Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Macht (LehrerInnen): Boris und Herr Dr. Behringer
Herr Dr. Behringer, OStR, unterrichtete die Klasse 9b in zwei Fachgebieten: Chemie und Biologie. Wie er mir mitteilte, kannte er die meisten SchülerInnen bereits aus vorangegangenen Schuljahren. Die SchülerInnen nannten ihn „Herr Dr. G-Punkt“. Was Vivienne im Interview über Herrn Dr. Behringer sagte, entspricht m.E. der Grundhaltung der gesamten Klasse gegenüber Herrn Dr. Behringer: „Ja eigentlich find´ ich den ganz okay. Abber @(.)@ der macht immer so Witze, wo er persönlich voll witzig findet unn net merkt, daß ma ihn verarscht, wenn ma dann mitlacht.“(1) Dass die SchülerInnen ihn nicht allzu ernst nahmen, führte zu einem Aufmerksamkeitsdefizit, dem Herr Dr. Behringer vor allem durch Klassenbucheinträge, Auseinandersetzen von SchülerInnen und Strafarbeiten Einhalt zu bieten suchte. Boris war derjenige, der am häufigsten in den „Genuss“ dieser Sanktionen kam. Dementsprechend hoch war die Anzahl der Klassenbucheinträge, die Boris aufweisen konnte, was zu zahlreichen Gesprächen mit dem Klassenlehrer, Herrn Hofstätter, und dem Direktor, Herrn Fuchs, führte. Beinahe hätten die Einträge einen Schulverweis zur Folge gehabt. Es galt die Auflage: noch ein weiterer Klassenbucheintrag, dann Schulverweis. Die folgenden Feldnotizen dienen der exemplarischen Darstellung des konfliktträchtigen Verhältnisses zwischen Herrn Dr. Behringer und Boris:
18.11.02
In einer Chemiestunde bekam Boris von Herrn Dr. Behringer seinen Walkman abgenommen. Zwar hatten noch sechs weitere SchülerInnen die Kopfhörer ihrer Walkmans um den Hals hängen, aber nur Boris wurde verwarnt und bekam einen Eintrag ins Klassenbuch. Boris beschwerte sich bezüglich dieser, seiner Meinung nach, ungerechten Behandlung bei Herrn Dr. Behringer. Aber Herr Dr. Behringer fuhr ihm ins Wort: „Ich setz´ mich nicht mit Dir auseinander.“ „Das müssen sie aber wohl,“ antwortet Boris. Aber Herr Dr. Behringer war der Meinung, gar nichts zu müssen. Statt mit Boris zu reden, wurde er laut und aufgebracht, schrie und packte den Walkman von Boris weg. Boris war wütend, blieb aber still.
Sechs von sieben SchülerInnen, die die Kopfhörer ihrer Walkmen um den Hals hängen haben, bekommen keinen Klassenbucheintrag – Boris schon. Unabhängig von allen Beweggründen Herrn Dr. Behringers – die ich hier weder rekonstruieren noch nachvollziehen kann – ist die Tatsache seiner unterschiedlichen Handhabung von Kopfhörern und Walkmen ein deutliches Indiz seiner Macht. Es ist ihm möglich und erlaubt SchülerInnen ungleich zu behandeln. Gleiches Verhalten je nach SchülerIn unterschiedlich zu bewerten und gegebenenfalls entsprechend zu sanktionieren. Diesen Umstand verdeutlicht Herr Dr. Behringer dadurch, dass er Boris auf dessen Nachfrage bezüglich der ungleichen Behandlung eine Antwort mit dem Hinweis verwehrt: „Ich setz´ mich nicht mit Dir auseinander.“ Als Boris daraufhin die Macht von Herrn Dr. Behringer in Frage stellt, indem er ihm antwortet „Das müssen sie aber wohl“, folgt eine Demonstration der Reichweite seiner Macht, getragen von einem hohen Grad an Emotionalität: er schreit Boris wirre zusammenhangslose Sätze entgegen und nimmt ihm – sozusagen als Krönung der Machtpräsentation – seinen Walkman ab, um diesen auf unbestimmte Zeit zu verwahren. Dass Boris wiederum seine Emotionen jetzt nicht mehr zum Ausdruck bringt, sondern auf den wütenden Anfall Herrn Dr. Behringers mit Stillschweigen reagiert, obwohl er zuvor noch ebenso wütend auf eine Auseinandersetzung gedrängt hat, zeigt dass er das bestehende Machtgefüge akzeptiert. Während LehrerInnen ohne Konsequenzen ihre Emotionen zum Ausdruck bringen dürfen, ist dies für SchülerInnen in der Regel mit negativen Sanktionen verbunden.
18.10.02
In einer Biologiestunde erfuhr Boris ein weiteres Mal den Argwohn von Herrn Dr. Behringer. Die Klasse schaute einen Film über den Aufbau der Zellen. Herr Dr. Behringer unterbrach den Film plötzlich, weil er Papierschnipsel entdeckt hatte, die auf dem Boden lagen. Er bezichtigte Boris, der die Tat abstritt. Tatsächlich lagen die Schnipsel schon im Zimmer, als die Klasse den Raum betrat. Herr Dr. Behringer war sehr in Rage und sagte:
„Entweder ihr hebt sofort die Schnipsel auf, oder wir schauen den Film nicht und schreiben stattdessen sofort einen Test.“
Boris und zwei andere SchülerInnen leisteten der Anweisung Folge und hoben die Papierschnipsel auf. Es gab keine Chance, Herrn Dr. Behringer von ihrer Unschuld zu überzeugen.
Obwohl die gesamte Klasse – einschließlich mir – um die Unschuld von Boris und jeder anderen Person der 9b in Bezug auf die am Boden liegenden Papierschnipsel weiß, beharrt Herr Dr. Behringer auf seiner Meinung. Er gibt der Klasse keine Chance zur Verteidigung. Vergleicht man diesen Auszug aus meinen Feldnotizen mit einer Verhandlung bei Gericht, so ist der Lehrer Ankläger und Richter zugleich. Die Angeklagten hatten kein Recht auf Verteidigung – Urteil und Strafmaß obliegt einzig dem Lehrer bzw. der Lehrerin.
Das Besondere an dem Verhältnis zwischen Boris und Herrn Dr. Behringer lag m.E. darin, dass Aussagen in ihrer Gültigkeit bezweifelt werden, was Herr Dr. Behringer als persönlichen Angriff wertete. Dies mochte Boris instinktiv als Schwachstelle erkannt haben, auf die er sich dann konzentrierte, so dass Boris mehrfach die Lehrer-Rolle Herrn Dr. Behringers in Frage stellte. Aussagen in ihrer Gültigkeit zu bezweifeln, wertete Herr Dr. Behringer als persönlichen Angriff. Dies mochte Boris instinktiv als Schwachstelle erkannt haben, auf die er sich dann konzentrierte.
Fußnote:
1. Interview Vivienne: 23.09.02
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