Hinweis: Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Auftakt und Ankündigung – (k)ein neues Thema“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Beginn der Textlektüre – eine Falle der Abgeklärtheit“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Erklärungen der Schülerinnen und Schüler – Spiel als Ernstfall“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Lektüre des Basistextes – Was auf der Insel geschah …“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Besprechung des Textes: Wer ist wer? Wer macht was?“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Ein Arbeitsblatt: Verständnissicherung und Schlüsselworte“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Die Besprechung der Fragen – Situationsvorstellungen, Kontroversen, Analogien“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Wie es weitergehen wird – die Sinnstruktur des Lehrers“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Analoger Transfer als Lernhemmnis? Fazit: Erkenntnisinteresse und offene Fragen“
Einleitende Bemerkungen
Es handelt sich um die erste Stunde einer Unterrichtseinheit „Jugend und Politik“, die am 23.10.1996 in der 2. Stunde (8.30 – 9.15 Uhr) stattfindet. Inhalt ist u. a. ein Textauszug (bzw. Textauszüge) aus dem Roman „Herr der Fliegen“ von William Golding (vgl. Wochenschau Sek I, 6/1994). Thematisch geht es in dieser Stunde um Verhaltensweisen einer Jungengruppe, die auf sich gestellt ist.
Anwesend sind in alphabetischer Reihenfolge die Schülerinnen: Evin, Jane, Julia, Karmen, Karoline, Nadja, Petra, Renata, Sabine, Sandy, Susanne, Svantje sowie die Schüler: Christoph, Fernando, Klaus, Murat, Nick, Pascal, Paul, Oskar, Osman, der später kommt, Rolf, Ronald und Tim.
Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Oskar: eh ist passiert eine Gruppe englischer ehm Schuljungen, die in Chor spielen sind ebm hier hei (Tim: ???) Flugzeugunglück, alle Erwachsenen sind umgekommen, und da anscheinend ist ganz gut, denn Früchte, Wasser (Murat: den Film hob ich dreimal gesehn)??? da
Lehrer: Murat, wenn du noch einmal dazwischenredest, gehst du ins Schülerarbeitszimmer, noch mal bitte Ossi, das Letzte habe ich nicht verstanden Oskar: das Letzte?
Lehrer: ja das hab ich nicht verstanden
Oskar: ja anscheinend sieht das auf der Insel gar nicht so schlecht aus, denn es gibt Wasser, Früchte und wilde Schweine, die man auch jagen kann, ja und ehm Ralph, der Typ da, lässt Hütten bauen, ehm ach ja und Signalfeuer
(SCH: Wa???)
Lehrer: in diesem kurzen Text ehm, was erscheint euch ganz wichtig zu sein? Petra?
Petra ein Lachen unterdrückend: dass die Erwachsenen sterben [Gelächter]
Lehrer: Tim
Tim: ja der da, dass da der eine Typ den Anführer macht
Lehrer: sieht so aus, ne, gut […]
Oskar fasst die Geschehnisse zusammen, teils greift er dabei Formulierungen aus dem Text, teils die des Lehrers auf, teils beschreibt er mit eigenen Worten. Er gibt die wesentlichen Sachverhalte wieder. Tim äußert sich zeitgleich, es ist allerdings nicht zu verstehen, was er sagt. Später bekundet Murat laut und deutlich, dass er den Film „dreimal gesehn“ hat, Oskar ist nun nicht mehr zu verstehen. Er wird sozusagen von seinem Mitschüler „überstimmt“. Murat bekommt eine Verwarnung, weil er dazwischengeredet hat (Tim nicht). Oskar fährt mit seinem Beitrag fort. Der Tenor seines Beitrags ist, dass die Ausgangssituation „da anscheinend […] ganz gut“ bzw. „gar nicht so schlecht“ ist. Offenbar handelt es sich dabei um seine persönliche Übersetzung dessen, was im Text mit „zunächst erscheint der Verlust zivilisatorischer Ordnungsprinzipien leicht zu bewältigen“ umschrieben ist.
Was aber mag den Schüler Murat zu seinem Zwischenruf veranlasst haben?
Wenn er den Film schon dreimal gesehen hat, dann muss er für ihn etwas Besonderes bedeuten, ihn besonders ansprechen, und dies will er hier zur Geltung bringen. Will er signalisieren, dass er hier noch mehr weiß, mehr als dieser knappe Text hergibt? Sieht er sich als „Mit“wisser und will unbedingt als solcher zur Kenntnis genommen werden?
Dass er seinen Mitschüler damit unterbricht, scheint ihm zweitrangig und ist ihm möglicherweise gar nicht bewusst. Schätzt er die Folgen, die sein Zwischenruf für den Mitschüler (und auch für ihn selber) haben kann, nicht ab? Es gibt – führt man sich die Passage zuvor nochmals vor Augen – wieder paradoxe Anweisungen und Botschaften des Lehrers. Einerseits legt er Wert auf spontane Äußerungen, appelliert unterschwellig an den Einsatz der Schülerinnen und Schüler („vielleicht kennt ihr das?“). Andererseits ist er um eine kleinschrittig gesteuerte Verständnissicherung bemüht, so als könnten die Schüler und Schülerinnen mit dieser knappen Passage überfordert sein.
Es ist wieder Murat, der sich zum Sprecher des latenten Sinns aus der Perspektive „ernst genommener“ Schüler macht. Er klagt ein, dass der Lehrer, wenn er die Schülerinnen und Schüler schon daraufhin anspricht, ob sie die Story kennen, ihnen auch Raum geben muss, spontan zu antworten, anstatt weiterzufahren, als sei nichts geschehen. Man kann also sagen, dass es sich bei dem Zwischenruf von Murat um eine „stellvertretende Deutung“ handelt im Sinne von: anstatt diesen knappen Text zu lesen, wäre es viel interessanter, über den Film zu reden (vgl. Oevermann 1996, vgl. Helsper 1996).
Zusammengefasst
Vergegenwärtigen wir uns bis dahin nochmals den Verlauf dieser Stunde aus dem Blickwinkel der Fragestellung, welche Chancen und Formen der Schülerbeteiligung hier ermöglicht bzw. provoziert werden, bevor wir den inhaltlichen Beitrag der Schülerin Petra zu qualifizieren suchen.
Zunächst schafft der rituelle Auftakt der Stunde, der Appell an Ordnungsschemata, die Kontroll- und Steuerungsabsicht des Lehrers und ein Anfang nach dem Muster des Stundehaltens, Rezeptions- und Selektionsfilter, die einen unmittelbaren Zugang zu den Inhalten verwehren, prozesshemmend sind und von den Schülern und Schülerinnen fordern, ihre spontanen Assoziationen in Latenz halten zu können. Der vom Lehrer versuchte Spannungsaufbau – worum es inhaltlich geht, soll zunächst ein „Geheimnis“ bleiben – fällt in sich zusammen, als einige Schüler seiner umständlichen Einführung mit der Neugier abtötenden Prämisse „das kennen wir schon“ ins Wort fallen. Mögen die z. T. paradoxen Erwartungsstrukturen mit ihrer Tendenz zur verordneten Autonomie, die der Lehrer vorgibt, für die meisten Schüler und Schülerinnen nur eine defensive Position nahe legen, so verweist der Schüler Murat stellvertretend auf die Grenze eines solchen Interaktionsstils: Denn auch Schüler werden sich gegen das Risiko, die eigene Unzulänglichkeit dauernd „unter die Nase gerieben“ zu bekommen, in irgendeiner Form zur Wehr setzen, um die eigene bedrohte Identität und Bedeutsamkeit zu sichern (vgl. Combe/Helsper 1994, vgl. Helsper 1996).
Am Anfang der Stunde steht jedenfalls keine Problemerfahrung oder Problemexposition, die die Schüler zur Identifikation herausfordern kann. Geschaffen wird vielmehr eine Kommunikations(um)gebung, die einem aktiven Einbringen von Zielsetzungen, Problem-stellungen, Werthaltungen – also die einer produktiven Problemlösung aus Perspektive der Lernenden – entgegengesetzt zu sein scheint. Dieser Interpretation können zwei Einwände entgegengehalten werden: Argumentiert werden könnte, dass die Schüler und Schülerinnen erst in Gestalt der Titelgeschichte die zu lösenden Probleme und die Problemstellung selbst zu finden hätten bzw. diese ihnen erst zu gegebener Zeit „nahegebracht“ werden sollten. Dann fragt sich aber, warum ein Einstieg gewählt wurde, der dieses selbstständige Entdecken in keiner Weise signalisiert. Im Gegenteil: Die Schüler mussten den Eindruck erhalten, als sei das zu erwartende Endprodukt im Kopf des Lehrers schon präzise definiert, und diese schon bestehende exakte Vorstellung wurde ihnen gleichsam künstlich vorenthalten. Ein zweiter Einwand gegen die Möglichkeit eines problemeröffnenden Anfangs könnte in der bisher entwickelten „undisziplinierten“ Gesprächskultur dieser Schulklasse zu suchen sein, die es tendenziell verunmöglicht, eine kooperative und zielgerichtete Zusammenarbeit und wechselnde Unterstützung in Gang zu setzen. Es ist dabei nicht auszuschließen, dass die Anwesenheit einer Beobachterin und die Präsens der Aufnahmegeräte (zwei Mikrofone und ein Kassettenrekorder) den Lehrer zusätzlich unter Druck setzen, die in der Regel für die Außenbeurteilung einer Stunde übliche „Disziplin“ so sehr in den Vordergrund zu rücken. Natürlich besteht grundsätzlich die Gefahr, dass gerade angesichts der zu behandelnden Geschichte die Schüler sich in Details verlieren, sodass ein Überblick verloren geht (den der Lehrer etwa durch eine kurze Wiederholung schon an früher Stelle zu sichern sucht). Dennoch muss abgewartet und im weiteren Verlauf der Stunde erst geprüft werden, ob die Selbstregulierungsfähigkeit (vgl. Negt 1997, 191 ff.) im Bereich der Gesprächsführung tatsächlich so unterentwickelt ist, wie dies durch diesen Anfang von dem Lehrer signalisiert wird. Subjektive Lern-, Klärungs- und Artikulationsbedürfnisse (Verstehensbedürfnisse) seitens der Schüler und Schülerinnen nehmen bislang – abgesehen von Momenten des Widerstands gegen die Ausgeliefertheit an die Intentionen und diffus formulierten Erwartungen des Lehrers – noch keinen Raum ein. Dies scheint sich nun in der folgenden Szene zu ändern. Mit dem Hinweis „in diesem kurzen Text“ fragt der Lehrer: „was erscheint euch ganz wichtig zu sein?“. Damit eröffnet er den Schülerinnen und Schülern zum ersten Mal in der Stunde die Möglichkeit, sich zu der Titelgeschichte zu äußern, ihre Empfindungen und eigenen Sichtweisen spontan darzulegen. Dies ist eine entscheidende Stelle in Anbetracht dessen, dass die Schüler und Schülerinnen bislang nur reagieren konnten.
Die Schülerin Petra wird aufgerufen. Sie bringt mit einem unterdrückten Lachen hervor: „dass die Erwachsenen sterben“. Wie ist diese Äußerung dem Inhalt und der Form nach zu verstehen? Zunächst einmal lässt sich festhalten, dass sie die Aussage des Textes „Kein Erwachsener überlebt“ umdeutet. Inhaltlich spricht sie einen wesentlichen Aspekt an: Die besondere Situation besteht darin, dass die Jungen alleine auf der Insel sind. Der Umstand, dass dabei Erwachsene ums Leben gekommen sind, führt allerdings zu einer irgendwie gearteten Belustigung. Bricht sich hier eine normalerweise nicht zu äußernde Wunschvorstellung, etwas Tabuisiertes Bahn? Ist das angedeutete Lachen gleichzeitig eine Form von Verlegenheit, oder distanziert sie sich von dem mit unterdrücktem Lachen hervorgestoßenen aggressiven Anteil in dieser Äußerung? Von der Sinnlogik her weckt die Äußerung zunächst die Vorstellung, dass man ohne Erwachsene unter sich bleiben kann. Sie lässt eine „unverhoffte“ Situation anklingen: dass man ohne Erwachsene, also ohne Eltern, ohne Lehrer etwas zu sagen hat, dass man sein Leben ohne dauernden Einspruch und Maßregelungen aufbauen kann und muss. Die Situation spiegelt die Möglichkeit, als junger Erwachsener gesehen und behandelt zu werden, für sich selbst sprechen zu können, mündig ohne bevormundende Fürsorge leben zu können (und zugleich aber auch die Gefahr, ohne einen möglichen Schutz mit der Ernstsituation konfrontiert zu sein). Ich vermute also, dass dieses Lachen und diese Äußerung die Ambivalenz von Furcht und Wunsch wiedergeben. Die Ambivalenz in Petras Äußerung könnte – z. B. anders als es bei Ziehe mit dem Begriff der „Ent“dramatisierung des Generationenkonfliktes anklingt (vgl. Ziehe 1998) – als ein Hinweis auf eine erneute Spannungszone im Generationenverhältnis gedeutet werden.
Ich möchte das hier angesprochene Thema des Generationenverhältnisses vertiefend und im Rückblick auf bisher Erarbeitetes diskutieren, d. h. das bisher Gesagte auf riskante Strukturhypothesen zuspitzen.[1] Ziehe geht davon aus, dass sich das Generationenverhältnis entdramatisiert habe, insofern z. B. demonstrative Abgrenzungen Jugendlicher zu Eltern und Erwachsenen keinen großen Stellenwert mehr haben (ebenda, 60). Eine grundlegend andere Perspektive scheint in einer Schrift Gronemeyers mit dem Untertitel „Über den drohenden Krieg der Jungen gegen die Alten“ auf (Gronemeyer 1991). Gronemeyer bilanziert: „Das Generationenbündnis ist zu Ende. Das heißt für die Kinder Sie werden eine Last, die sich nur wenige zumuten. Das heißt für die Alten: Sie werden eine Last, die sich immer weniger zumuten wollen“ (ebenda, 23). Was dort bezweifelt wird ist, dass der Übergang von einer allgegenwärtigen Erwachsenendominanz und -macht zu einem die Eigenheit und Autonomie des jeweils anderen respektierenden Anerkennungsverhältnisses sich schon dauerhaft gesellschaftlich durchgesetzt hat. Die kulturgeschichtliche Betrachtung Gronemeyers durchzieht der Gedanke, dass die Familie als „Dach über den Generationen“ (7) nicht weiter fortbestehe. Damit wäre also die von Allert rekonstruierte Unverwüstlichkeit der familiären Lebensform, „als Basisinstitution der Entstehung von Formen menschlicher Gegenseitigkeit“ (Allert 1998, 280), im Verschwänden begriffen. Ließe sich damit nun die das Generationenverhältnis berührende Äußerung Petras erklären?
Nun möchte ich folgende Strukturhypothesen formulieren: Zunächst haben wir es mit dem Generationenverhältnis in der Schule zu tun. Nach der bisherigen Rekonstruktion der Unterrichtsstunde lässt sich sagen, dass die Interaktionsbilder im vorliegenden Unterricht immer noch an alten Dominanz- und Kontrollschemata ausgerichtet sind. Beteiligung reduziert sich aus dem Blickwinkel des Lehrers auf ein motivationstaktisch gewährtes Zugeständnis. Unterricht ist hier kein Interaktionsfeld vorauslaufend unterstellter Autonomie. Mündigkeit wird wohlwollend berufen und gewährt, aber nicht vorausgesetzt, damit sie sich zeigen und entwickeln kann. Die Anerkennung des anderen in seinem Anderssein, das ist die Interaktionssensibilität, die als Voraussetzung für die Entwicklung einer Mündigkeit gefordert ist. Dies käme einem Lernen an Differenzen, einem Produktiv-Machen von Differenzen gleich. Damit tut sich die gesellschaftliche Institution des Unterrichts schwer.
Der untersuchte schulische Unterricht repräsentiert zwar keineswegs mehr einen im alt-hergebrachten Sinne autoritären, direkt unterdrückenden Stil, sondern einen subtil- eingemeindenden und Differenzen verwischenden Stil (eine Lenkung und Steuerung am Gummiband, einen in Watte gepackten Dirigismus), der keine genaue Angriffsfläche bietet und sich deshalb in Äußerungen ohnmächtiger Wut („dass die Erwachsenen sterben“) äußert.
Suchen wir nach theoretischen Stützpunkten, so scheint ein Befund aus der Shell- Jugendstudie dies zu bestätigen. „Von einem lautstarken kulturellen Konflikt zwischen den Generationen ist heute auf der öffentlichen Bühne wenig zu sehen. Nicht nur, weil immer mehr Ältere sich um Jugendlichkeit bemühen in all ihren Lebensäußerungen, sondern weil sie dies in einem Ausmaß betreiben, das es den echten Jugendlichen immer schwerer macht, sich mit ihrer eigenen Jugendlichkeit trennscharf abzusetzen“ (Streit, Alexandra von 1997, 85)[2].
Einerseits durchziehen entdifferenzierte Umgangsformen das vorliegende Unterrichts-geschehen, andererseits wird an tradierten Rollen (was z. B. Rederecht anbelangt) festgehalten. Differenzen zwischen den Generationen werden dort nicht inhaltlich produktiv aufgegriffen, wo sie – wie der latente Sinn in der Äußerung Petras nahe legt – aller Entdramatisierungen und Entdifferenzierungen zum Trotz für die Handlungsentwürfe Einzelner Bestand haben. Sie bleiben verdeckt, verschleiert und wären aber für Lernprozesse im Übergang von einer Statuspassage zur nächsten transparent zu machen.
Die vorliegende Sequenz kann, nochmals anders gewendet, folgendermaßen verstanden werden: Bei diesen Jugendlichen deutet sich eine Sensibilität für die Interaktionsform wechselseitiger Anerkennung an. Selbst subtile Formen der Entmündigung werden wahr-genommen und emotional verarbeitet. Gleichzeitig wird erahnt, dass dieser Zustand im Status der Jugend nicht ohne weiteres verändert werden kann, denn die strategisch entscheidenden Einflussstellen sind immer noch von Erwachsenen besetzt. Das daraus resultierende Ohnmachtsgefühl führt schließlich zu solch aggressiv getönten, zumindest ambivalenten Äußerungen im Sinne von: Erst, wenn die Erwachsenen sterben, ist der Platz für mich, für uns frei. Der Lehrer geht auf Petras Beitrag nicht näher ein. Warum greift er diese „Vorlage“ nicht auf? Vermutlich ist er ratlos gegenüber einer möglichen grundsätzlichen Thematisierung des Erwachsenen-Kind-Verhältnisses. Der Lehrer nimmt nun den Schüler Tim dran. Tim ist es offenbar wichtig, „dass da der eine Typ den Anführer macht“. Er deutet vermutlich den Umstand, dass die – von ihm unspezifisch als „Typ“ beschriebene – Romanfigur Ralph Hütten bauen lässt usf., d. h., er fasst die im Text beschriebenen Initiativen, die auf Ralph zurückgehen, in einer übergreifenden Funktion bzw. Kategorie zusammen. Er schreibt der Romanfigur die besondere Rolle des Anführers zu[3]. Damit ist eine soziale Rangordnung innerhalb der Jungengruppe thematisiert und gleichsam ein weiterer politischer Lernkontext eröffnet, insofern mit der Anführerschaft Fragen berührt werden wie: Wer hat (als Wortführer) das Sagen? Wer hat die Macht (vgl. Bourdieu 1990)? Den Beitrag von Tim kommentiert der Lehrer mit den Worten: „sieht so aus, ne, gut“. Damit bestätigt er indirekt die Suchrichtung des Schülers.
Warum bestätigt der Lehrer Tims Deutungsangebot und reagiert (anscheinend) nicht auf Petra? Hat Tim etwas angesprochen, worauf der Lehrer hinaus will? Gibt Tim eine „schulgerechtere“ Antwort? Dazu muss geprüft werden, welche Rolle das „Anführer“ – Thema im weiteren Verlauf des Unterrichts spielt.
Wie entscheidet sich der Lehrer nun fortzufahren? Bringen ihn die Äußerungen von Petra und Tim in Bedrängnis? Hält er es für zu früh, den Deutungshintergrund der Schüleräußerungen auszuleuchten? Jedenfalls werden den Schülerinnen und Schülern an dieser Stelle nur sehr knappe Reaktionen auf den Text ermöglicht. Sie bekommen gerade so viel Raum gegeben, dass sie „bei der Stange bleiben“.
Fußnoten:
[1] Worum es hier nun geht, ist dies: im Wechselspiel zwischen Fall und Theoretisierung Strukturhypothesen zu bilden.
[2] Zur Infantilisierung der Erwachsenenwelt als postmoderne Erscheinung sowie den Aspekt der Entdifferenzierung siehe auch Lenzen 1985.
[3] Fragen wie z. B. „Wer wird in den ko-konstruktiven Prozessen nicht bloß zum Empfänger von Normen und Bedeutungen, sondern zum Normgeber?“ haben im Jugendalter eine große Bedeutung und berühren Fragen, die auf den „Lebensnerv der Adoleszenz“ treffen (Fend 2000, 316). Dort gibt es zu den Aspekten Meinungsführer und Normgeber einen Hinweis auf die Romanvorlage „Lord of the Flies“ (ebenda, 318).
Literaturangaben:
Allert, Tilman: Die Familie. Fallstudien zur Unverwüstlichkeit einer Lebensform. Berlin New York 1998
Bourdieu, Pierre: Was heisst Sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches. Wien 1990 (Original 1982)
Combe, Arno/Helsper, Werner: Was geschieht im Klassenzimmer? Perspektiven einer hermeneutischen Schul- und Unterrichtsforschung. Zur Konzeptualisierung der Pädagogik als Handlungstheorie. Weinheim 1994
Fend, Helmut: Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Ein Lehrbuch für pädagogische und psychologische Berufe. Opladen 2000
Gronemeyer, Reimer: Die Entfernung vom Wolfsrudel. Frankfurt/Main 1991
Helsper, Werner Antinomien des Lehrerhandelns in modernisierten pädagogischen Kulturen. Paradoxe Verwendungsweisen von Autonomie und Selbstverantwortlichkeit. In: Combe, Arno/ Helsper, Werner a. a. O. 1996, S. 521-569
Lenzen, Dieter: Mythologie der Kindheit. Die Verewigung des Kindlichen in der Erwachsenenkultur. Versteckte Bilder und vergessene Geschichten. Reinbek bei Hamburg 1985
Negt, Oskar: Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche. Göttingen 1997
Oevermann, Ulrich: Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns. In: Combe, Arno/Helsper, Werner (Hrsg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Frankfurt/Main 1996, S. 70-182
Streit, Alexandra von: „Das Leben geht weiter“. 19 biografische Porträts von Jugendlichen. In: Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.): Jugend ’97. Zukunftsperspektiven, Gesellschaftliches Engagement, Politische Orientierungen. Opladen 1997, S. 79-101
Wochenschau Heft 6/1994 Sek. I: Jugend macht Politik (Carla Schelle in Zusammenarbeit mit der Redaktion Wochenschau).
Ziehe, Thomas: Bindungen und Selbsterprobungen – Jungen-Pubertät im Prozeß der kulturellen Modernisierung. In: Hafeneger, Benno/Jansen, Mechtild M./Klose, Christiana (Hrsg.): „Mit fünfzehn hat es noch Träume …“ Lebensgefühl und Lebenswelten in der Adoleszenz. Opladen 1998, S. 39-81
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