Falldarstellung

Mittwoch. 4. Stunde in der Klasse 10c des Gymnasiums einer Kleinstadt. Der Geschichtslehrer betritt das Klassenzimmer. Die Stunde beginnt wie immer mit dem Abfragen der Schüler. Der Lehrer braucht mündliche Noten. Daran schließt sich die Erarbeitung des neuen Stoffes an. Das geschieht auf die folgende, stets gleichbleibende Weise: Der Lehrer steht am Pult, vor ihm das aufgeschlagene Schulbuch. Daraus liest er den Schülern bis zum Ende der Stunde vor, hin und wieder interpretiert er eine Textstelle. Während dieser Lehrervorlesung stellt kein einziger Schüler Fragen. Es findet kein Gespräch statt. Die Schüler hören lediglich zu oder tun so. Manche beschäftigen sich mit etwas anderem oder erledigen ihre Hausaufgaben für ein anderes Fach. Am Ende der Unterrichtsstunde sagt der Lehrer: „So. Das, was ich Euch vorgetragen habe, lernt ihr bis zum nächsten Mal. Ihr findet das im Buch auf den Seiten 36 bis 40. Wiedersehen!“ – „Das glaubt der doch selbst nicht! Diesen Blödsinn lerne ich nicht!“ – Arno drückt damit die Einstellung der Mehrzahl seiner Mitschüler aus.

Interpretation

(…)
Die Analyse des Beispiels unter der Schlüsselfrage „Wo sind Eingrenzungen, die als ‚sinnlos’ und/oder ‚vermeidbar’ eingestuft werden können!“ ergibt Folgendes:

  • Der Geschichtslehrer ist kein Vorbild für die Schüler, weil er den Unterrichtsstoff aus dem Buch abliest. Das muss bei den Schülern den Eindruck erwecken, dass er selbst die Fakten nicht beherrscht. Warum dürfen sie den Stoff nicht ablesen, wenn sie etwas vortragen sollen? Dies kann ausgelegt werden als ein Verstoß gegen die Forderung nach Reversibilität, die besagt, dass der Lehrer im Unterricht nur das fordern darf, was er selbst einhält.
  • Während der Lehrervorlesung haben die Schüler keine legitime Möglichkeit, sich aktiv am Unterrichtsgeschehen zu beteiligen. Die Monotonie verstößt gegen das Prinzip der Abwechslung im Unterricht.
  • Die Schüler haben weiterhin keine Möglichkeit, sich mit dem Unterrichtsstoff zu identifizieren. Das Identifikationsdefizit der Schüler macht auf die fehlende Motiva­tion aufmerksam.
  • Die Hausaufgabenerteilung erscheint den Schülern als sinnlos, weil sie etwas lernen sollen, wozu sie keine Beziehung entwickeln konnten. Wird dieses Lehrerverhalten länger durchgeführt, dann herrscht in monotoner Weise die Lernzielstufe der Repro­duktion vor, wodurch Schüler der zehnten Jahrgangsstufe geistig unterfordert werden. Ferner können wir einen rigiden Lernzwang feststellen.
  • Die mündliche Note als Druckmittel wirkt nur für diejenigen, die noch nicht mündlich geprüft worden sind und selbst hier nur extrinsisch. Wurde die vorgesehene Anzahl von Schulaufgaben, Extemporalien oder Tests geschrieben, dann können die Schüler die Aufforderung des Lehrers, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen, überhören.
  • Diese Art der Stoffvermittlung kann den Schülern den Sinn des Geschichtsunter­richts nicht vermitteln, so dass eindeutig ein Sinndefizit festgestellt werden kann. Wir erkennen: Es staut sich eine Vielzahl negativer, unverständlicher Eingrenzungen auf. Die Lernverweigerung liegt nahe.

 

Nutzungsbedingungen:
Das vorliegende Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, bzw. nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt – es darf nicht für öffentliche und/oder kommerzielle Zwecke außerhalb der Lehre vervielfältigt, bzw. vertrieben oder aufgeführt werden. Kopien dieses Dokuments müssen immer mit allen Urheberrechtshinweisen und Quellenangaben versehen bleiben. Mit der Nutzung des Dokuments werden keine Eigentumsrechte übertragen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an.