Hinweis: Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Einleitende Bemerkungen

Es handelt sich hier um einen Ausschnitt aus einer Unterrichtsstunde im Fach Geschichte/Politik einer 8. Klasse Realschule (11 Schülerinnen und 20 Schüler), die am 27.02.1997 stattfindet. Der Lehrer ist ausgebildeter Fachlehrer für Geschichte und gleichzeitig Klassenlehrer. Die Unterrichtseinheit lautet: Das Ende der Revolution und der Aufstieg Napoleons – Ende der Napoleonischen Herrschaft (siehe Schulbuch).

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Lehrer:     wer möchte was ergänzen? Alisa
Alisa:        ja ??? Kleider
Lehrer:     ja
Alisa:        (eh die) Napoleons Frau hat ein weißes Kleid, Königsfarbe, und einen roten Schleier, Rot ist die Farbe der Stadt Paris, alle Leute im Saal tragen rot weiße Kleider, und geigen, dass sie (im) höheren Stand sind, der niedere Adel trägt Kniebundhosen, das zeigt, dass sie nicht soviel Geld haben, um sich neue teure Kleider zu kaufen

Der Lehrer fragt nun, wie zuvor in Aussicht gestellt: „wer möchte was ergänzen?“, also hinzufügen. Er jedenfalls kommentiert das von Clara vorgetragene Ergebnis nicht, und es soll offenbar auch nicht von den anderen Schülerinnen und Schülern kommentiert oder gar bewertet werden. Hält der Lehrer das vorgetragene Arbeitsergebnis für so gut, dass dem – unausgesprochen – nichts zu entgegnen ist, dass es bloß noch darum gehen kann, weitere Aspekte, Sichtweisen usf. hinzuzufügen? Möglich gewesen wäre, die anderen zu fragen, was sie von dem Arbeitsergebnis halten, und der Schülerin eine Rückmeldung zu geben.

Der Lehrer ruft Alisa auf. Alisa möchte offenbar noch etwas zu den Kleidern sagen. Sie scheint sich vorab vergewissern zu wollen, ob dies nun möglich und angebracht ist. Sie zeigt sich zurückhaltend und legt nicht einfach los. Der Lehrer befürwortet ihr Ansinnen. Dann erst trägt sie vor:

„Napoleons Frau hat ein weißes Kleid, Königsfarbe, und einen roten Schleier, Rot ist die Farbe der Stadt Paris“

Sie beschreibt das Kleid, das „Napoleons Frau“ anhat. Die weiße Farbe wird – im Sprachfluss eingeschoben – knapp als „Königsfarbe“ bezeichnet, als Farbe, die für eine hohe gesellschaftliche Stellung (Prestige) steht. Bei der roten Farbe des als „Schleier“ identifizierten Kleidungsstückes handelt es sich der Schülerin zufolge um „die Farbe der Stadt Paris“, also um eine Farbe, die regional bedeutungsvoll ist. Was das anbelangt, scheint Alisa bzw. ihre Arbeitsgruppe sicher. Den verschiedenen Farben – als signifikante Merkmale – werden besondere Signalwirkungen und symbolische Bedeutungen zugeschrieben, so als seien sie nicht zufällig auf der Abbildung zu sehen (Repräsentanonsfunktion). Weiter heißt es im Text:

„alle Leute im Saal tragen rot weiße Kleider, und geigen, dass sie (im) höheren Stand sind“

Nun verallgemeinert Alisa, dass „alle Leute im Saal“ – vermutlich ist der hintere Bereich in der Abbildung gemeint, denn auf dem Podest steht z. B. ein Geistlicher in grünem Gewand – in den Farben rot und weiß gekleidet sind und damit „zeigen“, dass sie dem „höheren Stand“ zugehören. Die Farben der Bekleidung werden nun als Erkennungszeichen von Angehörigen einer gesellschaftlichen Gruppe identifiziert (Vorkenntnisse). So als wollten diese damit ausdrücken, dass sie der künftigen Kaiserin kleidermäßig und standesmäßig verbunden sind.

Festgehalten werden kann, dass der Arbeitsgruppe die (prototypische) Farbgebung aufgefallen ist und dass sie die Möglichkeit ergreift, diese zu deuten im Einblick auf gesellschaftliche Positionen und Zugehörigkeiten. In den Augen Alisas und ihrer Arbeitsgruppe signalisiert die Farbe der Kleidung, wer wohin und zu wem gehört, insofern lässt sich hier von einer Typenbildung reden. Alisa fährt fort:

„der niedere Adel trägt Kniebundhosen, das zeigt, dass sie nicht soviel Geld haben, um sich neue teure Kleider zu kaufen“

Eine andere Beobachtung besteht darin, dass der „niedere Adel“ – nun werden innerhalb der bereits genannten Statusgruppe soziale Ränge unterschieden – „Kniebundhosen“ trägt, das zeige, „dass sie nicht soviel Geld haben“, also nicht genügend Geld, „um sich neue teure Kleider zu kaufen“. Damit wird gleichsam ein Zusammenhang begründet. Also offenbar hat die Arbeitsgruppe mit den „Kniebundhosen“ ein äußeres Merkmal gefunden, das auf eine niedrigere soziale Stufung schließen lässt im Vergleich bzw. im Unterschied zu den rot-weiß Gekleideten. Bei den so bezeichneten „Kniebundhosen“ handelt es sich um einen Hosenstil, bei dem der Bund über dem Knie endet. Alisa bzw. ihre Arbeitsgruppe unterscheiden Kleider und Kniebundhosen und deuten diese als Statusmerkmale (Prestigeobjekte), als äußere Merkmale und Zeichen für mehr oder weniger Reichtum.

Insgesamt:

Das Ergebnis dieser Arbeitsgruppe (vermutlich ein Teilabschnitt daraus) ist durchgehend im Präsens beschrieben und hangelt sich zum einen am optischen Bestand der Abbildung entlang, zum anderen gewinnt man den Eindruck, als urteile die Schülergruppe aus dem Blickwinkel der dokumentierten Akteure. Umständliche Vermutungen gibt es nicht, vielmehr – so scheint es – werden Versatzstücke (z. B. Fachausdrücke wie Königsfarbe, höherer Stand, niederer Adel) vermeintlich sicheren Wissens dargelegt. Neben der besonderen Symbolkraft der Farbgebung geht es Alisa und ihren Mitstreitern offenbar darum, eine relative soziale Ungleichheit festzuhalten.

Der zuvor in Claras Beitrag angesprochene Kontext Kleidung hat die Schülerin vermutlich dazu motiviert, mit dem eigenen Beitrag anzuknüpfen und zur weiteren Präzisierung/Differenzierung beizutragen. Ist der Anspruch der Schülerin, darauf aufmerksam zu machen, dass neben den prunkvoll ausgestatteten Hauptakteuren auch weniger Wohlhabende anwesend sind? Die so thematisierte gesellschaftliche Ungleichheit impliziert auch ein Bild, eine Vorstellung von Herrschaft, um die es ja gehen soll (Problembewusstsein). Hier allerdings werden Vorstellungen von gesellschaftlicher Ordnung weniger über räumliche Positionierungen als vielmehr über Farbgebung und Kleidungsstil (Prototypen, Typisierung) entwickelt, insofern liegen neue ergänzende Aspekte vor. Wie verhält es sich nun mit den vorhegenden Beiträgen im Vergleich zueinander? Hegen den Arbeitsergebnissen von Clara und Alisa unterschiedliche Wahrnehmungsmuster zugrunde?

Man kann sagen, dass in der Sichtweise, die Alisa vorträgt, der Versuch unternommen wird, sich mit der Situation derjenigen näher zu befassen, denen der Prunk Vorbehalten bleibt. Betrachtet wird die Abbildung durch die Brille von mehr und weniger „Normalsterblichen“. Handelt es sich dabei um eine Form der Projektion, der Anteilnahme, des Sich-Hineinversetzens? Lässt sich hier nicht von einer vonseiten der Schülerin selbst ergriffenen Möglichkeit des subjektiven Bedeutungsaufbaus (dem auch die kategoriale Vorgabe der Aufgabenstellung nichts anhaben kann) sprechen?

Diese Vorstellung, da gibt es welche, die nicht (genauso wie ich und meinesgleichen) zum Prunk gehören (also nicht diese aufwändigen Kleider tragen), dies kennzeichnet doch den Versuch, sich einen Zugang zum Verstehen zu dieser fremden Welt zu verschaffen, in dieser abgebildeten fremden Welt Eigenes zu suchen, zu entdecken, zu beurteilen (Fremdverstehen, Transformation).

Handelt es sich liier nicht auch um die Bearbeitung eines Bourdieu-Themas par excellence? Hier stehen die Sinnprovinzen, die Milieus auf dem Spiel und die Frage: Wer gehört wohin? Hier wird soziale, milieubedingte Ungleichheit anhand von äußeren habitualisierten Merkmalen (typisierend) festgeschrieben. Wie sonst kann man diese Fremden als seinesgleichen identifizieren, wenn es da nicht eine, wenn auch entfernte, „Wahlverwandtschaft“ (Bourdieu 1987, 374) gibt?

Das Spiel zwischen Identität/Identifikation und Differenz, ist es das, was sich hier allmählich abzeichnet und was die Schülerinnen – hier über ihre Beiträge – selbstinitiiert in Gang bringen? Also indem sie von sich aus überlegen: Was eint und was unterscheidet die Menschen, die auf der Abbildung zu sehen sind? Das Verstehensbedürfnis, das die Schülerinnen liier haben, lässt sich etwa so fassen:

Was haben die einen, was die anderen nicht haben? Inwiefern lässt sich dies mit dem Hintergrund, den ich habe, mit dem Repertoire an Zeichen, Symbolen usf., die ich kenne, deuten? Damit rücken gleichsam Aspekte und Facetten des eigenen Lebensstils, der eigenen Lebensführung in das Zentrum. Möglicherweise sind diese überhaupt die Anknüpfungspunkte für die Thematisierung von sozialen Positionen aus Schülersicht.

Man kann sagen, dass die Schülerinnen hier die/eine Ungleichheitsdebatte über Stil- und Ausdrucksformen führen und dabei Fragen von Verteilungsgerechtigkeit tangieren. Man kann auch sagen, dass die Abbildung selber Bourdieu-Themen par excellence (re)präsentiert: Klassengesellschaft, Wahlverwandtschaften, gesellschaftlicher Aufstieg.

Literaturangaben:

Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/Main 1987

Mit freundlicher Genehmigung des Klinkhardt Verlages.
http://www.klinkhardt.de/verlagsprogramm/1278.html

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