Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Sicht der LehrerInnen

Wie nehmen LehrerInnen ihre SchülerInnen wahr, welche Erwartungen haben sie und in welchem Maße gelingt es ihnen, auf die Persönlichkeit und individuelle Struktur einzelner SchülerInnen einzugehen? Diese Fragen sollen hier im Folgenden untersucht werden.

22.01.03
„Wenn man beispielsweise in einem Schuljahr vier neue Klassen bekommt, dann sind das im Schnitt 100 neue Namen“, sagte Herr Hofstätter.

Während sich der Schulalltag der SchülerInnen in jedem Schuljahr im Allgemeinen um nicht mehr als zehn für sie relevante LehrerInnen dreht, werden die Schulwochen eines Lehrers bzw. einer Lehrerin in der Regel von mehr als hundert SchülerInnen begleitet. Sind alle Klassen für den Lehrer neu, so kann es schon zu einer beachtlichen Anzahl von Namen und Gesichtern kommen, die er sich merken muss. Ausgehend von dem Fall, dass manche Fächer nur mit zwei Wochenstunden unterrichtet werden, treffen SchülerInnen und LehrerInnen jede Woche zweimal für 45 Minuten aufeinander. Wie lange mag es da dauern, bis der Lehrer bzw. die Lehrerin alle Namen, auch die der eher ruhigen und stillen SchülerInnen, kennt? Und wie lange mag es dann dauern bzw. ist es in diesem zeitlich eng begrenzten Rahmen überhaupt möglich, SchülerInnen in ihrer individuellen Konstitution kennenzulernen? Die folgenden Feldnotizen sollen hierüber Aufschluss geben:

11.11.02
Jenny erzählte mir, daß ihre Mitschülerin seit heute wieder in der Schule ist, die wegen einer schweren Operation an der Wirbelsäule einige Wochen gefehlt hatte. Nicht ein Lehrer habe sich nach ihrem Befinden erkundigt. Als diese Schülerin in Mathe dann den Lehrer fragte, ob sie die Arbeit mitschreiben müsse, sagte dieser: „Warum nicht?“ „Weil ich doch die ganze Zeit nicht da war.“ „Ach ja, dann nicht.“

Diese kurze Sequenz aus meinem Protokoll spricht für die Annahme, dass LehrerInnen aufgrund der zeitlichen Limitierung und der großen Anzahl ihrer SchülerInnen nur wenig persönlichen Kontakt aufbauen können. In der Frage des Mathematiklehrers, warum die Schülerin die Klassenarbeit denn nicht mitschreiben soll, kommt zum Ausdruck, dass er ihr wochenlanges Fehlen gar nicht bemerkt hat. Er wusste auch nichts von ihrer schweren Wirbelsäulen-Operation.
Obwohl es sich bei der Klasse 11d mit 16 SchülerInnen um eine sehr kleine Klasse handelt, hat der Mathematiklehrer, weder einen Überblick über die An- oder Abwesenheit der SchülerInnen, noch über deren Befindlichkeit.
Ausflüge oder Landschulheimaufenthalte können Gelegenheit geben, den Kontakt und damit das Verhältnis zwischen SchülerInnen und LehrerInnen zu intensivieren, wie Herr Hofstätter berichtet:

31.01.03
Auf dem Weg zum Parkplatz fragte ich Herrn Hofstätter, ob es anstrengend sei mit SchülerInnen eine Woche lang wegzufahren. Er sagte, eigentlich nicht, auch wenn es natürlich kein Urlaub sei – wie es von vielen Eltern gerne hingestellt werde. Ich fragte weiter, ob es richtig sei, daß man Schüler dann ja auch von einer anderen Seite kennenlernt.
Er stimmte mir zu und sagte, daß es schon solche und solche Fälle gegeben habe, wo er seine Meinung über einen Schüler um 180 Grad geändert habe. „Da waren Schüler für die hätte ich meine Hand ins Feuer gelegt, die haben mich dann echt enttäuscht und umgekehrt.
Was man aber sagen kann, ist, daß es nach einer Klassenfahrt immer für die Klassengemeinschaft gut war. Es ist auch gut für Schüler, den Lehrer auch mal locker kennenzulernen. Ach, der ist ja gar nicht so streng…“

Nicht nur LehrerInnen erfahren etwas über ihre SchülerInnen, sondern auch die SchülerInnen lernen ihre LehrerInnen besser kennen. Aus der Erlebnispädagogik wissen wir sehr gut, welch überaus heilsamer Einfluss von gemeinsamem Handeln und Erleben ausgehen kann.
Nachdem Herr Hofstätter zehn Tage mit seinem Sport-LK Skifahren war, beschrieb er mir seine Erfahrungen:

18.03.03
In der Pause fragte ich bei Herrn Hofstätter nach, warum ihn David auf dem Ausflug so enttäuscht habe. Er antwortete, weil er zu verabredeten Zeiten und Treffpunkten nicht da gewesen sei, sein Zimmer nicht sauber verlassen habe etc. Die SchülerInnen hätten außerdem im Übermaß Alkohol getrunken und ohne Bedenken en masse Geld ausgegeben. Sie hätten vor seinen Augen geraucht, obwohl er das ablehne und daß sie sich vor kurzer Zeit noch nicht getraut hätten vor seinen Augen eine Zigarette anzuzünden, „weil sie wissen, daß ich das strikt ablehne.“

Da Herr Hofstätter seinen Schüler David in ganz anderen Kontexten erlebt, erfährt er ein Verhalten wie er es nicht kennt und auch nicht erwartet hat. Das Bild, das er sich aufgrund seiner Unterrichtserfahrung gemacht hat, erweist sich als unvollständig und es wird ihm schmerzlich bewusst, dass er seine Meinung über David revidieren muss. Auch das Verhalten der anderen SchülerInnen des Sport-LKs verändert Herrn Hofstätters Einschätzung – vor allem, dass sie sich „getraut hätten vor seinen Augen eine Zigarette anzuzünden“. Der Respekt, den SchülerInnen Herrn Hofstätter im Rahmen des schulischen Alltags bezeugen, verliert in außerschulischen Zusammenhängen an Bedeutung.
Es ist in solchen Fällen immer schwer zu entscheiden, inwieweit das Verhalten von SchülerInnen durch die Erwartungen geprägt wird, die an ihre Rolle gestellt werden, oder ob das gezeigte Verhalten dem entspricht, was sie auch außerhalb ihrer Rolle leben und als richtig empfinden würde. In dem hier konkret vorliegenden Fall könnte das Rauchen auch als Versuch einer – von Herrn Hofstätter missverstandenen – Annäherung durch die SchülerInnen gewertet werden: Für sie gehört das Rauchen zur alltäglichen Lebenswelt, an der sie ihren Lehrer teilhaben lassen wollen, auch wenn sie wissen, dass er das Rauchen für falsch hält – so als wollten sie sagen: „Sieh her ich rauche, ich weiß, das Du das nicht magst, aber es gehört zu mir und es ist ehrlicher vor Dir zu rauchen als heimlich. Ich akzeptiere Dich, obwohl Du gegen das Rauchen bist und ich fände es super, wenn Du mich auch akzeptieren könntest, obwohl ich rauche.“

18.10.02
Herr Hofstätter sagte, daß es ihm schon lange aufgefallen sei, daß SchülerInnen sich anders verhalten als zu früheren Zeiten: „Man läuft morgens durch´s Schulhaus und wird nicht gegrüßt. Selbst wenn man zuerst grüßt, dann bekommt man keine Antwort. Es scheint da an einigen Umgangsformen zu fehlen.“

Herr Hofstätter moniert die Umgangsformen der SchülerInnen. Es hört sich ein bisschen wie der etwas wehmütige Wunsch nach der „guten alten Zeit“ an. Andererseits lässt das konkrete Beispiel doch vermuten, dass eine tatsächliche Verhaltensänderung stattgefunden hat. In der sehr ländlichen Gegend, in der die Schule steht, ist zu beobachten, dass ältere Leute sich auf der Straße – etwa bei einem Spaziergang im Wald – gegenseitig im Allgemeinen grüßen, selbst wenn sie sich nicht persönlich kennen. Bei Jüngeren ist dies weniger zu beobachten. Somit wirkt sich eine Veränderung sozialer Konventionen, die im normalen Leben den Eindruck einer Abkühlung zwischenmenschlicher Höflichkeitsformen macht, sicherlich auch auf das Lehrer-Schüler-Verhältnis aus.

24.01.03
Herr Hofstätter erzählte mir von seinem Gespräch mit Jan: „Ihm ist schlecht – er will nach Hause. Nachher schreib´ ich die Arbeit bei denen. Ich hab´ ihm gesagt, daß ich die Arbeit nur wegen ihm schreibe, damit ich ihm keine 5-6 ins Zeugnis machen muß. Das kannst Du Dir jetzt überlegen. Es ärgert mich jetzt, auch weil die so wenig Ehrgeiz haben.“

Herr Hofstätter geht wie selbstverständlich davon aus, dass Jan seine Übelkeit nur vortäuscht, um die Klassenarbeit nicht mitschreiben zu müssen. Wenn Herr Hofstätter recht hat – was tatsächlich der Fall ist – hat sich Jan ausgerechnet, dass er – seine Zeugnisnote betreffend – besser fährt, heute nicht mitzuschreiben und die Arbeit stattdessen zu einem anderen Zeitpunkt nachzuschreiben, wenn er mit Hilfe eines Nachhilfelehrers besser darauf vorbereitet ist. Jan taktiert und nützt die ihm institutionell zu Verfügung stehende Möglichkeit einer „Krankmeldung“ ohne Rücksicht darauf, dass dieses Verhalten ein „schlechtes Licht“ auf ihn und seine Lerneinstellung wirft und dem Lehrer zusätzliche Arbeit machen wird. Er nimmt bewusst die Verärgerung des Lehrers in Kauf und eine damit einhergehende mögliche Beeinträchtigung seiner Beziehung zu diesem Lehrer, da ihm offensichtlich der Nachteil, jetzt und völlig unvorbereitet eine Arbeit schreiben zu müssen, größer erscheint.
Herr Hofstätter ist verständlicherweise verärgert, da ihm dieses Verhalten zeigt, dass die Präferenzen von Jan nicht so gelistet sind, wie er sich das bei einem „ordentlichen Schüler“ wünsche würde.

21.02.03
In der Pause sprach Herr Hofstätter mit mir noch über ein paar SchülerInnen der 8ten Klasse, die „ganz clever sind, aber halt nicht aus sich rausgehen. Aber gut, das krieg´ ich ja mit und aus ´nem Ackergaul wird kein Rennpferd. Wenn ich ihn aufrufe und er ist bei der Sache, dann ist das okay – er muß sich nicht die ganze Zeit melden.“

Dieser Protokollauszug dokumentiert, dass Herrn Hofstätters grundsätzliche Erwartungen an das Verhalten seiner SchülerInnen, also sein Bild einer SchülerInnen-Identität wie diese seiner Meinung nach sein sollte, durchaus ausdifferenziert ist. Es existiert eine Palette von Verhaltens-Spielräumen, die er akzeptieren kann, aber es gibt auch Grenzen, die einzuhalten sind. Der Schüler bzw. die Schülerin muss sich nicht ständig am Unterricht aktiv beteiligen, aber er bzw. sie muss passiv dabei bleiben – was durchaus als Zugeständnis an die Persönlichkeit der SchülerInnen zu verstehen ist.

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