhand der Interviews und Gruppendiskussionen als kontinuierlich stabil, wohingegen die Beziehung von Martin und Dirk nicht nur von Brüchen, sondern auch einer zwischenzeitlichen Umkehrung in eine Antipathiebeziehung gekennzeichnet ist, die Martin als Mobbingerfahrung schildert.

Martins Erzählungen zu den Veränderungen seiner Freundschaften und Peernetzwerke zeigt, dass vor allem das Verhalten der anderen Jungen für die Kontinuität bzw. Diskontinuität ausschlaggebend ist. Das Ende der Freundschaft zu Dirk wird nicht mit einem Streit begründet, sondern mit dem Entstehen einer Freundschaft zwischen Dirk und Martins Cousin, der in die gleiche Klasse geht. Dirk ist dabei derjenige, der sich von Martin wegsetzt und ihn meidet:

 

Sehr deutlich zeigt sich, dass Martins erste Freundschaftsbeziehung an der Integrierten Gesamtschule durch das Abwenden von Dirk auseinander geht. Entwicklungsunterschiede werden als Gründe für den Außenseiterstatus angegeben und zum einen auf den Altersabstand und zum anderen auf verschiedene Aktivitäten bezogen. Die Wiederaufnahme der Freundschaft wird als ein gemeinsamer Akt, als Vertragen bezeichnet, aber nicht näher ausgeführt. Im obigen Zitat wird bereits die Bedeutung gemeinsamer Aktivitäten und Interessen für die Freundschaftsbeziehung angedeutet, z.B. das Reden über Modellbau während der fünften Klasse oder Animees während der neunten Klasse. Generell bleiben in den Interviews und Gruppendiskussionen mit Martin ausführliche Erklärungen von Beziehungsbrüchen aus. Nähere Informationen zu den Freunden und ihren Eigenschaften werden ebenfalls nicht gegeben. An dieser Stelle lässt sich ein Kontrast zu Melanie vorwegnehmen. Zwar führt sie ihre Freundinnen ähnlich unspezifisch ein, aber nimmt eine wesentlich differenziertere Unterteilung ihrer Beziehungen vor, indem sie Anja als ihre beste Freundin bezeichnet sowie von langjährigen guten Freunden und einfachen Freunden spricht. Für Martin hingegen gibt es die Kumpels, Freunde und die richtigen Freunde, zu denen nun Dirk gehört. Die mit Dirk zu zweit geführte Gruppendiskussion in der dritten Welle zeigt eine ähnliche Konstruktion der Abhängigkeit Martins von den Beziehungen anderer und der fehlenden Kommunikation über die erfahrene Ausgrenzung:

Die Veränderungen der Beziehung zwischen Martin und Dirk wird in der Gruppendiskussion wie im Interview nicht ausführlicher beschrieben. Eine weitere Passung zwischen der Gruppendiskussion und dem Interview besteht in der Andeutung eines weiteren Interaktionszusammenhanges. Es handelt sich dabei um Personen aus ihrer Klasse, die jedoch in beiden Materialien selten mit Namen eingeführt oder näher charakterisiert werden. Obwohl sie sich hier nicht als eigenständige exklusive Zweiergruppe verstehen, dokumentieren sie erste Ansätze einer kollektiven Identität, die sich auf ihr gemeinsames Interesse bezieht. In der Gruppendiskussion amüsieren sie sich über die Fremdzuschreibung „Nerd“, die sie von anderen erhalten und mit welcher sie sich auch gegenseitig necken. Ein solches Wir-Gefühl, welches sich auf ein gemeinsames Interessengebiet bezieht, konnte anhand der Gruppendiskussionen der ersten und zweiten Untersuchungsphase nicht rekonstruiert werden, worin sich nicht nur die Wiederaufnahme der Beziehung, sondern auch deren Intensivierung dokumentiert. Darüber hinaus hat sich nun in der dritten Welle auf der Ebene der Diskursorganisation das Necken und Frotzeln als Modi der Scherzkommunikation gezeigt und im Vergleich zur Gruppendiskussion der ersten Erhebungsphase eine andere Qualität bekommen. Martin wird nun nicht mehr von Dirk bei quasi jeder Gelegenheit gefrotzelt, sondern hauptsächlich bezüglich seines Animeekonsums. Darüber hinaus revanchiert sich Martin mittlerweile für die Frotzelattacken. Das Vorhandensein einer nicht aggressiven Scherzkommunikation verweist auf ein Vertrauensverhältnis und erste Ansätze einer eigenen Praxis.

Wird nicht nur die Zweierfreundschaft von Martin im Längsschnitt betrachtet, sondern auch seine Beziehungen zu den weiteren Peers, dann zeigt sich ein ähnlich wechselhaftes Verhältnis. Neben Dirk bildet Martins Cousin die einzige weitere Person aus der Welt der Gleichaltrigen, die in allen drei Interviews erwähnt wird. Im Interview der ersten Welle zeigt sich zunächst eine distanzierte Haltung zu Daniel. Martin führt aus, dass er mit seinem Cousin zwar in eine Klasse geht, sich jedoch um einen eigenen Freundeskreis bemüht hat. Demgegenüber wird im Interview der dritten Welle auf die schon länger bestehende Beziehung zu seinem Cousin verwiesen. Dieser führte ihn nicht nur an das Onlinegaming heran, sondern ermöglicht auch eine damit einhergehende Vergrößerung seines Peernetzwerkes. Im Längsschnitt wird Martins Cousin somit mal als negative und mal als positive Einflussgröße auf die Freundschaftsbeziehungen und Freizeitaktivitäten  beschrieben. Folglich ist auch die Beziehung zwischen Martin und seinem Cousin von Diskontinuitäten und einem Abhängigkeitsverhältnis gekennzeichnet.

Hier lässt sich der deutlichste Kontrast zu den Freundschaftsbeziehungen von Melanie feststellen. Denn diese hat keine Brüche erfahren und setzt sich vor allem in kein Abhängigkeitsverhältnis. Sie schildert eine stetig zunehmende Beziehungsintensivierung zu Anja, einzelnen Mädchen aus der Parallelklasse, einigen Jungen ihrer Klasse und der Klassengemeinschaft insgesamt. Problematisiert werden dabei nicht die Verhaltensweisen anderer, sondern ausschließlich die zeitlichen und räumlichen Möglichkeiten für gemeinsame Aktivitäten:

Die Zeitproblematik dokumentiert nicht nur einen verhandelten Anspruch innerhalb von Freundschaften, sondern auch die Entstehung eines jugendtypischen konjunktiven Erfahrungsraumes, der mit Anja geteilt wird und gleichsam die Intensität der Zweierfreundschaft dokumentiert.[1] Im Kontrast zum Interview der zweiten Untersuchungsphase werden als Basis der Beziehung zu Anja nicht mehr ein ähnliches Aussehen und gemeinsame Charaktereigenschaften benannt, sondern die geteilten Erfahrungen, z.B. mit partnerschaftlichen Beziehungen oder der Terminkoordination. Doch dies sind nicht die einzigen Freundschaften, in die Melanie stabil über die Jahre eingebunden ist. Erstmalig wurde eine Gruppendiskussion geführt, an der jedoch sowohl Freundinnen aus der Schule als auch Anja als Freundin vom Training teilnahmen und ihre gemeinsamen Erlebnisse schildert, wie der nächste Ausschnitt zeigt:

Anhand dieses kurzen Ausschnittes wird gut deutlich, dass  die Mädchen nicht nur pragmatisch für die Gruppendiskussion zusammengewürfelt wurden, sondern auch ihre Freizeit miteinander verbringen und einer Clique angehören. Im Vergleich zu Melanies Freundschaftsbeziehungen der ersten beiden Wellen haben sich nicht nur die kontextübergreifenden Aktivitäten intensiviert, sondern auch die geschlechtsübergreifenden. Im Kontrast zu Martin dokumentiert sich nicht nur Melanies breiteres Beziehungsnetzwerk, sondern auch die Einbindung in verschiedene, aber miteinander verbundene Beziehungsformen, wie die Zweierfreundschaft und die Clique. Für Martin hingegen zeigen alle Materialien der drei Wellen nur eine bestehende Zweierfreundschaft, die entweder lose oder gar nicht an den Klassenverband gebunden ist. Unterschiede bestehen somit einerseits in der jeweiligen Beziehungsgeschichte, die im Hinblick auf Martin und Dirk von Diskontinuitäten und bezogen auf Melanie und Anja von einer beständigen Intensivierung gekennzeichnet ist. Andererseits zeigen sich noch Unterschiede der Auseinandersetzung mit den Peerbeziehungen. Für Martin dominieren die Erfahrung der Abhängigkeit und eine fehlende Kommunikation über die Probleme mit seinen Peers. Melanie reflektiert zunächst selbst und deutet an, dass Anja als Partnerin für die Problematisierung gilt.

Fußnote:

[1] Reinders (2010, S. 126) bezeichnet die Bildung von Gemeinschaftlichkeit aufgrund ähnlicher Problemlagen als Matching und schließt an Gedanken von Pettigrew an.

Mit freundlicher Genehmigung des Budrich Verlages.
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