Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Frau Langhans

Frau Langhans, Referendarin im zweiten Ausbildungsabschnitt, unterrichtete die Klasse 9b im Fachgebiet Deutsch. Da sie zum ersten Mal ihre Lehrtätigkeit am BBG aufnahm, gab es keinen Ruf, der ihr vorweg eilte oder Erfahrungen mit SchülerInnen aus vorherigen Schuljahren. Aber allein schon die Tatsache, dass sie Referendarin war, löste bei den SchülerInnen ein Gefühl von Überlegenheit aus – immerhin wussten sie aus ihren bisherigen Erfahrungen mit ReferendarInnen, dass diese auf die Mitarbeit der SchülerInnen angewiesen sind, um in den Lehrproben eine gute Benotung zu erzielen, die schließlich über deren weitere Berufschancen entscheiden. Auch wussten die SchülerInnen um deren Unsicherheit beim Unterrichten und mangelnde Lehrerfahrung Bescheid, was als eine Art Herausforderung betrachtet wurde, die Grenzen der Referendarin auszutesten: Sei es durch bloße Zwischenrufe, mangelnde Aufmerksamkeit, verbale Attacken, nicht gemachte Hausaufgaben etc. Die folgende Sequenz dichter Beschreibung ist geradezu charakteristisch für dieses Verhalten der SchülerInnen der Klasse 9b im Deutschunterricht bei Frau Langhans:

09.10.02
In der Deutschstunde waren die SchülerInnen der Klasse 9b sehr ausgelassen und laut.
Wenn die Referendarin der Klasse den Rücken zuwendete, um etwas an die Tafel zu schreiben, riefen einige Jungen „Schweißfleck“ oder „Giraffe“. „Schweißfleck“, weil sich solche unter den Achseln der Lehrerin eindeutig abzeichneten und „Giraffe“, weil die SchülerInnen der Meinung waren, Frau Langhans sehe einer solchen ähnlich. Ein Schüler erfand sogar einen Liedtext mit dem Titel „Schweißfleck“, den dann drei oder vier Jungen leise – aber trotzdem in jeder Ecke des Klassenzimmers hörbar – zum besten gaben. Als Deria während dieser Stunde auf die Toilette ging, streckte sie Frau Langhans, als diese ihr den Rücken zuwendete, an der Tür die Zunge heraus. Die SchülerInnen, die es bemerkten, lachten darüber. Frau Langhans versuchte die SchülerInnen durch Ermahnungen und Strafarbeiten zur Ruhe zu bringen, aber ohne Erfolg. Die SchülerInnen wurden immer lauter. Wenn jemand auf Fragen von Frau Langhans eine richtige Antwort gab, fingen 5 oder 6 Jungen an Applaus zu klatschen. Die Störungen hielten die ganze Stunde an.

Hier zeigt sich, dass auch die Macht der LehrerInnen beschränkt ist. Obwohl Frau Langhans Strafarbeiten vergibt, um Ruhe bittet, SchülerInnen ermahnt etc. halten die Störungen des Unterrichts an. Ein paar Jungen gehen so weit, Frau Langhans in ihrer Person verbal zu attackieren, indem sie die ihr sicher unangenehmen Schweißflecken thematisieren und ihr den keinesfalls schmeichelnden Kosenamen Giraffe zurufen. Unterstützt werden die Taten der Jungen durch das Gelächter der anderen. Je weniger sich Frau Langhans zu helfen weiß, desto größer wird die Macht der SchülerInnen. Sie wissen um diese Macht und fühlen sich sicher, was beispielsweise dadurch zum Ausdruck kommt, dass selbst eine eher ruhige und unauffällige Schülerin wie Deria aktiv gegen Frau Langhans vorgeht, indem sie ihr hinterrücks die Zunge heraus streckt.
Es stellt sich nun die Frage, warum sich die SchülerInnen gegenüber Frau Langhans so verhalten. M.E. zum einen aufgrund ihrer Stellung als Referendarin, die das Machtgefälle extrem reduziert (immerhin sind ReferendarInnen auf die Mitarbeit der SchülerInnen angewiesen), zum anderen weil Frau Langhans die Kunst der Machtdemonstration noch nicht beherrscht. Diese Kunst ist der Kern einer zentralen Dimension des Lehrer-Schüler-Verhältnisses. Herr Hofstätter beschrieb sie mir gegenüber einmal so, dass er sich bereits auf dem Weg zur 9b – einer Klasse, die als schwierig galt – in die richtige Stimmung versetzt, gleich einem Panzer. D.h. bereits beim ersten Schritt ins Klassenzimmer strahlt Herr Hofstätter den nötigen Grad an Machtpräsenz aus, um die SchülerInnen an ihre untergeordnete Stellung zu erinnern. Nicht einmal während meines gesamten Feldaufenthaltes wagten es die SchülerInnen der 9b Herrn Hofstätter so respektlos gegenüberzutreten wie Frau Langhans. Frau Langhans dagegen lud die SchülerInnen durch ihre offene Art, d.h. ohne mentalen „Panzer“ oder „Schutzmantel“ auf einer non-verbalen Ebene geradezu ein, den Kampf aufzunehmen und Frau Langhans zu verletzen. Ihren zu Beginn des Schuljahres eingebüßten Machtverlust konnte Frau Langhans nicht wieder aufholen. Jede Stunde glich mehr oder weniger dieser oben dargestellten: eine Tortur, der Frau Langhans durch Einträge ins Klassenbuch, Besuch einer Schulpsychologin aus dem Lehrerseminar, Einbezug des Klassenlehrers Herrn Hofstätter etc. Herr zu werden suchte – vergeblich. Die SchülerInnen der 9b wussten um ihre Möglichkeiten den Unterrichtsverlauf zu gestalten, so dass Frau Langhans in jeder Hinsicht auf das Wohlwollen der SchülerInnen angewiesen war.

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