Falldarstellung

[1] Achmed, ein fünfzehnjähriger türkischer Junge besucht die Vorbereitungsklasse in einer deutschen Schule seit zwei Jahren. Bisher war er überzeugt, in Deutschland bleiben zu können: er wollte die neunjährige Schulpflicht erfüllen, möglichst eine Lehre beginnen, Geld verdienen und ausgeben, auch einmal eine Familie gründen, kurz: er wollte in Deutschland leben. Diese Lebensperspektive gab ihm Sinn. Sie ließ ihm die vielen in der letzten Zeit zunehmenden Unannehmlichkeiten und Demütigungen ertragen.

[2] Im letzten Jahr verschlechterten sich jedoch die Aussichten, diese Lebensperspektive zu verwirklichen, wegen der anhaltenden wirtschaftlichen Rezession. Achmed hat jetzt Angst vor einer ungewissen Zukunft. (1) Er wirkt ernster und ruhiger als sonst, aber diese Ruhe ist gekennzeichnet von Passivität und Gleichgültigkeit gegenüber der Kritik des Lehrers. Wenn dieser sagt: „Das hast du nicht richtig ausgesprochen. Im Deutschen heißt das…“, so wiederholt Achmed den Satz widerwillig. Das kann der Lehrer aus seinem Gesichtsausdruck und aus dem tiefen Luftholen vor dem Lesen schließen. Er spricht nachlässig, aber der Lehrer kann nichts mehr dagegen einwenden. Achmed weiß die äußerste Grenze der Legalität auszuloten. Seine Stimme ist leiser, tonloser als bisher und sein Blick weicht dem des Lehrers aus. Er fixiert sehr lange bestimmte Punkte im Klassenzimmer. Der Lehrer glaubt Anzeichen dafür zu erkennen, dass sich Achmed in sich selbst zurückzieht. (2)

[3] Das offene, herzliche Lachen des Jungen ist seit kurzem dem aggressiven, hässlichen Auslachen gewichen. Achmed lacht jetzt über seine Mitschüler und nicht mehr mit ihnen. Er fehlt außerdem immer häufiger. (3) Hin und wieder gibt er „Kopfschmerzen“ als Entschuldigung für sein Fernbleiben von der Schule an.(4) Sein äußeres Erscheinungsbild ist leicht verwahrlost: die Kleider sind zerknittert, die Schuhe abgetreten und schmutzig, die Haare zersaust und das lose um den Hals geschlungene Seidentuch ist schmuddelig.

[4] Der Lehrer kann diese Situation nicht länger mit ansehen. Er fragt nach Achmeds Befinden. Dieser antwortet, er sei traurig (5), weil er nicht mehr länger in Deutschland bleiben könne und spielt auf die wirtschaftliche Situation an: „Wer nimmt mich in die Lehre, wenn nicht einmal alle Deutschen untergekommen sind?“ (6) Er möchte nicht arbeitslos werden wie viele andere. Arbeitslos zu sein, wäre für ihn schlimm. Daher überlegt er sich ständig, was er denn tun könne. Bis jetzt sei ihm aber noch nichts eingefallen. (7)

[5] Lehrer und Achmed suchen nun gemeinsam nach Auswegen. Nachdem der Lehrer die Familiensituation genau kennengelernt hat, schlägt er Achmed vor, in die Türkei zu seiner Mutter zurückzukehren. Dieser Vorschlag stößt jedoch bei Achmeds Vater auf Ablehnung, weil dieser von seiner Frau nichts mehr wissen will. Sie sei faul, schlampig und dumm; außerdem verderbe sie die Kinder. Daher soll Achmed in Deutschland bei ihm bleiben.

[6] Aber Achmed schätzt die familiären Probleme geringer ein als die existentiellen. In der Türkei bietet sich ihm eine sinnvollere Umwelt an als in dem doch fremd gebliebenen Deutschland. Er nimmt die Ungewissheit der Rückkehr zu seiner Mutter in Kauf und setzt auf die Hoffnung, die er damit verbindet. Nach langen Gesprächen mit Achmed und dem Lehrer willigt der Vater schließlich ein. Dadurch schöpft Achmed neue Hoffnung für sein Leben. Diese Perspektive erspart ihm den Weg in eine tiefe Depression, in die maßlose Traurigkeit. Er hat wieder eine sinnvolle Aufgabe vor sich: die Rückkehr in die Heimat vorzubereiten.

[7] Was bedeutet diese Wendung für Achmed? Sie gibt seinem Leben einen ganz konkreten Sinn. Er hat ein präzises Ziel vor Augen. Aber damit gerät er in Konflikt mit seinen Aufgaben in der Vorbereitungsklasse. Er möchte aber nicht mehr für seinen Aufenthalt in Deutschland vorbereitet werden und darf dennoch nicht der Schule fernbleiben, weil auch er dem Schulzwang unterliegt. (8)

[8] Der Lehrer würde Achmed Unrecht tun, wollte er von ihm in diesem Stadium noch gute Leistungen verlangen. Er weiß, dass er gegen die außerschulischen Bedingungen nichts ausrichten kann. Aber er kann ihm dazu verhelfen, die Situation auszuhalten, also seine Pflichten zu erfüllen und dadurch Sinn in seinem Leben zu finden. Er kann zeigen, wie er trotzdem Ja zu seinem Leben sagen kann.

Interpretation

[9] In dem Beispiel „Achmed“ sind die folgenden Auffälligkeiten enthalten. Sie sind durch die Zahlen in den Klammern angedeutet:
(1) Achmed hat Zukunftsangst;
(2) Sein Verhalten zeigt eindeutig eine Rückzugstendenz;
(3) Abwesenheit von der Schule;
(4) Verdacht auf psychosomatische Beschwerden oder auf Simulation muss geklärt werden;
(5) Traurigkeit;
(6) negative Erwartungshaltung drückt auf die Stimmung;
(7) Hilflosigkeit;
(8) Hier ist eine sinnlose, unvermeidbare Eingrenzung auszuhalten.
Die depressive Verstimmung, in die Achmed gerät, kann als Vorstufe einer echten, verstehbaren Depression angesehen werden. Die Gefahr des „Abrutschens“ in die Depression wäre durch eine zunehmende Eingrenzung, insbesondere in der geistigpersonalen Dimension gegeben. Dafür enthält das Beispiel einige Belege:

  • Zunächst treten äußere Eingrenzungen auf, etwa die pathogenen Tendenzen „Zeitumstände“, „wirtschaftliche Verhältnisse“ und „getrennte Familien“.
  • Dann reduziert sich das Vertrauen Achmeds zur Umwelt; die Distanzierungstendenz lautet: er lacht über andere statt mit anderen.
  • Als nächstes ist das Vertrauen zum Du, etwa zum Lehrer gefährdet.
  • Des Weiteren ist das Vertrauen Achmeds zu sich selbst erschüttert, „weil ich nichts recht machen kann“, weil keine Werte verwirklicht werden können. „Also bin ich ein Versager.“ Da Versager in unserer leistungsorientierten Zeit nicht gebraucht werden, sind sie ohne Wert. „Ich bin also wertlos. Was tut man mit mir? Was soll ich mit mir tun?“

[10] Die Menschen, die auf sich selbst zurückgezogen depressiv verstimmt sind, übersehen, dass die Person selbst eine Würde hat, die Wert an sich ist. Sie übersehen, dass im personalen Bereich jegliches Nutzwertdenken sinn-widrig ist. Es darf keine ursächliche Verbindung (Kausalnexus) zwischen äußerer Situation und eigenem Verhalten hergestellt werden. Die lebensgerechte Einstellung darf nicht heißen: „Weil ich keine Lehrstelle bekomme, deshalb bin ich wertlos“, sondern sie muss lauten: „Ich bekomme wahrscheinlich keine Lehrstelle. Trotzdem lasse ich mich nicht entwürdigen, sondern suche nach Alternativen. Sollte alles vergeblich sein, dann ertrage ich mein Schicksal. Es ist selbst in dieser Situation wertvoll, weil ich Einstellungswerte verwirklichen kann: Auch Verzicht zu leisten ist eine Leistung.“ Das ist leicht gesagt. Es macht aber auf die Verantwortung der Mitwelt aufmerksam.

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