Hinweis: Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:
Einleitende Bemerkungen
Im Beitrag wird die Projektwoche „Schüler*innen machen Schule“, die den Anspruch verfolgt, Elemente aus demokratischer und inklusiver Bildung für den regulären Schulalltag zu adaptieren, näher betrachtet. Fünf Tage lang hatten die Schüler*innen einer privaten Sekundarschule die Möglichkeit, selbstständig organisierend eigenen Themen nachzugehen und schließlich der Schulöffentlichkeit die Ergebnisse ihrer Arbeit zu präsentieren.
Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Der Zugang des Beobachters zu der Projektgruppe erschloss sich aus einem akut handlungspraktischen, vielleicht schultypischen Problem: Der im Vorfeld den Schüler*innen zugeordnete Mentor fiel krankheitsbedingt aus. Eine Vertretung konnte erst mit einiger Verzögerung eintreffen. Folglich wurden zwei Studierende prompt mit der Begleitung der Gruppe betraut. Zu Beginn stellte sich diesen Situation in der Projektgruppe noch recht unübersichtlich dar, rasch wurde jedoch zur ‚Arbeit’ übergegangen:
Im Raum sind bereits alle Schüler (ausschließlich Jungen) anwesend. Es scheint allerdings niemand so recht zu wissen, was nun passieren soll. Wir versuchen etwas Struktur reinzubringen und bitten die Schüler, sich in einem Stuhlkreis zu versammeln und gegenseitig vorzustellen, was weniger gut angenommen wird. Einige Schüler verhalten sich dabei besonders auffällig und wuseln die ganze Zeit im Raum umher. Auch haben vor allem die älteren Schüler noch Vorbehalte, mit den Jüngeren zusammenzuarbeiten. Trotzdem beginnen nach und nach alle zu arbeiten, auch wenn das Ganze noch recht unkoordiniert wirkt. Mir fällt auf, dass sich manche Schüler, besonders die Jüngeren, in der Sitzecke des Raumes um zwei Laptops zentriert, sammeln.
Anfangs scheint die neue Situation alle Teilnehmenden ein Stück weit zu überfordern, da unklar ist, was nun geschehen soll. Ein Kennenlernen wird von den Studierenden als erster Schritt initiiert, vermutlich einerseits aus der Annahme heraus, dass sich die Schüler untereinander z. T. noch nicht kennen (was aber essentiell für ein gelingendes Zusammenarbeiten sei) und andererseits der Annahme, dass eine Situation, in der Schüler*innen nicht selbstständig mit einem Lernprozess beginnen oder orientierungslos wirken, einen Impuls durch Erwachsene erfordere. Der Wunsch nach Klarheit und Orientierung, aber auch der Zugzwang, etwas zu ‚tun’, der möglicherweise aus der Verantwortung und dem (Selbst-)Verständnis der angehenden Pädagog*innen rührt, zeigt als sich als Spiegel von Ungewissheit auf mehreren Ebenen bereits im Auftakt der Projektgruppe – dass den Schülern der konkrete Ablauf noch ein Stück weit unklar sein dürfte, ist dabei ebenfalls kaum von der Hand zu weisen.
Doch der verhältnismäßig einfachen und schultypischen Aufgabe des Kennenlernens in einem Stuhlkreis (dessen Initiative zwar meist von Erwachsenen ausgeht) treten einige Schüler ablehnend gegenüber, zumindest wirkt es auf den Beobachter entsprechend. Insbesondere ältere Schüler sprechen sich explizit gegen eine Zusammenarbeit mit den Jüngeren aus. Erklärungen dafür wären in Schlussfolgerungen älterer Schüler aus dem Verhalten Jüngerer in dieser konkreten Situation zu finden („Einige Schüler [insb. Jüngere, Anm. d. Autoren] verhalten sich dabei besonders auffällig und wuseln die ganze Zeit im Raum umher.“). Gemeinsames Lernen mit ‚den Kleinen’ scheint momentan noch unvorstellbar. Eine andere Deutung wären generelle Vorbehalte gegenüber altersgemischtem Lernen, immerhin ist Unterricht an dieser Schule grundsätzlich in Jahrgangsklassen organisiert. Eine solche Reaktion scheint plausibel, stehen die Schüler doch einer für sie neuen, ungewohnten Situation im schulischen Kontext gegenüber, in der sich neue Verhaltens- und Handlungsmuster und Gruppen(arbeits)konstellation erst erschlossen werden müssten. Verstärkt erschwerend auswirken mag sich dabei zudem die Abwesenheit einer Lehrperson, die sonst üblicherweise ein hohes Maß an Orientierung und Strukturierung qua Aufgabenverteilung offeriert. Auf welche Art die Schüler diese Abwesenheit zu lösen wissen, wird später deutlich werden.
Wesentlich spannender ist der akut vollzogene Bruch, der die geäußerten Vorbehalte plötzlich einzureißen vermag: „Trotzdem beginnen nach und nach alle zu arbeiten […]“ – und zwar nach und nach auch jahrgangsgemischt! Den Bau von Lego-Robotern erschließen sich die Schüler dabei in unterschiedlichen Modi: Experten geben ihr Wissen an ‚Neulinge’ weiter, Schüler arbeiten einzeln und es bilden sich kleine ‚Subzentren’ im Raum (vor allem um die Laptops). Diese sozialen und räumlichen Konstellationen scheinen allerdings temporär und miteinander kombinierbar. Folgende Sequenz gibt einen Einblick in die erste Erarbeitungsphase:
Inzwischen werden schon erste Roboter gebaut bzw. programmiert. Dabei erklären „Experten“, also Schüler mit Vorwissen, den anderen die Technik. […] „Programmierung macht voll fun!“ höre ich einen der Jüngeren proklamieren, nachdem ihm das Programmieren mit der Mindstorm-Software gezeigt wurde. Er ist, wie auch weitere der jüngeren Schüler, von der Software fasziniert. An anderer Stelle im Raum wird eine Internetrecherche durchgeführt (jedenfalls, wenn ich in die Nähe des Laptops komme). Außerdem geht unter den Schülern eine mitgebrachte Star-Wars-Legokanone herum, auch ich werde einmal zum Ziel der Kanone auserkoren.
Es wird rasch dazu übergegangen, sich dem Gegenstand auf die Art und Weise zu nähern, die dem jeweiligen Schüler gerade am subjektiv sinnvollsten und verfügbarsten zu erweisen scheint. Kontrastiv gedacht bliebe ihnen wohl auch keine andere Option übrig, von einer kompletten ‚Arbeitsverweigerung‘ abgesehen. Das Geschehen hatte sich dabei i. d. S. verselbstständigt, als dass die Schüler ihre ‚Arbeit’ ohne Auftrag oder Weisung Erwachsener selbst in die Hand nehmen. Unterschiedliche Kenntnisstände über die Sache wirkten dabei als ein Motor des altersgemischten Lernens: Bei Fragen und Interesse (z. B. an der Programmierung) setzen sich die Schüler mit denjenigen in Verbindung, bei denen sie Kompetenzen vermuteten – indifferent gegenüber etwaigen Altersunterschieden.[1]
Als weiterer Erklärungsansatz für den Übergang zum beschriebenen modus operandi der Schüler sollte selbiger in Bezug gesetzt und unter dem Vorzeichen des selbstgewählten Lerngegenstands betrachtet werden. Tradierte schulische Strukturen können scheinbar umso schneller außer Acht gelassen werden, je interessanter und bedeutungsvoller der Inhalt per se bewertet wird, da dieser in seiner relativen Unabhängigkeit vom sonstigen Unterricht[2] prinzipiell auch unabhängig vom Alter oder der Jahrgangszugehörigkeit ist. Ein gemeinsames Interesse an der Sache kann unterstellt werden und wirkt an dieser Stelle als Konstitutivum der (Lern-)Gemeinschaft. Um einen ersten Kontakt bzw. Zugang zum Inhalt zu finden, verlangt es dabei pragmatischer Weise nach Interaktionen, jedenfalls sobald der Inhalt nicht durch Lehrpersonen angeboten wird und die Grenzen einer Autodidaxe ausgereizt scheinen. Neben den unterschiedlichen Kenntnisständen und dem gemeinsamen Interesse am selbstgewählten Inhalt, kann die Abwesenheit der Ressource Lehrkraft als drittes Motiv für die Hinwendung zum kooperativ-orientierten, altersgemischten Lernen hinzugezogen werden.
Doch die Abwesenheit der Lehrkraft hat darüber hinaus Auswirkungen auf die Interaktionen und Strukturierungen:
[…] Dann, pünktlich zur gewohnten Zeit, machen einige Schüler eine kurze Frühstückspause. Ein Schüler aus der 8. Klasse, der sehr überlegt und engagiert auf mich wirkt, hat scheinbar eine Art Leiterfunktion in der Gruppe übernommen. Er moderiert zum Teil, die Jüngeren wenden sich an ihn. […] Beim „Leiter“ werden mittlerweile Frühstücks- und Toilettenpausen beantragt (vermutlich ist der Mentor, der Schulbegleiter eines autistischen Jungen in der Gruppe ist, gerade nicht im Raum) und er hält auch die Korrespondenz mit den Erwachsenen aufrecht.
Einer der ältesten Schüler tritt während der Abwesenheit des Mentoren als Koordinator bzw. ‚Ersatzmentor’ auf. Diese Rolle hat er nicht ausschließlich selbst gewählt, sondern sie wurde von seinen (insb. jüngeren) Mitschülern ko-konstruiert und ihm zugeschrieben. Wollen die jüngeren Schüler ihm eine Erwachsenenrolle zugestehen, um die Abwesenheit ebenjener ein Stück weit zu kompensieren? Er verschafft seinen (jüngeren) Mitschülern immerhin Orientierung und kann Entscheidungen fällen, die sogar so weit reichen, dass er klassische Lehrer*innenkompetenzen wahrnimmt, die sonst keineswegs in Schülerhand liegen (wie bspw. die Festlegung von Pausenzeiten und Genehmigung von Gängen außerhalb des Klassenraums). Die Projektion der Lehrerrolle auf einen älteren Peer kann als Hinweis darauf gelten, dass vor allem jüngere Schüler in dieser Situation kaum von der Institutionslogik der Schule abstrahieren und mehr ein funktionales Äquivalent zur Lehrperson erschaffen, während der gewonnene Freiraum von den Älteren spürbar aktiv genutzt wird, um ihren Lernprozess selbst zu organisieren. Dass dies für sie eine willkommene Abwechslung darstellt, die Raum für diverse andere Aktivitäten bietet, liegt beinah auf der Hand. Sobald der Mentor oder eine ‚echte’ Lehrperson wieder verfügbar ist, verschiebt sich der Status des ‚Ersatzmentoren’ jedoch:
Der „Vertretungsmentor“ ist jetzt auch angekommen, er lässt sich vom „Leiter“ ein Update über die Situation geben und macht sich auch mit uns bekannt.
Der ‚Peerleiter’ gibt nun seine Leitungsfunktion wieder ab, die Informationen werden in diesem Übergang allerdings noch zwischen ihm und der erwachsenen Person ausgetauscht. Ähnlich einem temporär Beauftragten, der nach getaner Arbeit die an ihn delegierte Tätigkeit abbrechen kann, seiner übergeordneten Instanz vorher jedoch noch einen Rapport liefern muss, damit diese einen Überblick hat und handlungsfähig ist. Sein Status wird nach vollzogener Restitution des Mentors wieder (fast) auf den seiner Gleichen zurückgestuft.[3]
Die Lücke in der Organisation schulischen Lernens, also das Fehlen der Instanz einer erwachsenen (Lehr-)Person, kann also durch einen Schüler zwischenzeitig geschlossen und die Situation als funktionale Praxis damit wiederhergestellt werden. Doch warum wird gerade er als Verantwortlicher auserkoren? Das ‚Recht des Älteren’ bzw. des Alters scheint nicht zu greifen, jedenfalls nicht absolut, sondern nur relativ gemessen an der eigenen Gruppe, denn ansonsten hätten sich die Schüler an die anwesenden Student*innen wenden können. Diese sind jedoch der Gruppe nicht vertraut und ihre Aufgaben wenig klar, zudem sind sie aufgrund fehlender Kenntnisse der Materie ‚fachfremd’. Das Wissen um die Inhalte und um die Abläufe an der Schule machen den älteren Schüler zu einem Experten in mehrerer Hinsicht. Unter den anwesenden Schülern wird er deshalb vermutlich zügig als die Person ausgemacht, zu der eine Leitungsposition passförmig ist. Auch aufgrund seiner „überlegten“ und „engagierten“ Aura, die vom Beobachter hervorgehoben wird, mag er aus der Perspektive jüngerer Schüler wohl einer erwachsenen (Lehr-)Person am nächsten kommen.
Zu beachten wäre noch das Phänomen der (Selbst-)Potenzierung der Leiterrolle, denn: Je mehr Mitschüler diese als legitim empfinden, desto mehr wird das Prinzip zu einem Selbstläufer, da die Etablierung von immer mehr Schülern als geltende Quasi-Ordnung wahrgenommen wird.
Fußnoten:
[1] Mit der Einschränkung, dass der Erinnerung des Beobachters nach die älteren Schüler sich aufgrund ihres Vorwissens besser in der Materie auskannten und deshalb von den Jüngeren konsultiert wurden.
[2] Es gibt an der Schule eine Legoroboter-AG, die der Logik von Schülerarbeitsgemeinschaften nach auch jahrgangsgemischt sein müsste. Einige Schüler der Projektgruppe nehmen daran teil.
[3] „(fast) seiner Gleichen“ meint hier, dass er immer dann seine ‚Leiterposition’ zurückerlangen kann, sobald der Mentor abwesend ist.
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