Dieser Fall basiert auf Material aus den INTAKT-Daten. Die kompletten Datensätze können zu Forschungszwecken über das Online-Fallarchiv Schulpädagogik angefordert werden. Mehr Informationen finden Sie unter http://www.fallarchiv.uni-kassel.de/projektdaten-intakt/intakt-informationen/.
Hinweis: Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:
Eine anerkennende Beispielszene aus dem Datensatz der INTAKT-Gruppe
Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Die Mädchen der Klasse 3 einer Grundschule singen gemeinsam mit dem Lehrer Herrn Schön ein Lied im Musikunterricht. Inmitten dieser Unterrichtsaktion erhebt sich Elias, singt, wippt leicht mit den Armen und sieht sich mit verschmitztem Lächeln in der Klasse um. Einige Mitschüler beginnen zu lachen und verdutzt oder amüsiert mit dem Finger auf ihn zu zeigen. Als Herr Schön das Verhalten bemerkt, springt er empört von seinem Platz auf. In Höchstlautstärke und sehr wütend fährt er ihn an, ob er nicht merke, dass er stört. Er schreit noch lauter, rennt auf Elias zu und knallt dessen Ranzen mit voller Wucht unmittelbar neben dem Kind auf den Tisch, sodass dieser erschreckt zusammenfährt. Herr Schön durchwühlt die Tasche des Jungen und herrscht ihn an, wo sein Hausaufgabenheft sei. Nachdem er das Heft gefunden hat, geht Herr Schön zurück an den Lehrertisch, setzt sich und äußert etwas ruhiger sein Unverständnis über das Verhalten des Kindes. Dieser Monolog ist von rhetorischen Fragen und Vorwürfen gekennzeichnet. Elias lässt dies nickend über sich ergehen. Der Beobachter stellt fest, dass Herr Schön in dieser Szene wegen einer Lappalie vollkommen die Kontrolle über sich verliert. Obwohl der Lehrer zuvor keinerlei Interaktion mit dem Schüler gezeigt hat, entlädt sich seine Aggression unkontrolliert an dem überraschten Kind. Elias weiß nicht, was mit ihm geschieht und lässt verschreckt den Ausbruch des Lehrers über sich ergehen. Herr Schön steigert sich in seine Wut hinein und sucht beinahe gewalttätig nach dem Hausaufgabenheft des Jungen. Die Anschuldigungen des Lehrers sind aus der Sicht des Beobachters „haltlos und unverständlich“ (103/16.03.2011/11:22): Der Lehrer bezichtigt Elias, ihn bewusst zu provozieren und somit dessen Laune sowie das gute Singen der Mädchen zu verderben. Zudem wirft er ihm vor, dass er im Mittelpunkt stehen und ihn willentlich ärgern wolle (vgl. ebd.). Der Beobachter hat mehrere Stunden zuvor in dieser Klasse hospitiert und stellt fest, dass diese Anschuldigungen indiskutabel sind, da der Junge sowohl in der besagten Musikstunde als auch in vorigen Unterrichtsstunden unauffällig war. Elias hatte lediglich mehrfach erfolglos versucht, die Aufmerksamkeit des Lehrers durch Melden auf sich zu ziehen, was jedoch von diesem nicht wahrgenommen wurde (vgl. ebd.). Es ist möglich, dass Elias sich langweilt und die Situation auflockern will, wie es der Beobachter beschreibt. Dieser führt weiter aus, dass er den Jungen am liebsten vor Herrn Schön in Sicherheit bringen möchte. Als Beobachter selbst fühlt er sich „paralysiert“ (ebd.) aufgrund der völligen Entgleisung des Musiklehrers. Diese Interaktionsszene wird von dem Jungen initiiert, das eigentliche Gespräch beginnt jedoch der Musiklehrer. Dabei werden keine anderen Kinder direkt einbezogen, jedoch erleben sie die gesamte Unterrichtsszene mit.
2. Induktive Interpretation
Der Beobachter hat in seine Beschreibung bereits wesentliche Interpretationsansätze eingebaut (siehe Szenenbeschreibung). Der Lehrer singt mit den Mädchen der Klasse. Als er bemerkt, dass ein Junge aufgestanden ist, reagiert er ausfällig und aggressiv. In diese Wut steigert er sich scheinbar hinein, beschimpft den Jungen, macht ihm Vorwürfe, agiert durch das Knallen des Ranzens und schreibt einen Eintrag in das Hausaufgabenheft des Kindes.
Der Junge, der sich laut Beobachter vermutlich langweilte und schon mehrfach in vorangegangenen Situationen versuchte, die Aufmerksamkeit des Lehrers durch Melden auf sich zu ziehen, wird in dieser Szene erschreckt, gedemütigt und erniedrigt. Seine kreative Aktion während des Gesangs wird als Störung beurteilt und als Fehlverhalten kategorisiert. Vor seinen Klassenkameraden wird ihm ein Eintrag ins Hausaufgabenheft gegeben, der von weiteren Vorwürfen des Musiklehrers begleitet wird. Der Junge lässt dies nickend über sich ergehen, da er vermutlich vom Ausbruch des Lehrers überrascht ist und keine Chance sieht, gegen diese Form von Lehrergewalt vorzugehen.
Die Gruppe, die zu Beginn der Szene singt, wird durch den Jungen, der aufgestanden ist und mitsingt, abgelenkt. Als der Lehrer auf diese Situation wutentbrannt reagiert, wagen die übrigen Schüler nicht, das betroffene Kind zu schützen oder sich auf irgendeine Art und Weise zu äußern. Diese Form von Lehrergewalt kann auch den anderen Kindern schaden. Die Berücksichtigung des kindlich subjektiven Befindens in den Interaktionen kann anhand dieser Szene als ein zentrales Merkmal für die Entwicklung von Kreativität und einer damit in Verbindung stehenden angemessenen Anerkennung des Kindes herausgearbeitet werden.
3. Deduktive Interpretation hinsichtlich Anerkennung und Verletzung
Die Interpretationsszene wurde bezüglich der sechs Auswertungskategorien des INTAKT-Projektes als „sehr verletzend“ eingeordnet.
Der Junge soll den Gesang nicht kreativ mitgestalten. Der Lehrer reagiert darauf mit starker Missachtung der gesamten Schülerpersönlichkeit. Das Kind erhält in dieser Situation keinen Freiraum, seine Fantasie und seine musikalischen Gestaltungsweisen kreativ in den Unterricht einzubringen. Der Musiklehrer zeigt in der Szene deutlich, wer die Regeln vorgibt und Sanktionen ausübt. Durch das Anbrüllen, den aggressiven Ausfall des Lehrers und die zeitliche Ausdehnung der Szene ist diese als dramatisch einzuschätzen. Es wird durch die Analyse deutlich, dass ein eindeutiger Machtmissbrauch seitens des Lehrers vorliegt. Dabei macht er dem Kind durch körperliche und verbale Übergriffe verständlich, dass er an der Spitze der Machthierarchie des Unterrichts steht und bestimmt, was das Kind in welcher Art und Weise zu machen hat. Disziplin, die an dieser Stelle vom Musiklehrer durch unreflektiertes, gewaltförmiges Agieren eingefordert wird, scheint ihm die Grundlage des musikalischen Arbeitens zu sein; Abweichungen lösen scheinbar seine Wut aus. Es lässt sich vermuten, dass durch ein solches Vorgehen Kreativität, die man bei den Kindern im Fach Musik entwickeln könnte, verloren geht. Das Handeln des Musiklehrers kann als aggressiv und unbeherrscht eingeschätzt werden.
4. Widersprüchliches
Das Aufstehen des Jungen kann sich irritierend auf den Gesang der Mädchen auswirken, die dadurch abgelenkt werden könnten. Indem der Lehrer in diesem Moment eingreift, könnte er die Konzentration auf den Gesang einiger Kinder wieder herstellen. Durch die unangemessene Heftigkeit und die zeitliche Dehnung der Lehrerintervention wird jedoch die Konzentration völlig vom Gesang weg auf die Bestrafung des Jungen gelenkt.
Durch die häufigen Fragen des Lehrers (Was soll das? Willst du im Mittelpunkt stehen oder warum machst du das? Du weißt schon, dass du mich damit ärgerst?) könnte dieser signalisieren wollen, dass er das Kind verstehen möchte. Der Junge antwortet jedoch nicht, da der Ton und das Verhalten des Lehrers erniedrigend und diskriminierend für das Kind ist, so dass es völlig verstummt. Obwohl diese Ambivalenz in der Szene enthalten ist, ist sie aufgrund ihrer zeitlichen Ausdehnung des Kontrollverlusts des Lehrers und der eindeutigen Diskriminierung zu den sehr verletzenden Szenen zuzuordnen.
5. Vermutungen über die Ursachen
Die Vermutung besteht, dass der Musiklehrer eine gestörte Beziehung zu diesem Jungen hat, was ein Grund für seine Entgleisung sein könnte. Demzufolge würde er bei einzelnen Kindern besonders negativ reagieren. Das Fehlverhalten könnte jedoch noch weitere vielfältige Ursachen haben, zum Beispiel Probleme im privaten Bereich oder eine berufliche Unzufriedenheit und Überforderung, worüber sich an dieser Stelle nur mutmaßen lässt.
6. Fazit der Vignettenauswertung und Bezüge zum Forschungsstand
Solche gewaltförmigen Entgleisungen von Lehrkräften können die Persönlichkeit des Kindes und aller Beteiligten stören und traumatisierend wirken. Dieser Übergriff zeigt einen Gefahrenbereich des Musikunterrichts – es lässt sich vermuten, dass der Junge womöglich nicht mehr seine kreativen Ideen musikalisch auslebt. Damit hat Musikunterricht das Gegenteil eines seiner wichtigen Unterrichtsziele, nämlich der Entwicklung der Persönlichkeit des Kindes, womit vor allem die Bereiche der Kreativität und der Freude im Umgang mit der Musik gemeint sind, erreicht.
Mit freundlicher Genehmigung des Budrich UniPress Verlages
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