Falldarstellung
Ein Beispiel (…) verdeutlicht, wie eine Argumentation erst durch non-verbale Handlungen explizit und damit rekonstruierbar bzw. nachvollziehbar wird. Benno hat seinen Aufgabenbearbeitungsprozess einmal präsentiert und dabei ein Tafelbild entwickelt:
5 cm + 6 cm = 11cm
8 mm + 4 mm = 12mm
11 cm + 12 mm = 12 cm 2 mm
Zur Illustration wird hier zunächst eine verkürzte Darstellung, welche die non-verbalen Verweise vernachlässigt, angeboten.
Transkript 1: „Die hab isch hier raus“, <413-446>, Vernachlässigung non-verbaler Komponenten
Fokussiert seien insbesondere die Zeilen 429-438. Ohne einen Anhaltspunkt, von welchen Zahlen bzw. Ziffern Benno hier spricht, bliebe das Spektrum möglicher Lesarten so groß, dass eine Rekonstruktion seiner Argumentation sehr schwierig würde. Erst die non-verbalen Verweise auf bestimmte Stellen, Ziffern und Maßzahlen an der Tafel lässt Bennos Erklärung zu einer für Rezipienten nachvollziehbaren und überzeugenden Argumentation werden.
Ein Rückgriff auf obiges Beispiel „Isch hatt auch so“ illustriert zusätzlich zwei weitere Varianten, wie die Explizität der Argumentation durch die grafischen Elemente ‚Schülerwerke‘ und ‚Tafel‘ verbessert werden kann.
Transkript 2: „Isch hatt auch so“
Interpretation
Zum einen bietet die Tafel die Möglichkeit, einzelne Elemente der Argumentation zu veröffentlichen. Im gegebenen Beispiel (Transkript 2) fordert die Lehrerin Sonja auf, ihre Längenangaben „oben hinzuschreiben“. Dadurch werden diese Angaben zunächst der Diskussion zugänglich. Jeder hat die Möglichkeit Einwände vorzubringen. Sobald Einigung im Klassenplenum erzielt ist, sind die 5 cm 7 mm als Datum zu verstehen, welches ‘schwarz auf weiß‘ zu lesen ist. Das Gegebene ist explizit gemacht worden. Darauf lässt sich Bezug nehmen, es kann einen ‘weiteren Verlauf‘ des Argumentationsprozesses geben.
Zum anderen zeigt dieses Beispiel die Möglichkeit auf, dass einzelne Kinder jederzeit während der Veröffentlichungsphase zwischen ihrem eigenen Werk und dem Tafelanschrieb vergleichen können. Dabei können sie entweder Konsistenzen identifizieren, oder aber Unstimmigkeiten feststellen (Fetzer 2006a; b). In Transkript 2 wird die Identifikation der Übereinstimmung des Datums 5 cm 7 mm für Yagmur zum Auslöser, sich aktiv in das Interaktionsgeschehen einzubringen. Die Möglichkeit, beide grafischen Elemente zu vergleichen, gibt insbesondere dann die nötige Sicherheit sich zu Wort zu melden, wenn Inkonsistenzen bestehen. Wenn den Grundschülerinnen und Grundschülern die Unstimmigkeiten gleichsam ‘ins Auge springen‘, nehmen sie sich leichter ein Herz und bringen dies zur Sprache. Denn „Hä? … Ja aber . . . Verstehe ich nicht“ sind für Schülerinnen und Schüler grundsätzlich ‘risikoreichere‘ Beiträge im Mathematikunterricht der Grundschule als Äußerungen der Form „Ja, habe ich auch so.“ Auf der Basis des Vergleichs zwischen eigenem Werk und Tafelanschrieb greifen Schülerinnen und Schüler jedoch vermehrt und gezielt in den Argumentationsprozess ein (vgl. Fetzer 2006a; b; 2005). Dabei beziehen sich die Beiträge zum Argumentationsprozess durchaus nicht ausschließlich auf das Datum. Auch Nachfragen nach dem Garanten oder Bezugnahmen auf die Konklusion sind immer wieder zu beobachten.
Wie begründen und erklären Grundschüler und Grundschülerinnen? Im Mathematikunterricht der Grundschule wird von den Kindern vor allem substanziell argumentiert. Dabei ist es insbesondere die Unsicherheit auf argumentationstheoretischer Ebene des substanziellen Schlusses, die den nötigen Raum für eine Fortführung des Argumentationsprozesses bietet. Die Vagheit fordert zu weiteren Argumenten heraus. Um jedoch an bereits Gesagtes anknüpfen zu können, ist ein Mindestmaß an Explizität der Argumentationen erforderlich. Der Einsatz der Arbeit mit Schreibanlässen kann die Explizität erhöhen, wenn man die Kinder anregt, ihre Ideen und Ansätze an der Tafel zu veröffentlichen und sie auf der Grundlage ihrer eigenen schriftlich fixierten Werke diskutieren lässt. Eine „lively discussion“ (Bruner 1996, S. 23), eine lebhafte Diskussion über mathematische Inhalte entsteht.
Literatur:
Bruner, Jerome (1996): The culture of education. Harvard University Press, Cambridge, MA.
Fetzer, Marei (2006a): Veröffentlichen im Mathematikunterricht-ein Beitrag zu einer Interaktionstheorie graphisch basierten Lernens. In: Jungwirth, H. & Krummheuer, G. (Hrsg.): Der Blick nach innen: Aspekte der alltäglichen Lebenswelt Mathematikunterricht. Münster, S. 53-84.
Fetzer, Marei (2006b): Empirische Studie zur Entwicklung von Elementen einer Interaktionstheorie grafisch basierten Lernens- Schreibanlässe im Mathematikunterricht der Grundschule. Dissertation.
Fetzer, Marei (2005): Wie beeinflussen schriftlich fixierte Schülerwerke den Interakrionsprozess? – Ein Analyseproblem. In: Beiträge zum Mathematikunterricht. Hildesheim.
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