Hinweis: Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:
Einleitende Bemerkungen
Im Beitrag wird die Projektwoche „Schüler*innen machen Schule“, die den Anspruch verfolgt, Elemente aus demokratischer und inklusiver Bildung für den regulären Schulalltag zu adaptieren, näher betrachtet. Fünf Tage lang hatten die Schüler*innen einer privaten Sekundarschule die Möglichkeit, selbstständig organisierend eigenen Themen nachzugehen und schließlich der Schulöffentlichkeit die Ergebnisse ihrer Arbeit zu präsentieren.
Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
In der Entwicklung der Projektgruppe hatte sich dem Empfinden nach in den nächsten Tagen eine gewisse Routine eingestellt, in der jeder Schüler sich mehr oder weniger mit dem Inhalt des Projekts beschäftigte:
Es wird schon gearbeitet: teilweise an Robotern und deren Programmierung, teilweise an der Verbesserung der Fähigkeiten in bestimmten Computerspielen. Ein Schüler äußert sein Erstaunen darüber, dass auch ohne Erwachsenen im Raum gearbeitet wird. […] Ein Schüler scheint komplett vom Computerspielen oder der Recherche zu einem Spiel, das er sich zulegen möchte, usurpiert. Nach meinen Hinweisen und Vorschlägen schließt er sich letztlich aber der Arbeit einer Tischgruppe an.
Die Schüler ‚arbeiten’ einzeln oder kooperativ an der Konstruktion und Programmierung der Roboter weiter. Frappierend erscheint hier die Verwunderung eines Schülers, „dass auch ohne Erwachsenen im Raum gearbeitet wird.“ Denn, hieße das nicht im Umkehrschluss, dass ‚arbeiten’ sonst nur Anwesenheit eines Erwachsenen möglich sei? Impliziert seine Aussage dann nicht, dass Schüler*innen üblicherweise etwas anderes tun als ‚arbeiten’, wenn sie sich selbst überlassen sind?[1]
Was das Andere, das Gegenstück zu Arbeit sein könnte zeigt sich in den Situationen, in denen Schüler nicht ‚arbeiten’, jedenfalls nicht an Projektinhalten. Aktivitäten wie den Computerspielen in der oben geschilderten Szene kann hier bei Abwesenheit Erwachsener nachgegangen werden, obwohl solche Beschäftigungen ansonsten im Freizeitbereich angesiedelt sind und ohne ausdrückliche Erlaubnis ausgesprochen selten im schulischem Kontext stattfinden können. Dem Beobachter in seiner erweiterten Rolle als temporärer Projektbetreuer scheinen dies immerhin keine allzu legitimen Tätigkeiten zu sein. Sie werden als Ausdruck fehlender selbstständiger Aufgabenwahl gewertet, weshalb er mit dem Schüler nach einer ‚sinnvolleren’ Tätigkeit sucht. Er versucht Aufgaben durchzusetzen, die kein bloßes Beschäftigt-Sein darstellen, sondern solche, die sich inhaltlich innerhalb des durch das Projektthema gesetzten Rahmens bewegen.
In weiteren Beobachtungen zeigte sich immer wieder die enorme Strahlkraft des Computers:
In der Sitzecke sind einige wieder von den Laptops gebannt, als ich hinzutrete wird prompt ein Programm weggeklickt. Ich sage ihnen, dass sie vor mir nichts verstecken bräuchten. Folglich öffnen sie wieder das Spiel – es ist irgendein simples Browsergame – und bitten mich, sie nicht beim Mentor anzuschwärzen. Als der Mentor in den Raum zurückkehrt löst sich die Gruppe plötzlich wieder auf.
Die Teilnehmer dieses räumlichen Subzentrums vermuten hier selbst die Illegitimität ihrer momentanen Tätigkeit, welche in der Schule und von den dort anwesenden Erwachsenden normalerweise nicht toleriert wird. Nachdem die Verhältnisse aber geklärt sind, kann die Tätigkeit weiterverfolgt werden (jedenfalls solange bis der eigentliche Mentor zurückkehrt). Von ihm wird angenommen, dass er die Situation anders bewerten wird, daher rührt die abrupte Selbst-Auflösung der Gruppe bei seinem Hinzutreten.
Mit seiner Annahme, dass ohne Erwachsene im Raum ‚gearbeitet’ werde, deckt der Schüler folglich nicht alle Situationen in der Projektgruppe ab: Es wird zwar tatsächlich auch ‚gearbeitet’ i. S. als legitim erachteter Tätigkeiten. Dies trifft allerdings nicht unbedingt immer und für alle Schüler zu. Neugewonnene Freiheit, lockerere Atmosphäre und (temporäre) Abwesenheit von Erwachsenen bieten mehr Raum für ansonsten illegitime Tätigkeiten. Dass dies allerdings im lehrkraftzentrierten Unterricht auch der Fall ist, beweisen zahlreiche Forschungen zur Parallelität von Vorder- und Hinterbühne, dem „Unterleben“ verdeckter Schüler*innentätigkeiten und dessen Verschränkungen (vgl. u. a. Breidenstein 2006; Wagner-Willi 2005; Zinnecker 1978). In dem hier vorliegenden Setting erwiesen sich allerdings die Möglichkeiten ‚extra-curriculare’ Aktivitäten offensiver zu praktizieren als besser verfügbar, da die Kontrolle, die sich sonst allein in Form bloßer Anwesenheit Erwachsener im Raum darstellt, zeitweise ausgesetzt ist.
Hier sei noch darauf verwiesen, dass für die Programmierung der Roboter tatsächlich Laptops benötigt werden, weshalb sie auch zahlreich im Raum vorhanden waren. Computer haben aber neben ihrem Nutzen für diese Zwecke auch noch zahlreiche andere, derer sich die Schüler bedienen konnten – teilweise unter dem Deckmantel der Vortäuschung von Arbeit, indem z. B. zwischen verschiedenen Programmen hin- und hergewechselt wird oder eine bloße Mimesis legitimen Tuns vollzogen wird.
Am vorletzten und letzten Tag der Projektwoche weitete sich das Phänomen des Computerspielens, bei gleichzeitig nahendem Präsentationstermin, immer weiter aus:
Die Luft scheint mir um diese Zeit langsam raus zu sein, ich werde gefragt, ob wir heute früher (vor 15 Uhr) Schluss machen könnten. Dieser Eindruck bestätigt sich, denn es wird zwar teilweise noch ernsthaft an den Robotern gearbeitet, das Gros der Gruppe spielt jedoch am PC oder weiß offenbar nicht, was sie gerade machen könnten. Mein Vorschlag, die Präsentation weiter vorzubereiten und zu elaborieren, wird allerdings abgetan, da schon alles soweit fertig sei. […] Am nächsten Morgen ist die Situation ähnlich, es wird mehr an PCs gespielt, statt etwas für das Projekt und dessen Präsentation zu tun. Dies betrifft vor allem jüngere Schüler. Ich weise die Spielenden darauf hin, dass ich gewissermaßen etwas enttäuscht darüber bin, dass sie nur spielen, statt die Chance zu nutzen, sich mit einem spannenden, selbstgewählten Thema auseinanderzusetzen. Es kommt allerdings wieder die Antwort, dass bereits alles fertig wäre, was mich angesichts des wenig vorbereiteten Raumes doch irritiert.
Unter der Annahme der Schüler, „dass bereits alles fertig wäre“ nimmt das Computerspielen aus Sicht des Beobachters langsam Überhand. Der Beobachter schätzt das Stadium des Arbeitsprozesses jedoch anders ein (anderthalb Schultage fielen unwetterbedingt aus) und versucht die Gruppe zu einem Weiterarbeiten am Projekt zu motivieren. Dabei rekurriert er in dem Moment, in dem die erweiterten Freiheitsgrade durch die Schüler genutzt werden wieder auf eine disziplinierende Rolle und versucht die Ansprüche von Schule wieder geltend zu machen.
Unterschiedliche Perspektiven helfen beim Nachvollziehen der Situation: während die Schüler ihre ‚Arbeit’ als beendet einschätzen und sich deshalb andere Tätigkeiten suchen um die restliche Zeit ‚rumzukriegen’, sieht der Beobachter ein Stagnieren des für ihn noch nicht abgeschlossenen Projektverlaufs und vermutet, dass der Projektabschluss nur als Vorwand für die Legitimation des Spielens genutzt wird. Er ist offenbar über das Vermeiden der Projektarbeit verwundert, steht dies doch in krassem Widerspruch zu der interessengeleiteten Wahl des Themas. Sind die Grenzen pluralistischen Lernens erreicht und wird von den Schülern wieder auf die Annahmen und Logik herkömmlichen Unterrichts rekurriert, der sich (meist) als ‚Abarbeiten’ von Aufgaben versteht (z. B. durch das Interpretieren der Projektpräsentation als einer fremdbestimmten, aufgesetzten Aufgabe durch die Schüler)?
Fußnote:
[1] Irritierend ist, dass der Student in diesem Moment nicht als genuin erwachsene Person gilt. Wird seine Rolle anders als die der sonstigen Erwachsenen bewertet, hat er eines Art „Zwischenrolle“ inne?
Literaturangaben:
BREIDENSTEIN, Georg (2006): Teilnahme am Unterricht. Ethnographische Studien zum Schülerjob. VS: Wiesbaden.
WAGNER-WILLI, Monika (2005): Kinder-Rituale zwischen Vorder- und Hinterbühne. Der Übergang von der Pause zum Unterricht. VS: Wiesbaden.
ZINNECKER, Jürgen (1978): Die Schule als Hinterbühne oder Nachrichten aus dem Unterleben der Schüler. In: REINERT, Gerd-Bodo, ZINN- ECKER, Jürgen (Hrsg.): Schüler im Schulbetrieb. Rowohlt: Reinbek bei Hamburg.
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